Der Erzähler von Urs Widmers Roman Im Kongo hadert mit seinem ereignislosen Nachkriegsdasein: »In diesem Jahrhundert ist noch der letzte Depp bei der Landung in der Normandie mitgerannt oder in Hiroshima umgekommen,« schimpft Kuno. »Einzig ich habe kein Schicksal.« Aber auch seinen Vater, der noch zur Kriegsgeneration gehörte, hielt Kuno immer für einen schicksalslosen Mann, einen ausgemachten Langweiler. Bis der Vater schließlich ein Zimmer im Züricher Altenheim bezieht, wo Kuno als Pfleger arbeitet, und der Sohn erfährt, dass sein alter Herr sehr wohl ein Schicksal gehabt hat. Und was für eins! Denn schließlich gelangte Kunos Vater als Ingenieur von Zielvorrichtungen, die Rommel in Nordafrika höchst dienlich waren (bewährte Schweizer Präzisionsarbeit!), bis zur Privataudienz in Hitlers Adlerhorst in Berchtesgaden. Dass er darüber hinaus als Spion des Schweizer Geheimdienstes tätig und dies der Grund für die Ermordung von Kunos Mutter war, verschweigt er nach dem Krieg lieber - auch seinem Sohn gegenüber. Von interessanten Zeiten hat Kunos Vater ein für alle Mal genug. Doch für den Sohn - und darin liegt die Aktualität dieses versponnenen Märchens für Erwachsene - werden die Erinnerungsaltlasten aus dem Krieg zum Anstoß für eine Erkundung der nationalen und privaten Vergangenheit, für das eigene, und sei es noch so indirekte Verflochtensein darin. Vor allem aber werden die Lebenserinnerungen des Vaters für Kuno zum Anlass, sich auf die Suche zu machen nach einem Schicksal, nach dem, was sein Leben ganz und gar ausmacht. Immer nur Bettpfannen wechseln und renitenten Rentnern hinterherlaufen, das kann's dann doch noch nicht so ganz gewesen sein. Seine Suche nach dem Schicksal, die auch eine Reise in die Abgründe der eigenen Seele ist, führt Kuno ins tiefste Afrika, zu einer Schweizer Bierbrauerei im Kongo, »wo die Schwarzen am schwärzesten sind.« Die Grenzen zwischen real beobachtbarem Kongo, Projektionen des Erzählers und Momenten fantastischer Wunscherfüllung verschwimmen auf bizarre und zugleich zauberhafte Weise. Es ist nicht das Afrika der Soziologen und Ethnologen, das Kuno in seinen Aufzeichnungen entwirft, nicht das Afrika der Journalisten, das uns allabendlich in die Wohnzimmer gestrahlt wird. Es ist ein Afrika, wie man es aus unbändigen Kinderfantasien kennt, mit Menschenfressern, die im Urwald lauern, mit blutrünstigen Mördern und mitternächtlichen Machtkämpfen der Könige in Monster- und Löwenmasken, mit uralten Fetischen und überwältigend schönen Frauen. Kinder- und Kolonialfantasien gehen ineinander über, doch fehlt ihnen in Widmers Roman das Hegemonialstreben, das die Zerstörung des Anderen bereitwillig in Kauf nimmt. Der Autor spielt mit den Vorstellungen edelweißer Alpenländler über die »Wilden,« ohne Ansprüche auf eine realistische Darstellung Afrikas oder der Afrikaner zu erheben. Dieser Kongo ist voll von - im doppelten Wortsinn - unerhörten Begebenheiten, die den Roman fast zu einer Sammlung miteinander verquickter Novellen geraten lassen. Auch die Erfüllung von Kunos Wunsch nach Schicksal, letztlich nach Übereinstimmung mit sich selbst, ist unerhört und bleibt literarische Utopie. Es soll hier nicht verraten werden, welches Schicksal Kuno schließlich ereilt, besser gesagt: zuteil wird. Denn es ist ein verwirrendes und doch beglückendes Geschenk. Es mag genügen anzudeuten, dass Widmers Roman vermeintlich klare Positionen der Stärke und Schwäche, der Ich- und Fremdidentität, des Eigenen und des Anderen auf überraschende, kuriose Weise aufhebt und in Schwingungen versetzt. Dies löst im Leser eine Art Wirbel, eine Unschärfe aus, die zum Nachdenken anregt. Dabei erzählt Urs Widmer die Geschichte von Kunos Ausfahrt und Heimkehr in eine Fremde, die ihn mit Haut und Haar ergreift, mit bewunderswerter, nahezu hypnotischer Verve, mit großem Witz und Formgespür. Im Kongo ist ein schönes und gewitztes Buch, das man nur wärmstens empfehlen kann.
Urs Widmer, Im Kongo. Roman. Zürich: Diogenes, 1998. 215 Seiten, kart., 16,90 DM/8,64 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-257-23010-9.
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