Der alte Adler von Thomas Frecot Ich schätze es nicht, mich mit alten Männern zu unterhalten, er aber, der aussah wie ein grauer, zerzauster Adler, amüsierte mich sehr. Vollbepackt mit Plastiktüten, aus denen allerlei Weinflaschenhälse ragten, war er mir vor dem Opernplatz in die Arme getaumelt. Er nuschelte etwas von fliegenden Feuerzeugen, und dass niemand ihm zuhören wolle, obwohl er doch die Lösung für alle Probleme gefunden hätte. Schließlich sei er Urologe gewesen und kenne sich aus. Er lud mich zu sich nach Hause ein, dort wollte er mir gerne alles ausführlich erklären. Wie immer hatte ich nichts wichtiges zu tun, also ging ich mit ihm. In seiner Wohnung, im vierten Stock eines jener alten Mietshäuser, die man vergessen hatte zu bombardieren, stank es nach faulem Holz und einem toten Spatzen, der, wer weiß warum, auf den Rippen der Heizung lag und vor sich hin moderte. Im Bücherregal saß ein Klumpen Butter vor der Enzyklopädie Technischer Wunderwerke, eine fettige Bratpfanne, in der ein Filzpantoffel schwamm, stand unter einem Marmortisch, und der Sessel, den er mir anwies, hatte außer einem Muster aus ineinander verschlungenen gelben und roten Rosen, auch einen weißpelzigen Überzug: Schimmel. Auf der linken Armlehne konnte ich noch die frische Leiche eines Stücks Käse erkennen. Dennoch fand ich sein Zimmer bezaubernd, so eingehüllt in Staub und Dreck. Als ich ihn nach Weingläsern fragte, machte er eine wischende Geste mit der Hand und ließ mich gleich zwei Flaschen öffnen, um uns so richtig aufzutanken, was nach seinen Gebärden wohl sehr wichtig war. Zweifellos wollte er mir etwas erzählen, doch er war zu aufgeregt. Nervös zog er an seinem Hemdkragen, kaute auf seinen Lippen, murmelte, dass es zu warm wäre und knöpfte sein Hemd auf - zwei schlappe Zitzen blickten traurig auf einen schrundigen, fleckigen Bauch. Dann stand er auf, setzte sich wieder, trank aus der Flasche, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ich dachte, der Alte würde nun einschlafen, doch er sprang erneut auf, lief nachdenklich hin und her, bis er schließlich einen Stapel Zeitungen packte und damit ins Badezimmer wackelte. Als er zurückkam, trug er eine Art Helm aus nassem Zeitungspapier auf dem Kopf. Das Hemd hatte er jetzt ganz ausgezogen; wie ein vergessener Krieger aus einer unbekannten Epoche stand er mir neben mir. »Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen etwas sehr wichtiges mitteile«, sprach er endlich. Er beugte sich zu mir und flüsterte: »Vier, wenn nicht sogar fünf. Wahrscheinlich reichen vier, zwar ist der Antrag abgelehnt worden, doch ich kenne Mittel und Wege«, er kicherte, »Mittel und Wege.« Dann breitete er die Arme aus und umkreiste mehrmals den Marmortisch. Er forderte mich auf, es ihm gleichzutun. Als ich ablehnte, griff er sich die Weinflasche, nahm einen gewaltigen Schluck, fiel auf die Couch, keuchte und schlief ein. Der Helm hatte sich aufgelöst, Fetzen hingen ihm an Wange, Schulter und Bauch. Ich steckte noch die zwei ungeöffneten Flaschen ein, danach ging ich. Vier Monate später war ich wieder am Opernplatz. Ich saß neben meinem Freund, dem Maler Paul, der bevorzugt Gesichter ohne Lippen malt, auf einer Parkbank. Es war sehr kalt geworden, das Bier schmeckte uns nicht, wir langweilten uns, also erzählte ich ihm die Geschichte von meinem alten Adler. Dazu meinte er nur: »Schlaganfall. Der lebt nicht mehr lang. Sieh doch mal nach, ob vielleicht eine Wohnung frei geworden ist.« Tatsächlich ging ich am Abend hin. Der Alte hatte mich vom Fenster aus gesehen, er winkte mir zu, anscheinend konnte er sich noch an mich erinnern. Als ich oben ankam, erwartete er mich bereits an der Tür. »Wir haben einen Luftsieg errungen«, begrüßte er mich. Er roch enttäuschend frisch nach Seife, war gekämmt und rasiert. Er wirkte wie ein Chirurg kurz vor der Operation. Meine Schulter tätschelnd führte er mich ins Wohnzimmer. Es stank nicht mehr so schlimm, auch der Spatz war in ein anderes Grab verlegt worden. Nur der Sessel schimmerte noch weißpelzig. Auf dem Marmortisch standen bereits Gläser, eine Flasche Sekt und eine Schale Erdbeeren. Wir stießen an und schon rasselte es aus ihm heraus: »Sie kommen zurück, heute Nacht. Ich habe Recht behalten, vier war völlig ausreichend. Keine Rede mehr von fliegenden Feuerzeugen. Der Luftsieg, mein Freund, den wir nun endlich errungen haben, ist etwas Großes, etwas Endgültiges, etwas Befreiendes. Ich rieche keinen verbrannten Gummi mehr, und, horchen Sie: wie still es geworden ist! Hören Sie! Nur das Brummen der Motoren, der viermotorigen Sieger, die auf dem Heimweg sind, kann man hören. Aber Schreie? Nein, die hört man nicht.« Er lief zum Fenster und öffnete es. Verzückt lauschte er in die Nacht hinein. Außer dem üblichen Straßenlärm war nichts zu hören, er aber, mein stolzer, verwirrter Adler bestand darauf, dass die siegreiche Luftflotte gleich über uns hinweg donnern würde. Er fing an zu weinen, ließ sein Glas fallen und drückte seinen Schnabel an meine Brust. Da erkannte ich, dass um seinen Hals ein Orden hing. Er hob seinen Kopf, und sein Raubvogelgesicht schob sich näher, als wollte er mich küssen. Ich musste an meinen Freund Paul denken, wie er ihn malen würde, so ganz ohne Lippen. Er ekelte mich. Ich schlug ihn, sein gelbes Gebiss fiel auf den roten Teppich. Ich schlug ihn noch mal, und er stürzte auf die Heizung. Ich hatte mich wieder beruhigt und wollte ihm aufhelfen, doch er schrie plötzlich: »Sie sind da, sie sind da!«, setzte sich auf die Fensterbank und sprang. Mein Freund, der Maler Paul, glaubt sicher, dass ich ihn heruntergestoßen habe. Am nächsten morgen war er im Leichenschauhaus gewesen und hatte ihn gemalt, ohne Lippen. |