»Ich würde gerne auf Nationalitäten verzichten« Ein Interview mit dem Autor Wladimir Kaminer über die deutsche Sprache, das Dorf Berlin, das Schreiben als Sucht und die Vorbildfunktion amerikanische Rapper Am Prenzlauer Berg ist es unruhig geworden. Seit 1990 hat sich dort ein kreatives Multitalent eingenistet und mischt die Literaturszene gewaltig auf. Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, führt den Lesern mit seiner »Alltagsbewältigungsprosa« vor Augen, wie aufregend der Alltag sein kann.Eher zufällig kam der studierte Dramaturg nach Deutschland. »Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter als nach Amerika. Die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel, und für Ostberlin brauchte man kein Visum«. Literatur-Café: Sie pendeln von einem Termin zum anderen, haben zahlreiche Auftritte beim ZDF Morgenmagazin, schreiben Kolumnen für die taz und Zitty und haben ihre eigene Radiosendung. Wladimir Kaminer: Manchmal macht es Spaß, es kann aber auch lästig sein. Ich bin nie länger als 3-4 Tage unterwegs und versuche, so viel Zeit wie möglich mit meiner Familie zu verbringen. Literatur-Café: Genießen Sie nicht auch ein wenig den Ruhm um ihre Person? Wladimir Kaminer: Das ist etwas problematisch. Es ist schwierig, wenn man wenig erreicht; genauso schwierig ist es aber, wenn man zuviel erreicht. Im Grunde genommen nehme ich mich gar nicht so wichtig. Mehr interessiere ich mich für meine Mitmenschen, für das Leben der anderen. Literatur-Café: Als Sie vor zwölf Jahren nach Deutschland kamen, sprachen sie kein Wort Deutsch. Wie kam es, dass Sie so schnell der deutschen Sprache mächtig wurden und sogar Bücher auf Deutsch schrieben? Wladimir Kaminer: Anfang der 90er habe ich im Theater gearbeitet. Dort bestand die Arbeit größtenteils aus Kommunikation. Ich hatte keine andere Wahl, als die Sprache so schnell wie möglich zu lernen. Literatur-Café: Wie kamen Sie von der Schauspielbühne zur Literatur? Wladimir Kaminer: Es passierte durch eine rein zufällige Begegnung. Eines Abends im Jahre 1998 machte ich mit einer Vorlesebühne in Berlin Bekanntschaft. Mich hat dieses Ambiente sofort angesprochen. Man hat dort eine gute Unterhaltung und man kommt leicht ins Gespräch. Literatur-Café: Ihr Debut-Roman »Militärmusik« handelt von dem im Wehrdienst stehenden Taugenichts Wladimir, der während seiner Militärdienstes zahlreiche und auch skurrile Begegnungen hat. Wie hoch ist der autobiographische Inhalt dieser Erzählung anzusetzen? Wladimir Kaminer: Trotz einiger Zweifel ist das Buch absolut authentisch. Meinen Wehrdienst habe ich von 1986 bis 1987 in Russland absolviert und dabei auch manches erlebt. Literatur-Café: Das Treffen des Protagonisten Wladimir mit dem auf den roten Platz gelandeten Mathias Rust klingt doch etwas phantastisch. Wladimir Kaminer: Das war ein ganz besonderes Erlebnis in der Armee. Eigentlich war es reiner Zufall, dass ich auf ihn gestoßen bin. Literatur-Café: Über Berlin schrieben Sie mal »Nichts ist echt, jeder ist er selbst und doch ein anderer«. Was führte zu dieser Überzeugung? Wladimir Kaminer: Beispiele, die dies erläutern, kann ich genügende geben. Ein Bekannter von mir arbeitete anfangs bei der Telebörse, verkaufte anschließend Münzen und gründete daraufhin eine Edelwein-Firma. Heute verdient er sich sein Geld als erotischer Fotograf. Literatur-Café: Sie schreiben also über die Menschen Ihres Umkreises. Demnach kommen keine fiktiven Charaktere hinzu. Wladimir Kaminer: Weder meine Erzählungen, noch die Charaktere sind fiktiv. Das Erfinden von Geschichten sehe ich als eine kopflästige Angelegenheit. Das Leben und die Realität bieten doch genügend Stoff, um zu schreiben. Literatur-Café: Ihren Kurzgeschichten haben Sie den Namen »Alltagsbewältigungsprosa« gegeben. Sollen diese Ihnen zur Bewältigung des Alltags helfen oder dem Leser? Wladimir Kaminer: Eigentlich beiden, weil man sich in dem geschriebenen Leben wiederfinden kann und Dinge verarbeiten kann. Literatur ist eine Lebensform, in der man sich verstecken und für kurze Zeit leben kann. Sozusagen ein Ausgleich zum realen Leben. Literatur-Café: Was bedeutet das Schreiben für Sie? Wladimir Kaminer: Es ist mittlerweile zur Sucht geworden. Ständig fallen mir neue Geschichten ein. Man hat ein geschriebenes und ein wirkliches Leben. Von beiden kann man viel lernen. Literatur-Café: Sie leben seit 1989 in Deutschland, haben eine Liebe zum Prenzlauer Berg entwickelt und sich in der Literaturszene etabliert. Fühlt man sich nach einer solch langen Zeit mehr der deutschen oder der russischen Nationalität verbunden? Wladimir Kaminer: Muss man eine Nationalität haben? Ich würde gerne auf Nationalitäten verzichten. Mit meiner Literatur über die verschiedenen Menschen und deren Kulturen stehe ich für Offenheit, Toleranz und Menschenachtung. Ich fühle mich lediglich als Mensch unter Menschen. Literatur-Café: Was schätzen Sie an Deutschland, bzw. an Berlin? Wladimir Kaminer: Ich schätze vor allen Dingen die nette Umgebung am Prenzlauer Berg. Berlin ist eine sehr gemütliche, zum Leben geeignete Stadt. Es hat etwas von einem Dorf, wo jeder den anderen kennt und dennoch ist es eine Metropole. Literatur-Café: Gibt es in ihrem Leben irgendwelche Personen, die sie beachtenswert finden? Wladimir Kaminer: Kennen Sie Eminem? Er ist wirklich cool, ja sogar witzig und irgendwie süß. Er erinnert mich an die Vorlesebühne: keine künstliche Form, kein Theater und keine Verstellung. Ich habe mir die Texte seiner Songs durchgelesen und ich fand es schon recht provokant. Aber man muss sagen, dass er einfach das schreibt, was er denkt und kein Blatt vor dem Mund nimmt. Das ist sehr faszinierend. Wenn er was sehr gut findet, sagt er: »This shit is cool«. Literatur-Café: Eminem als Vorbild? Wladimir Kaminer (lacht): Vielleicht nicht für jeden Menschen, aber er ist einfach witzig und cool. Ja, wir wollen auch wie Eminem sein. Literatur-Café: Was sind Ihre nächsten Projekte? Wladimir Kaminer: Im April erscheint mein nächstes Buch mit dem Titel »Reise nach Trulala« und im Dezember wird das Buch »Helden des Alltags« veröffentlicht. Ein sozusagen lichtgestutzter Vortrag über die seltsamen Sitten der Nachkriegszeit. Literatur-Café: Herr Kaminer, wir bedanken uns für das Gespräch. 15.04.2002 Wladimir Kaminer: Russendisko. Gebundene Ausgabe. 2000. Goldmann Verlag. ISBN/EAN: 9783442545193. 26,02 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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