Am Grab
von Tristan von der Bey
Ich hatte sie schon immer geliebt. Spätestens seit der 8. Klasse, als sie in einer Theateraufführung die Emilia spielte und ich sie, meiner Rolle gemäß, mit dem Dolch durchstieß und deswegen abends in meinem Bett heiße Tränen in mein Kopfkissen weinte. Zwei Jahre später begann ich dann Songs auf meiner Gitarre für sie zu schreiben, versehen mit Texten, die mit Anspielungen so überladen waren, dass ich beim Vorspielen stets einen hochroten Kopf bekam und meist nach der Hälfte des Lieds abbrach. In jener Zeit, von der ich berichten möchte, waren wir in der Oberstufe, ich glaubte, sie noch immer zu lieben, und das Abitur lag nur noch ein Jahr vor uns, was, es mag im Nachhinein verwunderlich klingen, uns doch ein mulmiges Gefühl bereitete.
Ihr Name war Maximiliane, doch wurde sie von uns ausschließlich Mimi genannt, denn sie hasste die volle Länge ihres Namens. Sie war keine ausgesprochene Schönheit, wie ich im Nachhinein eingestehen muss, was ich zu jener Zeit aber niemals zugegeben hätte, strahlte jedoch auf mich eine eigentümliche Anziehungskraft aus, der ich mich ungehemmt und gänzlich überließ. In ihren Augen vom lichten Grün zerstobener Hoffnung lagen stets milchige Schleier, und oft blickte sie aus diesen in einer Gelassenheit im Klassenraum umher, als tangiere sie gar nicht, was dort geschah, als sei jene banale Gelehrtheit einer schulpädagogischen Weltlichkeit nicht der Zweck ihres Daseins; was meiner schon von Kindeskindheit an übereifrigen Fantasie Anlass zu ausschweifenden Schwärmereien gab. Heute glaube ich, Maximiliane, oder eben Mimi, wie wir alle sagten, auch ich, obwohl ich Maximiliane viel passender, viel mystischer fand; heute glaube ich, sie war einfach in mir diametral entgegengesetzter Art und Weise prosaisch. Ich habe inzwischen gehört, sie sei verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite in der Dresdner Bank Filiale in Heddernheim, nicht fern von ihrem Elternhaus und auch dem meinen; beziehungsweise dem ehemaligen meinigen, denn man hat es vor fünf Jahren niedergerissen und an seine Stelle eine moderne Altenpflegeeinrichtung gebaut. Einmal bin ich bei Maximilane Zuhause gewesen, brachte der Mutter gar Blumen mit; eine wie ich heute sagen muss hochnäsige Französin, die im Parterre des Hauses eine Luxusboutique unter dem Namen Le Moulin Rouge führte, was ich damals nicht nur tres chique fand, sondern gar als avantgardistisch bezeichnete; heute jedoch nur noch als unverständlich: wie sollte man erwarten, dass in einer kleinen Großstadtvorstadt die Leute 280.- DM für Designerjeans ausgeben würden. Inzwischen weiß ich allerdings auch, dass Michelle Dugarry-Durst nicht grundlos die Tür der Boutique geschlossen hielt, wenn gewisse Kunden zur Anprobe kamen. Valentin Dugarry-Durst war Rechtsanwalt, hatte seine Kanzlei über der Boutique, in der Michelle betuchte Herren bediente, und war ein Mann von jener väterlichen Strenge, vor der man sich als grünschnäbliger Schüler, der in seine Tochter verliebt war, wahrlich fürchtete: Er besaß einen eisig-prüfenden Blick, der einen zu durchleuchten schien, dem nichts verborgen blieb. Ich war bei ihm dann auch rasch als nutzloser Kerl durchgefallen; dieses Urteil hing wortlos ausgesprochen während des gesamten Abendessens über dem Tisch, da ich nicht innerhalb der mir gewährten zwanzig Sekundenfrist eine eindeutige, klipp und klare Antwort auf die Frage, was ich denn mal werden wolle, geben konnte. Damals erbleichte ich, sah meine Felle davon schwimmen; heute weiß ich schlicht und einfach, dass ich nie etwas hatte werden wollen, sondern