»Es war eine Zeit, in der das Zeitunglesen Spaß machte.
Und es war die Zeit, in der Bernhard Lewien sein Frau verlor.«
Der Mann auf dem Bürgersteig

von Holger Probst

ES WAR EINE ZEIT, in der das Zeitunglesen Spaß machte. Eine Zeit der großen politischen Umwälzungen im Osten Deutschlands. Es war eine Zeit der Veränderung. Und es war die Zeit, in der Bernhard Lewien sein Frau verlor.
    Der vierzigste Jahrestag der DDR war abgefackelt, das letzte Fest gefeiert. Die alten Kaiser gingen und die neuen kamen. Ein alter Mann wurde gestürzt, und ein etwas jüngerer versuchte noch einmal zu retten, was nicht mehr zu retten war. Und Inge Lewien starb, 28 Jahre alt, bei einem Autounfall.

Bernhard hatte sich zurückgezogen.
    Drei Wochen lang sah und hörte niemand etwas von ihm. Er hatte Urlaub genommen, um zu trauern. Ohne Zeitung, Radio oder Fernseher lebte er in seinem Wochenendhaus bei Berlin wie ein Eremit. Die Nachbarn sahen ihn nur, wenn er im Dorfkonsum Lebensmittel holte. Er war abgemagert, blass und unrasiert und sah aus, als wollte er in dem Wochenendhaus bleiben, bis ihn selbst der Tot holte. Doch die alten Leute im Dorf waren zuversichtlich. Nach einer Zeit der Trauer, so sagten sie, kommt wieder eine Zeit des Lebens.
    Und so kam der Tag des 19. Novembers. Sonntag.

Das Autoradio war kaputt. Aber das machte nichts. Es passte zu seiner Stimmung. Der alte 311er Wartburg surrte behände über das Ostberliner Adlergestell und schien sich mehr darüber zu freuen, bald wieder zu Haus zu sein, als sein Besitzer.
    Es war ein heller Sonnentag. In dem Wagen wurde es, trotz der späten Jahreszeit, unangenehm heiß, sodass Bernhard die Fensterscheibe etwas herunter drehte. Das monotone Motorgeräusch wirkte einschläfernd. Für Bernhards Gedanken Gelegenheit genug, zu besseren Zeiten zurückzukehren. Den Zeiten mit Inge.
    Doch Bernhard wollte sich nicht erinnern. Nicht mehr. Vorerst nicht.
    Er drehte die Scheibe noch weiter herunter. Der kühle Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und ließ die traurigen Erinnerungen wieder etwas verblassen.
    Bernhard war so gut wie zu Hause, als er in der Baumschulenstraße ungewöhnlich lange an einer Ampel stehen musste.
    »Sogar die Ampelperioden haben sich verändert«, dachte er träge und merkte, wie durch das offene Fenster lautes Stimmengewirr und Gelächter in den Wagen drangen. Ein riesiger Mühlstein legte sich auf seine Brust. Lachen war etwas, das nicht mehr in seine Welt passte.
    Dabei hatte er an jenem Tag gelacht wie ein Besessener.

