23 Uhr, ich wollte gerade das Licht in meinem Zimmer ausknipsen, da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Satz von Nadine, Villingen-Schwenningen Klasse 8c Die Geschichte zum Satz: "Komm!" sagte jemand. "Wir machen eine Nachtwanderung." "Wie bitte?" nörgelte ich. "Nun komm schon." Ich ging mit. Die Lichtfinger des Leuchtturms kreisten über die nachtschwarze Insel und erhellten die kahlen Bäume, geprügelte, vom Wind zerzauste Gestalten. Für Augenblicke standen sie da wie Wesen aus düsteren Träumen, zäher als all ihre Verwandten auf dem Festland. Sie krallten sich in den sandigen Untergrund, sie kämpften mit den Stürmen, die jeden Herbst über die Insel jagten, sie gaben nicht auf. Dann wurden sie wieder vom Dunkel verschluckt. Manchmal kreuzten schreiende Nachtvögel das bleiche Licht, manchmal wehte fetzenweise Nebel hindurch. Nadine kannte das. Sie wusste, dass einem unheimlich werden konnte, nachts in den Dünen, sie wusste das, weil die Insel ihr zweites Zuhause war und weil sie mit ihren Eltern schon oft Nachtwanderungen gemacht hatte. Sie wusste natürlich auch, dass der Grusel vorüberging und dass es ganz und gar ungefährlich war. Aber sie wusste nicht, wie es sein würde, wenn sie allein unterwegs wäre, nämlich sie und ein paar andere Kinder aus anderen Ferienhäusern: Laura, Maike, Anna, Jogi, Jan und Max. Sie hatten lange gezögert, allein zu gehen, und das aus gutem Grund. Der Grund hieß Rixt van het Oerd, ein Spuk, der seit zweihundert Jahren die Insel heimsuchte. In windigen Nächten, in Nächten, in denen die Nebelbänke sich in Dünentäler hinabsenkten und alles verschluckten, in Nächten genau wie dieser ging die alte Rixt um. (aus: Hermann Mensing "Die Nachtwanderung" in: "Grauen, Grusel & Co." Anthologie - Wien, Ueberreuter 2001 ISBN 3-8000-2767-4) |