Wellers Wahre Worte am Café Tisch
Mai 2001 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


Gibt es ein Recht auf faule Zähne?
Schon wieder eine Schicksalsfrage, die Deutschland spaltet
Wilhelm Weller


Das Machtwort des Kanzlers, wonach es ein Recht auf faule Zähne nicht gibt, hat viele Gemüter in Wallung versetzt.
     Die einen pflichten bei: »Ja, endlich, einer musste das doch sagen. Für die Karies-Prophylaxe wird noch immer viel zu wenig getan. Man muss sich doch nur die jungen Leute heute anschauen.«
     Die anderen, vor allem auf Gewerkschaftsseite, protestieren und beklagen eine Stigmatisierung ohnehin marginalisierter und verarmter Randgruppen.

Oft kennen wir sie ja aus den eigenen Familien, die kleinen Drückeberger, die einfach nicht in die PRAXIS gehen wollen, auch wenn der Zahn nagt und die Zeit reif ist.
Schon die Vorstellung sirrender oder bohrender Arbeitsgeräusche bereitet ihnen Pein. Alles, was das Handwerkerherz liebt, verabscheuen sie:
     Bohrer, Fräsen, Zangen, Feilen, Klammern, Schrauben - und auch die betroffenen Frauen mögen nicht, was sie eigentlich mögen sollten, z.B. Mundspiegel und Mulltupfer.
     Es gibt auch die Hyperaktiven, die keine 10 Minuten ruhig auf einem Stuhl sitzen können, das Mindeste, was man von einem Büroangestellten erwarten muss.
     Und wieder andere, die nicht den Mund aufmachen können, völlig ungeeignet für die heute so wichtige Medien- und Kommunikationsbranche.
     Nicht zu vergessen die Autoritätshasser: Leute, die sich einfach nichts sagen lassen, und seien es banale Aufforderungen: »Sie können aufstehen!«, »Spucken Sie es aus!« ... Trägt die Autorität dann noch einen weißen Kittel, sehen sie ein rotes Tuch.
     Schließlich die Extremisten, die mit martialischen, ideologischen Konstrukten ihre Praxisscheu rechtfertigen.
     In der Praxis erwarte sie Folter oder gar Mord, behaupten sie. Ihr Kultfilm ist Marathon Man mit Dustin Hoffmann in der Rolle eines sympathischen Studenten, der sich mit letzter Kraft vor der Praxis, repräsentiert durch einen sadistischen ehemaligen KZ-Arzt, retten kann.
     Genau so sei sie, die Praxis - und um ihr zu entgehen, werden sie notfalls meilenweit laufen.

Zum Beispiel Frank S.(56), von seinen Freunden auch »Old blue teeth« genannt. Ein Mann, der einen lebenslangen Weg des Widerstands wählte, der Schmerzen in Kauf nahm und doch bis ans Ende konsequent bleiben will.
     Für das Kanzlerwort hat er nur Verachtung übrig:
Sekundärtugenden predige der, mit denen auch ein KZ geführt werden könne. Der kleine Schröder imitiere dabei doch nur den großen Schmidt.
     Immerhin, Lafontaine bot beiden Paroli. Und alle Achtung für Christa Müller, Oskars Frau. Die habe schon 1988 ein »Recht auf Faulheit« proklamiert, so der Titel einer von ihr als Juso-Funktionärin herausgegebenen Broschüre.
     Dabei sei das »Recht auf Faulheit« schon viel früher postuliert worden, etwa von Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue in seiner 1883 erschienen Schrift
»Le Droit à la Paresse«.
     Wenn Frank S. seine profunden historischen Kenntnisse über alle Aspekte der Faulheit und Fäulnis ausbreiten kann, strahlt sein Gesicht und schimmern die Zähne - in allen Farben.

»Panikmache, alles übertrieben!«, sagen die anderen, die Befürworter der Praxis. Möglichst früh hinein, empfehlen sie. Noch immer würden zu viele zu lange damit warten.
     Bereits das Kind sollte vorbereitet werden. Mit Doktor-Spiel und Spaß.
     »Spielen Sie es mit Ihren Kleinsten schon zu Hause durch, aber erzählen Sie keine Schauergeschichten«, so lautet eines der 10 üblichen Praxis-Gebote.
     Tatsächlich erwarte uns in der Praxis helles Licht, freundliche Menschen, ja, oft auch eine fast sakral klingende Hintergrundmusik - man müsse nur die Augen, den Mund und die Ohren öffnen.
     Die ganz Ängstlichen seien mit Gott getröstet:
     »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.« Ora et labora!

Auch Worte könnten enttabuisiert werden. Warum etwa nicht den 1. Mai zukünftig als »Tag der Praxis« benennen und begehen? Bei vielen würde man, ähnlich wie beim reformierten Ladenschlussgesetz, offene Türen einrennen.
     Eine weitere Idee des Modernisierers Schröder, der seine »Genossen« schon vor längerer Zeit terminologisch zu »Freunden« verwandelte - natürlich gegen den Widerstand orthodoxer Kräfte.

Der Kanzler verweist, ebenso wie in anderen von ihm angestoßenen Debatten, auf die Zwänge der Globalisierung:
     »Wir müssen uns doch vor anderen in der Welt sehen lassen können! Ansonsten brauchen wir den Mund im Konzert der Großen gar nicht erst aufzumachen.«
     Er selbst kann sich mit seiner jetzigen, jungen Frau Doris auf jeden Falle sehen lassen. Und den Mund kann sie ebenfalls aufmachen - bei so schönen, gesunden Zähnen!

Wilhelm Weller

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