»Kennst du den…«, hatte Alf - sein Freund und Arbeitskollege - gefragt, und noch bevor Bernhard etwas erwidern konnte, erzählte er den Witz von dem Rocker und der Nonne. Bernhard schüttelte sich aus vor Lachen, japste wie ein junger Hund und rang nach Luft. Tränen traten ihm in die Augen.
    »Und den von…«, wollte Alf weitererzählen, hielt aber inne, weil plötzlich ein Volkspolizist neben ihnen stand.
    »Bernhard Lewien?« fragte der Uniformierte und sah sie beide an.
    »Das bin ich«, sagte Bernhard vorsichtig. Das Gesicht des Polizisten ließ nichts Gutes erahnen.
    »Fährt jemand in ihrer Familie einen weißen Trabant Kombi mit dem amtlichen Kennzeichen IP 43-46?«
    Bernhard schluckte. Er spürte auf einmal die Blicke seines Kollegen im Rücken. Alf wusste, dass Inge einen weißen Kombi fuhr. Und Alf, der sonst immer und überall dazwischen redete, schwieg.
    »Meine… meine Frau fährt das Auto.«
    Das Gesicht des Polizisten verdüsterte sich. Vielleicht hatte er gehofft, dass er ihren Ehemann hier nicht finden würde. Dass ihm das, was er jetzt tun musste, erspart bliebe. Seine Augen wurden trübe, und leise sagte er: »Das Fahrzeug wurde heute in einen Unfall verwickelt.«
    Bernhard durchzuckte eine Welle der Übelkeit. Er wollte Luft holen, aber irgendetwas presste seine Brust zusammen. Alfs Blicke brannten sich durch seinen Rücken.
    »Ist ihr etwas, ich meine, ist sie verletzt..?« Bernhard traute sich nicht, seine schlimmsten Gedanken auszusprechen, aus Angst, sie könnten allein durch das Aussprechen zur Wahrheit werden.
    Der Volkspolizist wirkte betreten. Man sah ihm an, dass er nicht wusste, wie er darauf antworten sollte. Dann ging ein Ruck durch ihn, und er sagte kurz und kalt: »Ich möchte Sie bitten, mit mir zu kommen, und Ihre Frau zu identifizieren.«
    Bernhard musste sich an der Drehbank festhalten. Identifizieren!
    Die Halle schien sich zu drehen. Kalter Schweiß trat auf Bernhards Stirn. Er spürte die Hand von Alf auf seiner Schulter, und sie war in diesem Moment die einzige Verbindung zur Wirklichkeit.
    Nein, es konnte nicht Inge sein! Nicht Inge!
    Alf begleitete ihn ins Krankenhaus. Alf war es, der ihn stützte, als er die Treppe zum Leichenkeller hinabging. Und Alf war es, der seinen Kopf hielt, als er den Weinkrampf bekam.
    Bernhard wusste nicht, wie lange er auf dem Stuhl gesessen hatte, der nur wenige Meter von dem Raum entfernt stand, in dem Inge lag. Es war auch egal. Er war ihr nahe. In diesem Moment war das alles, was zählte. Langsam legte sich ein Nebel über ihn. Ein wohltuender Nebel. Ein verborgener Nebel. Einer, von dem auch Alf nichts ahnte. Einer, der verhinderte, dass Bernhard in diesen Stunden den Verstand verlor. Der Nebel ließ alle Schmerzen einschlafen und die Fragen nach dem WARUM von ihm abprallen - bis zum nächsten Morgen. Dem Morgen, an dem er aufwachte und das Bett neben ihm leer war…