dass ich es einfach geworden bin, dieses etwas. Doch dies gehört nicht hierher. Damals aß ich still die Zwiebelsuppe, die ich nach dem ersten heißen Löffel viel zu überstürzt gelobt hatte, und hörte eingeschüchtert der um mich herum gehaltenen französischen Konversation zu. Als ich dann, nachdem das Referat durchgesprochen war, ging, fragte Valentin Dugarry-Durst seine Tochter, die abwesend in einer Zeitschrift blätterte, was willst du denn mit dem? Maximilane zuckte mit den schlanken Schultern, rümpfte das spitze Näschen, sodass sich rund um die Wurzel Fältchen bildeten, beugte den Kopf in den Nacken, eine Geste, die sie sich von ihrer Mutter abgeschaut hatte, und ging in den Garten hinaus, der im Werte eines Kleinwagens japanisch aufbereitet worden war; ein schnippisches Gehabe Mimis, das ich wohl überaus eigenhaft gefunden haben würde, wenn ich es denn mitbekommen hätte, das aber wohl rein eigenlos war, denn beide waren wir ihr wohl gleichgültig, ihr Vater und ich.
An diesem Morgen nun, den ich wieder zu erinnern versuche, war ich also noch stets in Maximiliane verliebt, glaubte dies zumindest noch immer, während ich mit ihr vor dem Grab stand. Ich hatte gewusst, dass wir an diesem Tag alleine sein würden, was mir, noch bevor ich den ersten Kaffee getrunken hatte, eine leichte Aufregung bescherte. Es war November, und als ich in die U-Bahn stieg, um zum Friedhof zu fahren, hingen noch milchige Nebelschwaden in den Strassen, die mich unweigerlich, als ob ich nicht ohnehin schon an sie dachte, an Maximilane erinnerten; an das schleierhafte ihres Wesens, die Mystik ihres Seins, die ich die gesamte Zeit über gänzlich falsch interpretiert hatte und die, wenn man es genau betrachtet, nicht mehr als eine Übereifrigkeit meiner Imagination gewesen war. – Ich war eine halbe Stunde zu früh dran, wir hatten uns um acht Uhr verabredet, und so stieg ich bei der Miquel-Adickes-Allee aus, lief am Gebäude des Hessischen Rundfunks, in dem ich sechs Wochen als Praktikant verbracht hatte, vorbei, bis zur Nationalbibliothek, wo ich mich auf die Stufen setzte, meinen Notizblock hervorholte und zum Zeitvertreib ein wenig darin blätterte. Der Anlass, aus dem wir uns überhaupt nur trafen, war rein schulischer Natur, wir hatten im Ethikunterricht das gleiche Thema für den alljährlichen Tag der offenen Tür unseres Gymnasiums vorzubereiten: einen kurzen Abriss der Mitleidsethik. Um es den wirklichen Gegebenheiten gemäß darzustellen, war es so gewesen, dass sich Maximilane meinem Thema angeschlossen hatte, und zwar nicht aus einem Grund heraus, der mit den tief gesunkenen Schleiern in ihren heugrünen Augen zu tun hatte, sondern weil ich als philosophisch interessiert galt und sie aus früheren Erfahrungen wusste, dass ich den Großteil der Arbeit erledigen würde, wenn sie mich nur zu sich einlud und ich sie, während ich die Bücher wälzte, dabei beobachten konnte, wie sie sich auf dem Bett räkelte und mit der Hauskatze spielte. Ich blätterte weiter in meinem Notizbüchlein, in dem neben wertlosen Zeilen von mir doch auch einiges Gehaltvolles stand; manches gar, was mit unserem Thema zu tun hatte. Halblaut las ich: die Regel verstehen ist das erste, sie ausüben lernen ist das zweite. Der dunkelblaue 5er BMW, den ich jeden Morgen bei meinem Weg zur Schule in der Einfahrt vor dem Moulin Rouge stehen sah, fuhr vor und hielt kurz an. Maximilane verabschiedete sich rasch von ihrem Vater, der grußlos zu mir herausblickte, was mich dazu veranlasste, so schnell wie möglich aufzustehen; dann schwang sie sich gemächlich aus den beigen Ledersitzen und stieg aus.
