Foto von Ulrich Struve Joseph Roth in Berlin
Ein Lesebuch für Spaziergänger
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve Joseph Roth, der aus Galizien stammende Autor des Radetzkymarsches und der Kapuzinergruft, wird gemeinhin mit der Habsburgerstadt Wien oder mit seinem Exil an der Seine in Verbindung gebracht.  Dabei hat sich ein wesentlicher Teil von Roths Literatenlaufbahn in den Zwanzigerjahren in der von ihm wenig geliebten Reichshauptstadt Berlin abgespielt, just als diese sich anschickte, eine Weltstadt zu werden.
     In zahlreichen Feuilletons hat Roth den Prozess der Modernisierung mitsamt seinen gesellschaftlichen Verwerfungen, aber auch dessen städtebauliche Inszenierungen begleitet und kommentiert.  Und dies auf so eindringliche Weise, dass der Leser seiner Reportagen noch heute unwillkürlich meint, man könne aus den Texten längst verhallte Stimmen oder Geräusche heraushören:  das Ächzen der Obdachlosen auf ihren »Büßerbetten aus Drahtnetz« im Asyl in der Fröbelstraße etwa oder das Kreischen einer Elektrischen in der Kurve, wenn sie beängstigend nahe an Vorstadthauswänden vorbeirattert.
     Joseph Roth ist einer der genauesten Beobachter Berlins gewesen, ein begnadeter Spaziergänger und Physiognomiker der Stadt, dazu ein Sprachartist von Rang.  Seine Feuilletons sind Glanzstücke der kleinen Form, die dem Anspruch auf Dauer oft genug gerecht werden.  »Auf einer halben Seite gültige Dinge sagen«, so hat er einmal die Aufgabe des Feuilletons bestimmt.  In dem Herausgeber Michael Bienert, seines Zeichens Stadtführer und Publizist in Berlin, hat Roth einen wahren Geistesverwandten gefunden, einen klugen Beobachter des vereinigten Spreeathen, das sich jetzt wieder als Hauptstadt aufplustert und dadurch den Erkundungen Roths überraschende Aktualität verleiht.
     Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger ist Bienerts Einladung an die Leser, sich auf den Spuren des Literaten das Berlin der Zwanzigerjahre zu erlaufen.  In über dreißig Feuilletons, von denen eines hier erstmals in Buchform erscheint, werden vielfältig gebrochene Facetten urbanen Lebens vorgestellt, werden Bürger und Bohemiens, Einheimische und Fremde gleichermaßen in Kaschemmen, in U-Bahnhöfen und Parks belauscht.
     Neben anteilnehmende Beobachtung des jüdischen Leben im Scheunenviertel, dem »Orient in der Hirtenstraße« mit seinen grotesken Gestalten und fremdartig-kantigen Buchstaben, tritt Polemik über den Zionismus, den Roth für eine überholte Form von Nationalismus hält.  Ihm schwebt das Ideal einer höheren Form von Assimilation vor, wie er sie in Die weißen Städte gnomisch beschreibt:  »Der höchste Grad von Assimilation: gerade so fremd, wie einer ist, soll er bleiben, um heimisch zu werden.«  In liebevoll gezeichneten Porträts fängt Roth die Heimstätten der Nachtschwärmer und der Gestrandeten ein, wo sich kleine Diebe und glasbrilliantengeschmückte leichte Mädchen tummeln.  Er berichtet vom verletzten Stolz eines russischen Revolutionsflüchtlings, von der Pogromangst der Ostjuden, die in der Stadt festsitzen und somit der größten Judenverfolgung aller Zeiten entgegensehen.
     Voller Achtung für die Mühseligen und Beladenen, für die Lasten der kleinen Leute sind Roths Texte, dabei glänzend geschrieben und verhalten zugleich;  Roth scheint das Staunen über die Entdeckungen, die in den entlegenen Winkeln und Nischen der Großstadt zu machen sind, nie verlernt zu haben. Für die falschen Sorgen der Gutbetuchten dagegen hat er nur Verachtung übrig wie die Feuilletons zum Kurfürstendamm und seinen Cafés zeigen:  »Ringsum an kleinen Tischen sitzt, in runde Kampfgruppen getrennt, die ganze Einheitsfront des westlichen Bürgertums, löffelbewehrt und siegreich im Krieg gegen Schokoladeneis, das auf dem schlüpfrigen Schlachtfeld aus Porzellan strategische Rückzüge vollführt«.
     Auch Reportagen über den zunehmenden Verkehr findet man, der am Potsdamer Platz zur ersten Ampelanlage Europas führt, feuilletonistische Studien über das Berliner Tempo, die Rast- und Atemlosigkeit aller Bewegungen und Wahrnehmungen in der Metropole, über Stil und Lebensgefühl einer »Neuen Sachlichkeit«.  Man findet Berichte über Bauvorhaben, Wolkenkratzer und bürokratischen Starrsinn sowie Roths rhetorisch brilliantes »Bekenntnis zum Gleisdreieck«, das vielen Literaten der Zwanzigerjahre als Inbegriff der Technik gilt.  Dabei zeigt sich:  Berlin war schon einmal Boomtown, wo gebaut wurde auf Teufel komm raus.  Und die älteste aller Autofahrerklagen galt auch damals dem jämmerlichen Zustand der Straßen und schleppenden Reparaturen.
     In Einleitung und Anmerkungen des hübsch aufgemachten Taschenbuchs bietet der Herausgeber Michael Bienert eine Stadtführung, die Lust macht auf Mehr.  Kulturgeschichtliche und politische Umstände von Roths Berliner Jahren werden kenntnisreich erläutert.  Bienert zeigt Kontinuitäten zwischen dem Berlin der zwanziger und der Neunzigerjahre auf, macht die Gegenwart der Vergangenheit im heutigen Stadtbild sichtbar.  Ein Adressbuch listet Roths Orte in der Stadt, ein Index erschließt die Texte, die von zeitgenössischen Fotografien vortrefflich ergänzt werden.  Sie alle im Verein locken den Leser, mit diesem großartigen Berlinischen Vademecum auf Schusters Rappen eine Zeitreise zu unternehmen.  Man könnte sich dafür keine scharfsichtigeren Führer wünschen als Bienert und Roth.

Ulrich Struve

Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger. Hrsg. v. Michael Bienert. 1996. Kartoniert. KiWi Taschenbuch 419. ISBN 3-462-02541-4. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 18,80 DM/9,61 EUR (Preisangabe ohne Gewähr)

Übrigens können Sie hier die Betrachtungen des Inhabers über Berlin lesen.


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