Ein ganz und gar unromantischer Roman Sibylle Berg hat mit ihrem zweiten Buch »Sex II« einen Hassgesang aufs Großstadtleben geschrieben
»Ich, 33. Normal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal alleine, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch.« Nein, heiter beginnt der Roman »Sex II« von Sibylle Berg nicht. Er geht auch nicht fröhlich weiter, und ein happy end gibt es schon gar nicht. 24 Stunden in einer Großstadt lässt die Autorin als alltäglichen Horror am Rande des Wahnsinns - oder mittendrin - erleben. Jedes »Kapitel« ist überschrieben mit einer Uhrzeit und einer Person. Außer »ich« betreten noch andere beklagenswerte Gestalten die stinkende, dreckige, verhasste Bühne der Stadt. Sie sind miteinander verbunden, streifen einander, ohne es zu merken, leben neben sich selbst und neben einander her, machen sich und anderen mehr oder weniger erfolgreich etwas vor. Sie haben Berufe und Probleme - alles wie im wirklichen Leben. Dass es sich - möglicherweise - sogar um »wirkliches Leben« handelt, gesehen durch eine rabenschwarze Brille von Gewalt, Tristesse und Einsamkeit, verursacht Unbehagen. Eine tiefe, unbesiegbare Lebensmüdigkeit zeichnet die Figuren. Ständig sterben Leute, oder bringen sich gegenseitig um, sterben vor Langeweile, Einsamkeit, unbeachtet oder verachtet, hinterlassen nicht mal Leere, weil die ja vorher schon zur Genüge da war. Wer noch nicht gestorben ist, ist längst innerlich tot. Die Leute werden getrieben von einer Sehnsucht nach Liebe. Doch die Liebe ist bei Sibylle Berg nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern von vornherein unmöglich. Eine Frau entführt ein Kind, um nicht mehr allein zu sein, bringt es um, damit es auch ganz ihrs bleibt. Eine Andere, erfolgreiche Designerin oder Werbetexterin mit schicker Wohnung, versteckt seit seiner Geburt ihren zehnjährigen, behinderten Sohn im Keller, bringt ihm zwei mal täglich Essen. Und »Ich« sieht das alles. Denn »Ich« ist mit der Fähigkeit geschlagen, durch Wände und Köpfe hindurch schauen zu können, all den Ekel zu sehen, die Ödnis und die Billigkeit der Stadtbewohner. Was »Ich« sieht und hört und fühlt, steht geschrieben. Dazwischen sind »Geschichten gegen den Wahnsinn«, kurz GgdW, weil »Ich« Angst hat, verrückt zu werden, oder es schon zu sein, verrückt aus Klarsicht. »Ich« sieht in Wohnblocks Spanner mit dem Fernglas anderen beim lustlosen Geschlechtsverkehr zusehen. »Ich« läuft verwirrt durch die Straßen, ersehnt die Nacht, wo Schlafen Vergessen verspricht - vielleicht. Das ist natürlich auch anmaßend, das ist vor allem hässlich. »An mir und meinem verheulten Gesicht geht eine wirklich moderne Familie vorbei. Hübsch, lässig und individuell. Hauptsache individuell, denn aus irgendwelchen Gründen geht es heute darum. (...) Der Vater mit Stoppelschnitt, überweiten Hosen, Caterpillars, die Mutter gut aussehend und ungeschminkt, eine Powerfrau, das Kind mit Klumpenschuhen und Hosen, die auf der Hälfte des fastfoodfetten Arsches hängen. (...) Sie wollen (...) glauben, dass das Leben eine geile Sache ist. (...) Ich habe niemanden. Ein paar Arbeitgeber, Arschlöcher, zu denen keiner verwirrt und übel riechend gehen sollte, Freunde wie Beate (die mit dem versteckten Kind), ein paar, von denen ich nichts sehen möchte, und auf den Straßen der normale Großstadtscheiß. Baulärm, Verkehrslärm, Menschenlärm, Bananenschalen, Omas sterben, der Mist eben, der macht, dass du dir auch ohne Drogen wie ein Irrer vorkommst, dich fragst, warum laufe ich hier rum, zwischen tausend anderen, ich will doch individuell sein. (...) Unter uns, ich bin irgendwie scheiße drauf.« Es gibt kein Glück für den, der nicht ans Glück glaubt. Und wer glaubt schon, tief drinnen, ans Glück? Da sind doch immer alle möglichen Gedanken davor, an vorher, nachher, später, früher, alle möglichen Gedanken an Unglück, alles Schreckliche, was man gesehen oder sich vorgestellt hat. Die Autorin schreibt mit bestechender Konsequenz von der Unmöglichkeit, glücklich zu sein. Von der Unmöglichkeit der Liebe. Und davon, dass Schönheit unmöglich ist. Und sie tut dies mit einer wunderschönen, glasklaren Sprache, in der jedes Komma einen Sinn hat, weil es die langen Sätze anders teilt als erwartet und ein Drüberhuschen vereitelt. Und sie schreibt ohne jede Sentimentalität. »Warum bin ich weggelaufen? JA, warum macht man solchen Mist. Weil es peinlich ist, jemanden anzustarren, das Herz in den Ohren, die Hände feucht, dann doch lieber weglaufen, sich ärgern. Und ich will, dass er wiederkommt. Die Wahrheit ist, dass wir alle unter unserm coolen Getue Romantiker sind, von großen Lieben träume und zu viel wissen. Dass es die nicht gibt, aber träumen ist doch erlaubt. Und jetzt werde ich traurig, und fühle mich richtig am Arsch. Scheiß doch auf die Liebe.«
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