Die Leidenschaft für gesprochene Kunst in samtrotglitzerndquietschgelbem Ambiente Am 9. Dezember 2001 wurden in Wiesbaden die »Hörbücher des Jahres 2001« ausgezeichnet. Eileen Stiller war für das Literatur-Café dabei. Erwartungsvoll kuschle ich mich in einen mit tiefrotem Samt bezogenen Kinosessel der Filmbühne Caligari. Neben mir eine alte Dame, die, über ihren knallbunten Brillenrand schielend, die auf jedem Sessel vorzufindenden Lese- und Hörproben aufmerksam studiert, ihre Pariser Künstlermütze gekonnt übers graue Haar drapiert. Zwanzig Minuten später als geplant endlich die Eröffnung. Kameras drängen sich auf dem mittleren Gang Richtung Bühne, Mikrofone recken ihre bunten Köpfchen in die Höhe, um Wort und Gestalt des Moderators Hans Sarkowicz für die Nachwelt festzuhalten. Es folgt die Aufzählung der anwesenden Prominenz. Zum fünften Mal findet die Preisverleihung der »hr2-Hörbücher des Jahres« statt. Es sind die Highlights der »hr2-Hörbuch-Bestenliste«, die seit 1997 vom zweiten Hörfunkprogramm des Hessischen Rundfunk (hr2) und dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel in Zusammenarbeit mit dem »BuchJournal« und der Zeitschrift »Hits für Kids« herausgegeben wird. Am Anfang jeder Veranstaltung steht traditionell eine Lesung. Diesmal darf Charles Brauer ans Mikro, uns allen bekannt als Peter Brockmüller aus dem »Tatort«. Brauer gibt aus dem gerade neuauferlegten Roman Sàndor Maràis, »Ein Hund mit Charakter«, einige Passagen pointiert und souverän zum Besten. In den Reihen vor und neben mir beginnen die Besucher, ihre Köpfe ganz bedächtig, wie in Zeitlupe, schräg zur Seite zu neigen, die Augen aufmerksam nach vorne gerichtet. Die ältere Dame zu meiner Rechten rutscht noch tiefer als zuvor in ihren Samtsessel. Ein Mann zu meiner Linken wirft mit vorgeneigtem Körper einen betont kräftigen Lacher in den Saal. Das nachfolgende Interview unterstreicht noch einmal die sympathisch unkomplizierte Person Brauers. Ehrlicherweise stellt sich heraus, dass das Sprechen von Hörbüchern natürlich auch eine wunderbare Sache zum Kontoauffüllen sei. Was der Unterschied vom Literaturvorlesen zur Schauspielerei sei, wäre gar nicht so recht festzulegen, denn es handle sich um einen sehr ähnlichen Vorgang, der sich in beiden Fällen auf Modulation und Gestus konzentriere: »Wie sie sehen, fummle ich auch jetzt ständig an meinem Körper rum.« Was er gerne lesen würde? »Rundum alles.« Ob sein jugendlicher Sohn ebenfalls Interesse an Hörbüchern habe? »Ab und an. Aber wahrscheinlich fände er es besser, wenn ich in »Herr der Ringe« mitmachen würde.« Charles Brauer hat die Lacher auf seiner Seite. Die von meinem Sitznachbar sowieso. Dann die Vorstellung des ersten preisgekrönten Werkes aus der »Hörcompany«. Emma (4), Johnny (8) und Vincent (11) betreten gemeinsam mit Autor Franz Wittkamp die Bühne, um Kostproben aus dem liebevoll arrangierten Kinderhörbuch »Du bist da, und ich bin hier« vorzutragen. In wunderschöner und jedes Elternherz erweichender Manier liefern sie die beste Bestätigung für die vorausgegangene Entscheidung der Juroren. Selbst Wittkamp zeigt sich begeistert, hatte er doch bis dato ebenfalls nur die Stimmen der drei gekannt, wie sie - seinem ersten Empfinden nach - »lyrisch, süß und rauchig-reizvoll« Manfred Steffens Vorlesungen der Vierzeiler, der so genannten »Findlinge«, begleiten. Dann schreitet Henrik Markgraf zur Vergabe der silbernen Kassette hinters Mikro, nutzt die gerührt-amüsierte Stimmung der Anwesenden und beginnt seine Laudatio über besagte Kindervers-Sammlung. Dass auch in diesem Buch »richtige« Lyrik zu finden sei, da in jedem Gedicht ein Kindergedicht für jedermann stecke, welches einen das ganze Leben lang begleite und forme. Dass gelesene Kindergedichte aus Sprache und Spiel heraus eine ganz eigene Spannung entwickelten und besonders im Zuhören ihren Sprachwitz entfalteten. Dass die Erzählungen vom Allein-, Geduldig-, So-und-Anders-, eben Hier-und-Da-Sein die Lust aufs eigene Weiterdichten wecken. Als habe jemand im Saal auch nur einen Augenblick lang daran gezweifelt. Mit einem Male färbt sich die Bühne bunt, sowohl mit Farben als auch mit Charakteren. Plötzlich sitzen sich da eine in glitzernde Farbenpracht gekleidete, mit strahlenden Äuglein in die Runde blitzende Claudia Baumhöfer, ein in ausgelatschten Schuhen und grauweißfusseligmeliertem Anzug steckender, unbeeindruckt zurückgelehnter Robert Kelly, und ein im schlichten Schwarz zurückhaltend auftretender Raul Schrott auf quietschroten Stühlen gegenüber. Sollte