Sie trug das bunte chilenische Hemd, das wir eines Tages zusammen auf dem Flohmarkt am Mainufer gekauft hatten und das ich stets für einen Ausdruck ihrer Individualität gehalten hatte, das sie aber wohl nur aus Gleichgültigkeit oder Trotz ihrer Mutter gegenüber trug, deren Eigenheiten sie bereits seit langem übernommen hatte. Sie war ein ausgesprochener Morgenmuffel und tat sich nicht den geringsten Zwang an, dies mir gegenüber zu verbergen, was ich wiederum als Zeichen ihrer Natürlichkeit auffasste; aber wie hätte ich auch anders gekonnt, schließlich war ich in Maximiliane, oder Mimi, wie ich sie nun bei der Begrüßung nannte, verliebt, und dies schon seit Jahren. Ich lieh ihr meine Handschuhe, sie hatte die ihrigen vergessen. Sie hatte auch ansonsten nichts bei sich, keinen Rucksack, keinen Stift, kein Papier; sie wusste, dass ich an dies alles gedacht, dass ich mich wohl auf den heutigen Tag vorbereitet haben würde, und das nicht nur wegen ihr, sondern weil mir wirklich etwas an der Sache lag. Dennoch stand die Sache für mich in dem Moment, als sie aus dem Auto stieg und mich begrüßte, wobei wir uns, wie es generell in unserem Freundeskreis üblich war, umarmten, deutlich im Hintergrund. Ich glaube, sie hatte bemerkt, wie ich bei der Umarmung an ihrem Haar roch, und sie wusste mit Sicherheit auch, was dies bedeutete, zumindest würde es das erklären, was sich später ereignen sollte. Es war ein Duft von Aloe Vera und Apfel, der in ihrem langen schwarzen Haar lag, nicht anders als die lebendigen Augen von Wildkatzen, die nachts aus der finsterschwarzen Tiefe des Urwaldes herausleuchten; ihre Wangen hingegen waren leicht eingefallen wie die Flanken eines abgemagerten Rennpferdes. Sie zog den Reißverschluss ihres grünen Militärparkers hoch, den sie wenige Jahre später, ungefähr zu der Zeit, in der sich unser Kontakt auf immer zu verlieren begann, von der ab wir einander nur noch bekannte Gesichter auf der Straße waren, gegen gefütterte Pelzjäckchen aus der Boutique ihrer Mutter eintauschte, in welcher sie nach ihrem Abitur für einige Monate arbeitete, bis ihre Ausbildung begann; – während mir immer noch nicht klar war, was aus mir eigentlich einmal werden sollte. Ich habe diesen Tausch immer als eine Art Verrat angesehen. Ein Verrat an mir? Ich kann es nicht sagen. Und wer war schon ich, was waren wir uns schon je gewesen, dass ich ein solches Wort überhaupt nur verwenden, dass ich überhaupt so etwas nur empfinden konnte; hatte ich mich nicht vielmehr selbst verraten und zwar nicht später, sondern früher, damals nämlich, all die Jahre, als ich in Maximiliane verliebt gewesen war?
Dass ich sie liebte, glaubte ich noch immer, als wir uns auf den Weg zum Friedhof machten, an der langen Mauer entlangliefen, an der verfallend der Putz hinabbröckelte. Hatten wir auf dem Weg schon nicht viel miteinander geredet, so erschien es uns eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass wir es auch auf dem Friedhof nicht taten. Der letzte späte Nebel stand noch immer zwischen den knorpeligen Stämmen der Pappeln und dem gesunkenen Geäst der Trauerweiden. Lange liefen wir ziellos umher, nur das Geräusch der Kiesel, die unter unseren Schuhen knirschten, begleitete uns, suchten unter den Gräbern das unsrige; wobei ich unweigerlich die melancholische Romantik des Biermann´schen Hugenottenfriedhofs im Ohr hatte. Ihr wurde das ziellose Umhergehen müßig; mir nicht, ich wusste, warum ich ging; dennoch fragte ich einen der Angestellten, die die letzten Herbstblätter vom Weg kehrten, ob er uns weiter helfen könnte. Als ich Maximilane sagte, dass es nicht mehr weit sei, lächelte sie mit ihren schmalen, ungeschminkten Lippen, wobei sich ihre Augen aufklärten und sie legte mir gar ein Stück des Wegs den Arm um die Schulter. Ich war glücklich.
