Foto von Ulrich Struve Strandlektüre
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve Hans Dieter Schreebs jüngster Roman ist ein kapitaler anderthalbpfündiger Schmöker, dessen Handlung in der Glanzzeit des Kurortes Wiesbaden gegen Ende des deutschen Kaiserreichs angesiedelt ist. Schreeb erzählt darin, wie der Glanz einer Stadt, die von den Fremden lebt, durch die chauvinistischen Umwälzungen des Ersten Weltkrieges zusehends schäbiger ausfällt.  In raschen Zügen zeichnet er die Lebensgeschichte von Frieda Tremus, einer ehemaligen Bademamsell aus kleinen Verhältnissen mit einem unbeugsamen Willen zum Aufstieg in die Reputierlichkeit des Bürgertums, oder was sie dafür hält. Verwirklichen soll sich dieser Traum durch den Besitz eines eigenen Hotels.
     Trotz des Titels bleibt aber das Haus selber für diesen Roman Mittel zum Zweck, ein bloßer Aufhänger für Friedas Geschichte, anders als zum Beispiel in den Hotel-Romanen von Vicky Baum oder Alexander Haley. Zwar geistern auch bei Schreeb skurrile Gestalten zuhauf durch die Seiten, doch gerät das Hotel nicht zum Forschungsfeld für psychologische Charakterstudien oder gar zum metaphysisch aufgeladenen Ort.  Es ist als kulturgeschichtlich repräsentativer Mikrokosmos der Gesellschaft zwischen Bismarks Tod und Hitlers Machtübernahme konzipiert, in dem sich die politischen Strömungen der Zeit, die Hoffnungen und Ängste der Menschen spiegeln.
     Die kolonialen Ambitionen Deutschlands etwa, das auch nicht zu kurz kommen wollte, als die europäischen Mächte am Berliner Konferenztisch den afrikanischen Kontinent untereinander aufteilten, werden durch Pfarrer Jennewein veranschaulicht. Der ist ganz von seiner Sendung erfüllt, aus einer Kameruner Missionsstation "eine Heimstätte deutschen Fleißes, deutscher Häuslichkeit und deutscher Gesittung" zu machen, um durch den "Sieg der vorwärts strebenden christlichen Kultur über niedere Lebensformen … den Neger auf eine höhere Kulturstufe heraufzuziehen". Geschickt lässt Schreeb solche Rhetorik, die menschenverachtende Kolonialpraxis als humanitäres Bildungswerk verbrämt, sich selbst vorführen.  Auch die Assimilationsbemühungen einer Wiesbadener Jüdin und die antisemitischen Vorurteile ihrer Mitbürger, das umstrittene Wahlrecht für Frauen, die Faszination der noch jungen Flugtechnik oder etwa die brutale Realität der zeitgenössischen Psychiatrie kommen zur Sprache.
     Pfiff bekommt der Roman nicht zuletzt dadurch, dass Schreeb dem Fräulein Frieda, die zum Hotelkauf erst mal einen Mann benötigt, da sie als Frau nicht geschäftsfähig ist, einen waschechten Sozi beigesellt. Georg, ein glühender Verehrer August Bebels, hätte seine Erfüllung wohl in der Partei gefunden, wäre er nicht ausgerechnet an Frieda geraten. Aus den Spannungen zwischen Friedas Erwerbsdrang und der politschen Leidenschaft ihres Gatten schlägt Schreeb genüsslich Kapital, doch bleibt die Zeichnung der Figuren als Charaktere ein wenig blass. Zu behaupten, Frieda habe Angst oder sei wütend, genügt eben nicht; der Erzähler muss das auch überzeugend vorführen.
     Trotzdem: Auch wenn es gelegentlich ein wenig in der Mechanik klappert, wenn die eine oder andere Figur nicht so recht glaubhaft wird und Erzählstränge als Blindgänger enden (etwa das unaufgeklärte Verschwinden von Friedas Vater oder die blutige Hinterzimmerabtreibung ihrer Freundin Anna), ist der Petersburger Hof solide gearbeitet und flott geschrieben. Unterhaltsam ist er allemal, eine prächtige Strandlektüre, die sich auch für den Baggersee oder Balkonien eignet.

Ulrich Struve

Schreeb, Hans D.: Hotel Petersburger Hof. 1996. 541 Seiten. ISBN 3-502-11675-X. Scherz, München. 19,90 DM/10,17 EUR (Preisangabe ohne Gewähr)


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