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Buchmesseimpressionen 2021 von Barbara Fellgiebel: »Rückverbindung in riesigen Räumen«

Die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2021: Rückverbindung - aber womit?
Die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2021: Rückverbindung in riesigen Räumen – aber womit?

»In diesem Jahr ist alles anders«, schrieb Barbara Fellgiebel bereits 2020, als die Frankfurter Buchmesse ausschließlich digital stattfand. Das tat sie in diesem Jahr nicht. Sie fand hybrid statt – vor Ort und digital. Einige waren vor Ort in breiten Gängen. Barbara Fellgiebel über ihre Messe-Eindrücke 2021.

Montag, 18. Oktober 2021

Meine Buchmesse fängt wie immer mit dem Verleih des #dbp, des Deutschen Buchpreises an.

Seit 17 Jahren. Nach erheblichen Akkreditierungsschwierigkeiten im Vorfeld werde ich schließlich doch zur dbp-Verleihung eingeladen. Zwar nicht in den ehrwürdigen Kaisersaal, aber in das Kreuzgewölbe darunter, wo große Bildschirme die Live-Übertragung ermöglichen. Mit der beeinträchtigten Tonqualität hat niemand gerechnet, aber auch daran gewöhnt man sich und fühlt sich nach wenigen Minuten privilegiert, denn während die Live-Teilnehmer:innen trocken und unverköstigt an der Verleihung teilnehmen, wird uns sofort Kulinarisches kredenzt. Vom Feinsten. Ich lerne Petra Kammann, die Herausgeberin von feuilletonfrankfurt.de kennen, und es entspannt sich ein inspirierender Abend in bester ach so vermisster Buchmesse-Manier.

Übertragen in den Saal darunter: Mithu M. Sanyal
Übertragen in den Saal darunter: Mithu M. Sanyal

Cecile Schortmann in leuchtend blauem Kleid versprüht eine angenehme Leichtigkeit und führt souverän durch die Veranstaltung. Am Ende wird sie charmant versichern, dass ihre Kleiderwahl kein Hinweis auf den Gewinner-Roman war. Sie bildet die große Ausnahme gegenüber den ach so grau-schwarz, in Männeranzügen gewandeten wichtigen Frauen: Kulturdezernentin Ina Hartwig, Börsenvereinvorsteherin Karin Schmidt-Friedrichs und schließlich die Siegerin Antje Rávik Strubel.

Börsenvereinvorsteherin Karin Schmidt-Friedrichs
Börsenvereinvorsteherin Karin Schmidt-Friedrichs

Dagegen haben die Männer eher Mut zu Weiblichkeit: So tritt Jurysprecher Knut Cordsen mit rosa Halstuch und Thomas Kunst mit Haarband auf.

Antje Rávik Strubel (mein Tipp im Vorfeld) erhält die begehrte Auszeichnung für ihre »Blaue Frau«, an der sie acht Jahre geschrieben hat. Ein vielschichtiger Roman, der, ganz knapp gesagt, von Sprache und Vergewaltigung handelt. An sie ist leider nicht heranzukommen, dafür gibt es nette Gespräche mit den »Verlierern«, die wie immer mit 2.500 Euro getröstet werden, während die Siegerin 25.000 Euro erhält. In diesem Jahr gibt es nur »gute Verlierer«, das war vor ein paar Jahren noch anders, als eine nicht gewinnende Shortgelistete in unkontrolliertes Weinen ausbrach, mehrere enttäuschte Männer wutschnaubend den Raum verließen.

Monika Helfer und Michael Köhlmeier beim Deutschen Buchpreis 2021
Monika Helfer und Michael Köhlmeier beim Deutschen Buchpreis 2021

Monika Helfer ist gelassen, freut sich über die ermunternden und lobenden Worte, die auf sie einprasseln, sowie die liebevolle Rückenstärkung ihres Mannes Michael Köhlmeier, der unverhohlen stolz auf sie ist. Für mich sind die beiden das österreichische Pendant zu Siri Hustvedt und Paul Auster.

Die Entdeckung schlechthin ist Mithu Sanyal, die mit Identitti einen Roman geschrieben hat, der außer Klimawandel alle aktuellen Themenschwerpunkte berührt: Identität, Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit.

