Wellers Wahre Worte am Café Tisch
November 2002 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


»Da muss er das zurücknehmen … diesen horrenden Fehler, mich betreffend«
Günter Grass fordert eine neue, reversible Form der Literaturkritik
Wilhelm Weller


Günter Grass dürfte kürzlich in einem Interview mit dem SPIEGEL, Anlass war sein 75. Geburtstag, vielen Autoren aus der Seele gesprochen haben. Ist Grass doch nur der Prominenteste unter den von Marcel Reich-Ranicki Zerrissenen.
     Gefragt, ob er sich eine Versöhnung mit dem Kritiker vorstellen könne, nannte der Nobelpreisträger seine Konditionen:
     »Da muss er das zurücknehmen. Darauf bestehe ich schon, dass er die Kraft haben möge, diesen horrenden Fehler, mich betreffend, diese Kränkung, und auch den Fehler, seine eigene Person betreffend, zurück zu nehmen.«
     Gemeint war das abschätzige Urteil von Reich-Ranicki über seinen Roman »Ein weites Feld«. Ein klares Wort von Grass, dem freilich eine ebenso klare Absage des Kritikers folgte:
     »Warum sollte ich, frage ich ganz bescheiden, meine Kritik revidieren?«, so MRR in einem offenen Brief an den Schriftsteller, der auszugsweise ebenfalls im SPIEGEL zu lesen war.
     Ja, warum sollte er nicht? Kann, darf sich die Perspektive, unter der er das »Weite Feld« einige Sonnenumläufe zuvor sah, nicht gewandelt haben? Macht nicht auch ihn das Alter reifer und milder? Muss nicht eine hohe Auflage, also Erfolg beim Leser, bedacht werden?
     Wer, wie Reich-Ranicki, einem Autor nahe legt, sein Werk zu überarbeiten, sollte gleiches auch für seine Kritik gelten lassen. Denn prinzipiell ist es doch ein homöostatisches Gleichgewicht zwischen Werk und Rezension, zwischen Autor und Rezensent, das für beide ein erstrebenswertes Ziel sein sollte.
     Wie im industriellen Fertigungsprozess, zu dem Qualitätsprüfungen notwendig gehören, könnte sich auch auf dem weiten Feld der Literatur die Qualität von Auflage zu Auflage und von Kritik zu Kritik steigern. Mag am Anfang ein Dissens stehen wie bei dem so berühmt gewordenen Grass-Zerriss auf dem SPIEGEL-Cover, so könnte ein geregeltes Prozedere wechselseitiger Optimierung zukünftig Autor und Kritiker am guten Ende versöhnt in die Arme fallen lassen.
     »Gut ist Dein Werk«, sagt der eine, »ebenso gut ist Deine Kritik«, sagt beglückt der andere.
     Dann, ja dann wäre es nicht mehr notwendig, dem bösen Kritiker die Krätze, oder, wie Walser seinem krittelnden Ehrl-König, das Krepieren zu wünschen.
     Eine in diesem Sinne reversible und zwischen Autor und Kritiker notfalls mit etwas Druck verhandelbare »Kritik unter Vorbehalt« bietet sich verständlicherweise nur für die literarische upper class an.
     Irgendwo und bei irgendwem muss Kritik auch tatsächlich kritisch sein dürfen. Etwa bei meiner Großtante, die schon seit Kindertagen ihr Poesiealbum mit immer neuen Stabreimen füllt. Da ist nicht alles gelungen.
     Auch Malte Bremer, der Textkritiker des Literatur-Cafés, kann nicht jedes poetische Erzeugnis mit 5 Lesebrillen auszeichnen.
     Allerdings wird derzeit in der Redaktion ein neues Geschäftsmodell geprüft, das die bislang zeitaufwendige und ehrenamtliche Arbeit endlich effektiver und rentabler gestalten könnte. Intern nennt sich das noch in Diskussion befindliche Projekt »pay for brill«, soll heißen, jede Lesebrille kostet in Zukunft einen Tausender (mit Erfolgsgarantie).
     Die bislang manuell erstellte Textkritik würde außerdem mithilfe einer intelligenten Software vollautomatisch erzeugt.
     Dabei checkt ein Parser den zugesandten Text und weist ihm entsprechend einer string-Analyse und weiterer Variablen per Zufallsgenerator harmonisch miteinander verbundene und vorab erstellte Text- bzw. Kritikbausteine zu. Das Verfahren soll in nächster Zeit patentiert werden.
     Interessant für diejenigen, deren Texte noch nach dem klassischen Verfahren bewertet wurden und die dabei eine »Kränkung« sich betreffend und einen »horrenden Fehler« den Kritiker betreffend erkannten: Das Literaturcafe hat durchaus die Kraft, einen solchen Fehler zurückzunehmen. Pay for brill.

Wilhelm Weller

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