Als ich dann vor dem Grab stand, ergriff es mich mehr, als ich zunächst gedacht hatte. Wie konnte man sich auch eine solche Ergriffenheit gegenüber einem Menschen rational erklären, mit dem man sich zwar viel beschäftigt, mit dem man aber niemals Zeit verbracht hatte? Ich dachte an die langen Nachtstunden des vergangenen Winters, in denen ich mich ganz in meine Dachbodenwohnung zurückgezogen und Stunden über der Welt als Wille und Vorstellung gesessen hatte, zwei breite venezianische Kerzen neben mir; an die Gespräche mit meinem Vater, wenn wir an den bereits verdunkelten Dezembernachmittagen an der Nidda spazieren gingen, der mir ein wenig über jenen Begrabenen berichten konnte. Herr Döring, unser Ethiklehrer, hatte uns vorgeschlagen, da die empathische Bejahung fremden Willens wesentlich zu unserem Thema gehörte, das in Frankfurt gelegene Grab aufzusuchen. – Wie es soweit kam, kann ich im Nachhinein nicht mehr genau herleiten, es wird aber wahrscheinlich an meinem leicht zu bewegenden Gemüt gelegen haben, dass ich auf einmal anfing zu sprechen; dass ich die Ehrfurcht artikulierte, die ich damals verspürte, als ich Nacht auf Nacht in dem Band gelesen hatte, nicht alles wohl verstand, aber vieles doch empfand; und so begann ich zu reden, berichtete, was ich wusste und was ich fühlte und wandte mich dabei halb an das Grab, halb an Mimi – und schließlich ganz an Maximiliane. Ich sprach von meiner Bewunderung, sein Leben ganz dem Denken zu widmen. Lange war es nicht, was ich sagte, denn ich bin nie ein Freund großer Worte gewesen; überhaupt redete ich nie wirklich gerne und viel, – aber als ich verstummte, nur noch der beschlagene Atem zwischen meinen Lippen hervordrang, da geschah es: da zog Maximiliane meine Handschuhe aus und nahm meine Hand in die ihre; still, wortlos, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Doch ich war mit meinen Gedanken wo ganz anders, war mit meinen Gedanken bei meinen Gedanken, die ich mir im letzten Winter gemacht hatte und die um die Frage kreisten, wie man eigentlich leben sollte. Und ganz weit weg war ich von Heddernheim, dem Moulin Rouge, der Rechtsanwaltskanzlei und auch von Maximiliane. Dann murmelte ich, selbst so gedankenverloren, wie ich es immer von Mimi geglaubt hatte: alles, alles kann einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Und da bemerkte ich, dass ich sie nicht liebte, wahrscheinlich nie geliebt hatte; dass ich all jenes gar nicht wollte: das villengleiche Haus in Heddernheim mit der exquisiten Luxusboutique meiner Frau, die das Näschen rümpfte und gleichgültig den Kopf in den Nacken bog, wenn ich den Raum betrat; nicht die Kanzlei im Obergeschoss, in der ich mit Geschäftspartnern Sushi aß, während meine Frau in der Boutique die Kundschaft bediente, und dass ich eben nicht wusste, was ich werden wollte, sondern einfach das wurde, was ich immer schon gewesen bin, – so erkannte ich am Grabesrand, dass ich die Ungewissheit, die keine Antworten kannte, nun einmal der Gewissheit vorzog, die keine Fragen stellte.
Langsam löste ich meine Finger aus den ihren, drehte mich um und ging davon.
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