Baukasten der Macht

Betrachtungen zur Architektur in Berlin von Wolfgang Tischer

Die MauerIn jenen letzten Tagen im Oktober 1996 war ich das erste Mal in Berlin. Und obwohl ich mich noch nie in dieser Stadt aufgehalten hatte, glaubte ich dennoch, diesen Ort sehr gut zu kennen. Fernsehen, Radio, Zeitungen, Zeitschriften und Kalenderbilder hatten das ihre dazu beigetragen, um ein Bild dieser Stadt in mir zu verankern. Ein Aufenthalt in dieser Stadt erschien mir wie der Besuch eines Architekten auf der Baustelle, nachdem er das Gebäude eigentlich aufgrund seiner Pläne schon in- und auswendig kennt.

Mit der U-Bahn kamen wir ins Zentrum der Stadt, und wir verließen das Transportmittel am Bahnhof "Zoologischer Garten". Diesen Ort kannte ich nur zu gut aus jenem Buch.

Und tatsächlich: Man biegt um die Ecke, erblickt die Ruine der Gedächtniskirche und sagt "Ah", so als habe man etwas lang Vermisstes wieder gefunden.

In Erinnerungen und auf Fotos scheinen die Dinge oftmals größer zu sein, als sie es tatsächlich sind oder waren, und so erging es mir auch mit dem Brandenburger Tor: Das Symbol Berlins und das Symbol Deutschlands ist kleiner als angenommen. Aber vielleicht hat auch das symbolischen Charakter.

Der ReichstagBei unserem Gang durch die Stadt bleibt eine eigenartige Stimmung zurück. Man sieht den Reichstag, der nur aus einer Fassade besteht und demnächst mit dem Deutschen Bundestag aufgefüllt wird, man sieht das Brandenburger Tor, läuft unter den berühmten Linden entlang, gelangt auf den Platz vor der Humboldtuniversität, wo ein nicht alltägliches und eigentümliches Denkmal an die Bücherverbrennung erinnert: unter dem Platz nämlich befindet sich ein leerer weißer Raum mit leeren weißen Bücherregalen.

Der Palast der RepublikDann folgen die golden glänzenden Fenster des Palastes der Republik, und vorbei am Roten Rathaus und am Fernsehturm erreicht man den Alexanderplatz.

Es regnete an jenem Tag, als wir diesen Weg liefen, und so legte sich eine eigenartige Melancholie über die Gebäude dieser Stadt. Und während man die Kilometer abschreitet, wird einem bewusst, dass man hier nicht so sehr die Gebäude verschiedener Zeiten sieht, sondern weit mehr die Gebäude unterschiedlicher Ideologien. Denn auch jene großen, massiven Gebäude stehen dort und erinnern an einen weiteren Zeitabschnitt, in der wiederum Berlin Hauptstadt des Reiches war.

So unterschiedlich all die Ideologien sind, die mit diesen Bauwerken verbunden sind, und die sich auch bemühten, andere Gebäude verschwinden zu lassen, so sehr wird einem bewusst, welchen Stellenwert die Architektur in der Geschichte einnimmt, aber auch, wie beliebig und austauschbar all dies ist: die Vorlieben und Abneigungen gegenüber Baustielen und Gebäuden.

Modell der Gebäude am Potsdamer PlatzUnd wenn dann am Potsdamer Platz, der nur eine gewaltig große Baustelle ist, in jener rot leuchtenden Info-Box die Bauvorhaben der Nazis als Größenwahnsinnig bezeichnet werden, so möchte man nur verwundert und sprachlos nach draußen zeigen.

Fast schon ist es beängstigend und fast schon wird der hohle Reichstag zum Sinnbild dieser Austauschbarkeit.

Baukräne am Potsdamer PlatzDie Machthaber der DDR ließen den Balkon des Schlosses stehen, weil er für sie geschichtlich bedeutend war, denn hier rief angeblich Liebknecht die Sozialistische Republik aus. Der Rest wurde weggerissen, da ideologisch unbedeutend. Heute verschiebt man sogar historische Gebäude, die man für Wert hält zu erhalten, aber dummerweise am falschen Ort stehen, und umgibt sie mit neuen, moderneren Wänden; so geschehen mit dem Kaisersaal.

Berlin ist ein riesiger Baukasten der Politik, und die neuen Bauklötze waren schon immer die besten.

© Text und Fotos 1996 by Wolfgang Tischer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


ZurückSeitenanfangWeiter