| »Als die siebenjährige Katharina Disch mit ihrem vierjährigen Bruder Kaspar am Freitag, dem 9. September 1881 das Haus ihrer Großmutter betrat, wußte sie nicht, daß sie erst wieder bei ihrer Hochzeit von hier weggehen würde.« Mit diesem leicht unterkühlten Satz, der uns in medias res führt und den Beginn der Erzählung mit einer Zukunft verklammert, die über den Rahmen von Hohlers großartiger Novelle Die Steinflut weit herausreicht, schürzt der Autor den Knoten der Erzählung. Etwas muss geschehen sein, wenn eine Siebenjährige bis zum Hochzeitstag im Großmutterhaus lebt! Die Genrebezeichnung, mit der Hohler seinen Anspruch anmeldet, die Schweizer Novellentradition ins 21. Jahrhundert zu führen, lässt Unerhörtes vermuten. Was es ist und wie es dazu kam, erfährt der Leser aus einer Erzählperspektive, die sich der kleinen Katharina innig vertraut macht und dabei eine Novellenfigur erfindet, der man allerhand zutraut, starrköpfiges Beharren ebenso wie Weitsicht. Die Novelle berichtet, wie das Dorf Elm samt Kind und Kegel unter Steinen begraben wird -und über die Tage vor der Katastrophe. Schon seit Tagen regnet es, vom Berg sind ein paar Tannen heruntergefallen, alle sind nervös. Die Menschen spüren, dass sich etwas zusammenbraut. Die Gesprächsfetzen, die Katharina in der Schankstube der elterlichen Wirtschaft aufschnappt, drehen sich um kaum etwas anderes. Doch haben sie alle gute Gründe, an ihren Gewohnheiten festzuhalten. Soll man etwa das Schieferwerk schließen, das 100 Familien ernährt, bloß weil ein paar Steine vom Berg gefallen sind? Und so verleugnen die Dorfbewohner ihre Furcht und übersehen die Zeichen, die Katharina, die Siebenjährige, als Einzige wahrnimmt. Hohlers Novelle ist auch ein Text über das Lesen, über die Aufgeschlossenheit gegenüber den Zeichen und die Aufmerksamkeit, die es erfordert. Eine andere Wende, die Hohler auf ausgesprochen behutsame Weise nachzeichnet, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ist die innere Verwandlung Katharinas - wie sie lernt, einen Platz in der Welt einzunehmen. Zwar ist sie, wenn sie neben der Großmutter die Treppe hinaufgeht, zweifelsohne das Kind. Doch als sie später noch einmal »die Treppe hinaufging, hörte sie unter sich ganz leise die Stufen knarren und war stolz darauf. Sie musste eben allein drauf treten, dann merkte die Treppe schon, wer sie war.« Meisterhaft webt Hohler solche sinnlichen Details in seinen Text hinein, um uns das karge Leben im Dorf hoch in den Bergen und das Gefühlsleben des Mädchens nahe zu bringen. Ein bezaubernder und beunruhigender Text. Ulrich Struve Franz Hohler, Die Steinflut: Novelle. München: Luchterhand, 1998. Gebunden, 157 Seiten, 29,80 DM/15,24 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-630-86994-7. |