Hinter ihm hupte es. Die Ampel stand auf grün. Bernhard schrak hoch und fuhr an, dass die Reifen durchdrehten. Kurz darauf bog er in eine Seitenstraße und stellte den Wagen ab.
    Eigentlich war er daheim, aber er konnte sich nicht überwinden, jetzt in die leere Wohnung zu gehen. Unentschlossen sah er sich um und bemerkte wieder das Stimmengewirr, das von einer großen Menschenansammlung zu kommen schien. Bernhard ging ein paar Schritte auf die Hauptstraße zu. Es waren ungewöhnlich viele Menschen auf der Straße. Regelrechte Menschenmassen zogen die Baumschulenstraße entlang. Was war hier los? Ein Volksfest?
    Doch dort hinten gab es nur einen Grenzübergang nach Westberlin, und es wäre etwas ganz Neues, wenn da Volksfeste stattfinden würden.
    Er entschloss sich, den Menschen zu folgen. Er wollte wissen, wohin sie gingen. Außerdem würde ihm etwas Abwechslung ganz gut tun.
    Bernhard ließ sich mittreiben und fing an, das Bad in der Menge zu genießen. Neben ihm spazierte ein junges Pärchen mit seiner etwa fünf Jahre alten Tochter. »Annette!« rief die Mutter, und ihre Stimme war so wunderbar hell und klar. »Lauf nicht so weit vor!«
    Doch der kleine Irrwisch ließ sich davon nicht beeindrucken.
    »Lass sie nur«, sagte der Vater. Er legte seiner Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Wenn es nachher voll wird, nehmen wir sie an die Hand.«
    »Worauf du deinen Hintern verwetten kannst, Klaus. Wenn ich daran denke, was da letztes Wochenende für ein Gedränge auf dem Kuhdamm war, würde ich am liebsten umkehren.«
    Klaus lachte, rief dann aber seine Tochter mit gebieterischer Stimme zurück, um seine Frau etwas zu beruhigen.
    »Kuhdamm«, nahm Bernhard fast beiläufig zur Kenntnis, »Westberliner.«
    Dann hörte er weiter vorne die helle Stimme eines kleinen Jungen, der seinen Vater nervte, wann er denn wieder mit dem Doppelstockbus fahren könne.
    Bernhards Gehirn arbeitete mechanisch: Doppelstockbusse gab es hier nicht. Soetwas fuhr nur…
    Mit einem Mal wurde er misstrauisch.
    Seine Schritte wurden langsamer. Wo war er hier eigentlich hineingeraten? Jetzt war es nahezu sicher: der Zug ging tatsächlich zum Grenzübergang. Sollten das hier alles Westdeutsche sein? Bernhard schüttelte ungläubig den Kopf.
    Jetzt bogen sie in die Sonnenallee ein.
    Und da war er - der Grenzübergang. Und niemand hielt die Menschen zurück!
    Die Grenzer standen am Durchlass, als ginge sie das alles nichts an. Ja, sie sahen sich nicht einmal richtig die Ausweise an. Die meisten winkten einfach durch!
    Mit erschütternder Klarheit sah Bernhard plötzlich wieder die Leichenhalle vor seinen Augen. Die Welt brach auseinander. Mit Inge hatte es angefangen, und mit dieser seltsamen Mauer ging es weiter. Nichts war mehr wie es war. Nichts war Realität. Alles nur noch ein Traum.
    Und wenn es nur ein Traum war…
    Seine Füße wollten zaghaft weitergehen. Weiter mit den Menschen in eine fremde Welt. Es zog sie wie ein Magnet.
    Doch sein Verstand rebellierte.
    Er scherte aus, trat aus dem Treiben der Massen heraus. Der Strom zog weiter. Drückte sich durch das schmale Tor, weitete sich dahinter und zerfloß in den Westteil der Stadt.
    Bernhard stand vor der offenen Grenze und wusste nicht, ob er träumte oder wach war, ob er seinem Verstand vertrauen konnte, oder ob alles nur noch eine krankhafte Illusion war.
    »Ich kann es auch noch nicht so richtig glauben«, sagte plötzlich eine dunkle Stimme.
    Sie gehörte dem alten Mann, der zwei Schritte neben ihm stand und versonnen nach »drüben« blickte. Bernhard meinte für einen Moment, Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen.
    »Was.. was geht hier..«, stotterte Bernhard, und seine eigene Stimme ließ ihn wieder etwas in die Wirklichkeit zurückfinden. Er holte tief Luft, um sich zu sammeln. »Warum dürfen plötzlich alle da rüber? Was ist… ist passiert?«
    Der Alte sah ihn verwundert an. »Sag mal, wo kommst du denn her?«
    »Ich…«, Bernhard atmete abermals tief durch. Irgendetwas in ihm sträubte sich verbissen, wieder mit Menschen zu reden, fremde Worte und Gedanken in die gut bewachten Hallen seiner Trauer eindringen zu lassen. »Ich war einige Zeit nicht hier.«
    »Verreist, was? Sibirien oder so. Mensch, neunter November, sagt dir das nichts?«
    Bernhard zuckte mit den Schultern. Zeit hatte in den letzten Wochen keine Rolle gespielt.
