Die Romanautorin Susanne Röckel verbrachte Ende der 90er ein knappes Jahr als Sprachdozentin in Shanghai. Um dem Übermaß der sinnlichen Eindrücke, den fremden Gerüchen und Lauten nicht zu erliegen, begann sie zu schreiben. Die entstandenen Vignetten werfen in eleganter, kraftvoller Prosa Schlaglichter auf die Geschichte und Gegenwart Shanghais. Sie berichten von Besuchen auf dem Markt, bei Sehenswürdigkeiten oder in Parks, von Begegnungen in Kaschemmen und volkseigenen, bahnhofshallengroßen Restaurants. Auch die neonfarben glitzernden Bars, die dank ihrer exorbitanten Preise allein den Gewinnern des kapitalistisch eingefärbten Neuen China - und den Ausländern - offen stehen, besucht die aufmerksame Beobachterin und reibt sich ganz ohne Pathos am Kontrast. So entsteht ein betont uneinheitliches Bild der fernöstlichen Metropole, in dem die Gegensätze von Arm und Reich, Ost und West, Tradition und Moderne scharfkantig konturiert sind. Bei alledem umkreisen Röckels Notizen, die von »Ausländer« über »Dunkelheit« und »Ordnung« bis zu »Ziehnudeln« reichen, immer wieder die Erfahrung des Fremdseins. Sie wird ihr nicht nur dort greifbar, wo sie als »Langnase« im Straßenbild hervorsticht, sondern gerade auch, wo sich etwas dem Verständnis nicht erschließt oder das Fremde das Eigene herausfordert, das vertraut Gewähnte in Frage stellt. Besonders schön führt die Autorin dies an ihrer Auseinandersetzung mit der Chinesischen Kunst und einem Torso Michelangelos vor. Bemühungen um die chinesische Landschaftsmalerei fruchten ohne einheimisches Bezugssystem wenig: »Oft stand ich überwältigt von der unendlichen Weite und feierlichen Tiefe ... vor einem Bild,« gesteht Röckel, »und dann kam das nächste Bild, und ich hatte keine Kraft mehr, mich überwältigen zu lassen, weil es mir an Kriterien mangelte ...« Michelangelos Männertorso aus Terracotta, als Leihgabe zu einer Medici-Ausstellung in Shanghai eingetroffen, ist ihr dagegen »sofort vertraut.« Von den Reaktionen der chinesischen Ausstellungsbesucher geleitet, wird Röckel das Vertraute schließlich doch fremd: »Ich versuchte, [den Torso] von den eleganten Buddhas und erhabenen Landschaften her zu sehen, die ich kennen gelernt hatte. Ich versuchte, die Gewohnheit abzuschütteln ... Ich sah, dass dieser Torso, umringt von den Emblemen der Macht, der Dauer, der Unbesiegbarkeit, ein monströser Körper war, besessen von Tod und Verwesung und Untergang.« In solchen Momenten gelingt der bewusste Akt der kulturellen Selbstentfremdung und damit eine Erweiterung des Horizonts. Behutsame Beobachtungen verknüpft mit Assoziationen, die die Wahrnehmung auch des Lesers verlangsamen, die zum Innehalten einladen, bietet die Autorin in ihrem ungewöhnlichen Reisebuch, das kein Bericht sein will und doch reiche Auskunft gibt über eine ferne Stadt und ihre Menschen und über die eigene Fremdheit. Chinesisches Alphabet ist ein kluges, ein lesenswertes Buch.
Susanne Röckel, Chinesisches Alphabet: Ein Jahr in Shanghai. München: Luchterhand, 1999, 227 Seiten, 34 DM/17,38 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-630-87032-5
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