Nach der Preisverleihung befrage ich einen Herrn, der eindeutig zur Kategorie »Alter weißer Mann« gehört, was er von der Juryentscheidung hält. O-Ton: »Der Erzählfluss war bei ihr und Norbert Gstrein zweifellos am besten. Aber ich hätte den Preis an Gstrein gegeben.« So funktionieren Männernetzwerke.

Dienstag, 19. Oktober 2021

Wie gut, dass ich mehr als eine Stunde vor Beginn der Eröffnungspressekonferenz am Cityeingang der Buchmesse bin. Die für bereits Schlange stehende Journalisten gehaltene Gruppe will zum Impfzentrum, das sich ebenfalls auf dem Messegelände befindet. Ich begebe mich in Richtung Halle 5, die es zurzeit nicht gibt – sie wird aufgestockt und total erneuert.

Von dort werde ich zurück zum Cityeingang geschickt. Von dort wieder zu Halle 5 – doch da platzt mir der nicht vorhandene Kragen, und ich mache die junge Dame darauf aufmerksam, dass ich kein PingPong-Ball bin. Widerstrebend bringt sie in Erfahrung: Ach ja, hinter der Impfschlange sei ein kleiner nicht markierter Eingang für die Presse. Und jetzt beginnt die an DDR-Zeiten erinnernde penible Kontrolle: Pass oder Personalausweis, Impfnachweis oder Negativtest nicht älter als … und tagesaktueller Presseausweis. Den gibt es aber erst ab Mittwoch. Ach ja, dann der normale Presseausweis. Wie Menschen ohne letzteren eingelassen werden, weiß ich nicht. Das Ganze mit Maske natürlich. Maskenzwang herrscht überall. Wenn man – wie ich – aus dem maskenfreiwilligen Skandinavien kommt, dauert es ein paar Tage, bis man sich diesem Zwangsdasein angepasst hat.

Gruselige Leere in gruseliger Größe im gruseligen Dunkel: die ARD-Bühne in der Festhalle

Die früher licht und luftig aufgebaute großzügige ARD-Bühne hat ihren angestammten, leicht zugänglichen Platz in Halle 1 unter dem Gastlandpavillon verlassen müssen und ist nun hermetisch abgeriegelt im innersten Verlies der Festhalle untergebracht. In absoluter Finsternis. Vor 60 Jahren gastierte an dieser Stelle »Holiday On Ice«. Aber besser beleuchtet.

Ich hätte nicht gedacht, dass mich eine dunkle Festhalle deprimieren könnte. Die penibel grün markierten, blockierten Stühle, d. h. ein freier Stuhl, zwei blockierte, ein freier Stuhl, zwei blockierte …, machen die Sache nicht besser. Der große Yogi-Tee-Stand deutet darauf hin, dass das alte geliebte Lesezelt auf der Agora natürlich nicht da sein wird. Warum eigentlich nicht? Auch da kann man auf Abstand achten.

Gegenüber vom Yogi-Tee ist ein großer Büchertisch aufgebaut, von dem man sofort Bücher käuflich erwerben kann. War früher erst am Wochenende möglich. Man erwirbt aber nicht, weil man vor lauter Dunkelheit gar nicht sehen kann, um welche Bücher es sich handelt.

Die immerhin über 100 Journalisten verlieren sich total in dieser riesigen Halle.

Unter dem Motto »re.connect – welcome back« steht die Messe 2021 und will mutig und tapfer ein Zeichen setzen. Von Wiedersehensfreude satt ist die Rede und dass Corona zu 25% mehr lesenden Menschen geführt habe, wobei die Zahlen für 10- bis 19-Jährige bei 34% und für 20- bis 32-Jährige bei 32% liegen. Ich staune, dass Neustart Kultur nicht nur Autorinnenlesungen und den Buchhandel sondern auch die Buchmesse finanziell unterstützt.

Dann wird das Projekt »Wie, wofür, ohne was, wovon, mit wem, wo, warum wollen wir leben?« Vorgestellt: acht sehr unterschiedliche Menschen kreuzten acht Stunden auf einem Boot auf dem Main und kamen zu dem Schluss, dass Meinungsfreiheit das höchste Gut ist. »We agree to disagree« – Dissens muss nicht notgedrungen zu Aggression führen.