    Der Alte fing an zu lachen. »Er weiß es nicht. Er weiß nichts davon! Er weiß es nicht!« Er schrie wie wild, lachte wieder und verschluckte sich, bis ihm das Wasser in die Augen schoss.
    Schließlich packte der Alte ihn einfach am Mantel und stieß ihn mit unerwarteter Kraft zurück in den Menschenstrom. »Geh, sieh's dir an, sieh's dir an!« schrie er ihm hinterher und lachte und lachte und lachte…
    Bernhard hatte keine Chance umzukehren. Er war schon in der Absperrung und wurde einfach mitgerissen. Er versuchte in dem Strudel der Lebenslust, der Tollheit und des Wahnsinns zu versinken, versuchte es ehrlich - und schaffte es nicht. Und noch bevor er genau wusste, wie ihm geschah, stand er auf dem Boden Westberlins. Einfach so, als wäre es das Normalste der Welt.
    Dann blieb er stehen. Der Strom teilte sich hinter ihm, floss links und rechts vorbei. Irgendjemand klopfte ihm auf die Schulter. Er merkte es kaum.
    Er war unfähig zu begreifen. Vor allem war er unfähig, es zu fühlen. Da waren einzig die Gedanken an Inge und mit ihnen das dunkle, abgrundtiefe Loch, das ihr Verlust in ihm hinterlassen hatte. Was nutzte der großartige Augenblick, wenn er ihn nicht mit ihr teilen konnte. Was nutzte es, wenn er ihr jetzt nicht die Tränen trocknen konnte. Sie hatte immer nah am Wasser gebaut, wie man so sagte. Und sie hätte jetzt geweint. Mit Sicherheit hätte sie geweint. Vor Rührung, vor Ergriffenheit und vielleicht vor Glück. Und er hätte sie in die Arme nehmen und ihre Tränen wegküssen können. Hätte…
    »Echt stark, eeh, wa?« Ein Halbstarker bot ihm einen Schluck aus einer offenen Sektflasche an. Bernhard schüttelte wortlos den Kopf und merkte, dass er den jungen Mann nur verschwommen sah.
    »Brauchst doch nicht gleich zu heulen, Alter. Aber hast schon recht, wa.« Der Mann rang um sein Gleichgewicht, und das Mädchen an seiner Seite kicherte albern.
    »Hier nimm dit«, lallte der Halbstarke und drückte Bernhard die Flasche in die Hand. Dann fasste er mit beiden Händen sein Mädchen an der Taille, zog es an sich und küsste es mit einem lauten Schmatzer in die Halsgrube. Das Mädchen warf den Kopf zurück und lachte kreischend.
    Und Bernhard tat es weh wie nie zuvor.
    Er merkte nicht, wie ihm die Flasche aus der Hand glitt, und er sah nicht die verwunderten Blicke des jungen Pärchens.
    Der Jubel um ihn herum schien ihn zu verhöhnen, und es gab niemanden, der das verstand.
    Bernhard strauchelte vorwärts. Wie jemand, der merkte, dass er sich jeden Moment übergeben musste, fühlte er, dass ihn seine Trauer und seine Schmerzen mit aller Macht überwältigten.
    Und er konnte nichts dagegen tun. Er klammerte sich an eine Straßenlaterne wie ein Betrunkener, der endlich einen festen Halt gefunden hatte. Langsam glitt er tiefer und tiefer, bis er schließlich auf dem Bürgersteig saß.
    Dann schlug es wie eine Welle über ihm zusammen. Inmitten all der Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und des Übermuts fing er an zu weinen. Seine Schultern zuckten heftig, und aus seinem Mund tropfte Speichel, der sich in einem Rinnsal mit seinen Tränen vereinte. Er gab sich keine Mühe, die Hände vor das Gesicht zu halten. Er brauchte seine Verzweiflung vor niemandem zu verbergen. Er war isoliert von seiner Umwelt - und seine Umwelt von ihm.

60 Meter weiter riss ein Mann den Arm hoch und winkte einen anderen zu sich heran. Der zweite Mann trug eine Kamera mit der Aufschrift »Berliner Abendschau« auf der Schulter. Die beiden diskutierten einen Moment, dann drehte sich der Kameramann in Bernhards Richtung. Der Zoom brachte den weinenden Mann auf dem Bürgersteig näher heran. Das rote Aufnahmelicht leuchtete…

»Auch am zweiten Wochenende nach dem Fall der Mauer kam es in unserer Stadt zu bewegenden Szenen, wie hier am Grenzübergang Sonnenallee.
    Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, diskutierten und lachten miteinander und wurden überwältigt von den Gefühlen, die diese Zeit in uns allen wachruft.
    Und so mancher schämte sich nicht seiner Tränen. Der Tränen des Glücks und der Erleichterung, Tränen der Hoffnung und des Neubeginns.
    So wie jener Mann dort auf dem Bürgersteig, dessen Bild unser Kameramann zufällig eingefangen hat…«

 

© des Textes 1997 by Holger Probst. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.
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