auch das Hörbuch »The Spoken Arts Treasury« aus dem »Hörverlag« derart vielfältig sein, dann kann man durchaus auch diese Preisvergabe voll und ganz unterstützen. In dieses Bild jedenfalls passt auch die von Baumhöfer bestätigte Legende um die Entstehung der O-Ton Anthologie: Die Flucht vor dem unbarmherzig niederprasselnden Regenschauer ins nächste Ostberliner Antiquariat, der Fund dieses schrecklich grellgelben Plastikkoffers, der darin eingebettete Schatz in Gestalt von 20 Originalaufnahmen namhafter amerikanischer Autoren wie John Updike, Robert Kelly, Gertrude Stein, Ezra Pound, e.e. cummings, Allen Ginsberg, Dorothy Parker und T.S. Eliot. Dass daraus schließlich ein Monumentalwerk bestehend aus 453 Gedichten der wichtigsten amerikanischen Lyrikerinnen und Lyriker auf nahezu 15 Stunden Länge inklusive einem hundert Seiten starken Begleitbuch entstanden ist, sei selbst heute noch unbegreiflich. Mein Nachbar lacht unüberhörbar auf und wiegt sein Haupt deutlich von oben nach unten und zurück. Schrott, für einen einleitenden Pegasusflug durch die Geschichte der Poesie verantwortlich, gelingt das wunderschöne Bild, dass die Sprache ein Fingerabdruck des Denkens sei und direkt in die Mitte des Gedichts weise. Vorsichtig schiele ich zur Seite. Die alte Dame lächelt. Schließlich und endlich kommt Robert Kelly, selbst ernanntes »quicklebendiges Museum«, zum Zuge. Kleine Ausschweifung über die deutsche Wortkombination »Hörbuch«, wo es doch im Englischen leider keine »hear-press« gebe. Dann der Publikumsschocker, indem er Poesie über Liebe als »Safer-Sex des neuen Millenniums« bezeichnet (meine Nachbarin horcht sichtbar auf). Zum Abschluss eine kurze Lesung stellvertretend für alle 100 auf der CD vernehmbaren Autoren auf Englisch. Als »perfekter Ausdruck, eine gewisse Authentizität der Poesie zu vermitteln« begründet Heinz- Dieter Sommer, Programmdirektor von hr2, die Preisvergabe an das vorgestellte Werk, welches »einzigartig in dieser Art und Weise sei«. Der Dichter selbst werde wieder lebendig und erfahrbar, und nun dränge sich nur noch die Frage auf, wann eine solche Anthologie auch mit deutschen Autoren im CD-Regal zu finden sei. Diese Frau jedenfalls dürfte auf einer solchen CD ganz bestimmt nicht fehlen: Ulla Hahn nimmt auf einem der roten Stühle Platz, einen Stapel Bücher vor sich aufbauend. Sie bildet den Ausklang der Veranstaltung. Dass man bereits eine halbe Stunde mit der Sendezeit im Verzug ist, wird allein dadurch unübersehbar, dass ständig ein in Kabeln verhedderter Typ dem Publikum vor der Nase herumhampelt, den Zeigefinger auf der erhobenen Uhr klebend. Außer ihm scheint das jedoch niemanden ernsthaft zu stören. Ulla Hahn lässt sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Natürlich und charmant, mit stetem Lächeln auf den Lippen, liest und kommentiert sie sowohl Passagen aus ihrem aktuellen Roman »Das verborgene Wort« als auch Gedichte aus früheren Schaffensphasen. Man spürt gleich, dass die Stimmung im Saal sich hebt, sobald die zierliche Frau Anekdoten zu ihren einzelnen Gedichten zum Besten gibt. So erzählt sie von Leserbriefen, welche ihr immer wieder aufzeigten, wie komplex ein Gedicht ohne Absicht des Autoren für den Leser erscheinen kann. Ermutigt, Gedichte in den Mund zu nehmen, einen Klangkörper für sie zu formen und sie dadurch in einen ganz anderen Zustand zu erheben. Und sie umreißt erneut die Thematik ihres neuen Romans, hebt die individuelle »Menschwerdung durch Sprachwerdung« in den Vordergrund, stellt die Frage, »was Literatur für unser Leben leisten« könne. Bis schließlich doch der Typ mit den Kabeln gewinnt und das Geschehen siegessicher abzuwürgen vermag. Kurze Verabschiedung, Hinweis auf den Sendetermin in zwei Wochen, Abbau. Umso schwerfälliger erheben sich die Besucher aus den weichen Samtsesseln, lassen noch einmal einige der schönen Worte an diesem Vormittag Revue passieren. Außer mein Nachbar. Der stürzt sich sofort auf Wittkamp, während ich noch genüsslich den inzwischen kalten Rest meines Tees schlürfe und mich am wallenden Gewand der alten Dame vorbeidrücke. Eileen Stiller 19.12.2001 Weiterführende Links zum Thema: Im Cafe: - »Wir sind kein Reader’s Digest zum Hören« - Dieter Löwenbrück hat sich in der Hörbuchbranche um-gehört Im Cafe: - »Wenn ich keinen Zettel bei mir hab, dann fühle ich mich, als hätte ich kein Taschentuch bei mir« - Ein Interview mit der Autorin Ulla Hahn Im Cafe: - »Ich habe den Text irgendwie inhaliert« - Ein Interview mit dem Sprecher und Vorleser Christian Brückner | |