Ich hatte mir vorgenommen, nicht mit »Normalmaß« bzw. »Früher war das aber …« zu messen, doch es ist schon auffällig und bedrückend, wenn eine Pressekonferenz 10 Minuten vor der Zeit aus Mangel an gestellten Fragen beendet wird. Das hat’s noch nie gegeben. Ich dachte, nur mir seien die Fragen ausgegangen, aber diese unwillkommene Verstummung scheint einige Kolleg:innen befallen zu haben. Sch… Corona, das uns mehr zugesetzt hat, als uns bisher bewusst war.

Missverstehen Sie mich recht: Ich bewundere Messedirektor Jürgen Boos und sein Team, bin froh und dankbar, dass er diese Messe trotz dieser wahnsinns Hygieneauflagen und Risiken veranstaltet hat und kritisiere nicht das Organisationsteam, das hervorragende Arbeit geleistet hat. Ich konstatiere nur und versuche zu erklären, warum es mir verdammt schwerfällt, dieser Messe mit gewohnter satirischer Bissigkeit und humorvoller Leichtigkeit zu begegnen.

Nach der Pressekonferenz ist der Rundgang im Gastpavillon angesagt. Canada erwartet uns – ebenfalls kolossal dunkel, aber das kennen wir von früheren Gastländern.

»Herrlich willkommen«, sagt die kanadische Kulturministerin und erzählt von dem vor acht Jahren begonnenen Projekt, Deutschland die kanadische Vielfalt mit Hilfe von fünf verschiedenen Bereichen zu zeigen. Der Gastlandauftritt hat den Titel »Singular Plurality – Singulier Pluriel«. Immer wieder mussten Änderungen vorgenommen werden. Es war, als wenn man das Flugzeug baut, während man fliegt.

Bänder, Buchstaben und kaum Bücher: Kanada-Pavillon auf der Buchmesse
Bänder, Buchstaben und kaum Bücher: Kanada-Pavillon auf der Buchmesse

Die farbigen Wellenbänder auf denen unablässig weiße Buchstaben herumpurzeln, bilden das Kernstück des Pavillons. Auch die virtuell erscheinenden Autor:innen auf den riesigen Stellwänden erinnern etwas an den nach wie vor unerreichten Gastlandauftritt Islands. Rührend die Bemühungen des spanischstämmigen Architekten dieses Auftritts, Unklares zu erläutern. Ja, es wird dann verständlicher, aber ich halte es mit bildenden Künstlern, die sagen: Ein Gemälde, das mir erklärt werden muss, taugt nichts.

Wie in schwedischen Krankenhäusern folgt man einer roten Linie auf dem Boden und kommt zu verschiedenen Bereichen. Und sucht immer verzweifelter Bücher. Auch nur ein Buch?

Bis man hinter die Stellwände guckt und, ähnlich wie es bei Belgien/Niederlande war, die spärlich bestückten Bücherregale auf den Außenwänden findet.

Ich wandere durch die Hallen, in denen die Stände für den morgigen ersten Messetag fertiggemacht werden und gewöhne mich an die riesigen Abstände. Das Pressezentrum ist an seinen Ursprungsplatz in Halle 4.2 zurückverlegt worden und – hält aus Hygienegründen nicht einen einzigen stationären Computer bereit! Vor zwei Jahren waren es ca. 20! Da stehe ich ganz schön blöd und ratlos mit meinem USB-Stick. Willkommen 2021, wo man offensichtlich immer ein eigenes Mobilgerät dabeihaben muss.

Mit wachsendem Unbehagen sehe ich dem morgigen ersten Messetag entgegen.

Mittwoch, 20. Oktober 2021

Der Andrang zum Einlass aufs Gelände erinnert an die Warteschlangen vor Flughafen-Sicherheitskontrollen. Von Abstand keine Spur. Aber Masken, Masken, Masken wohin das Auge blickt. Und wehe, man lüftet die Maske mal eben, um Luft zu holen oder die beschlagenen Brillengläser zu reinigen – sofort taucht ein kleiner Wichtigtuer mit Buchmessebändchen auf und verlangt das sofortige Zurechtrücken der verhassten Maske. Jawoll!

Gardinen vor dem Blauen Sofa
Gardinen vor dem Blauen Sofa

Das Blaue Sofa ist – wie vor zwei Jahren – in Halle 3 mit der 3sat-Bühne verschmolzen und von dünnen bedruckten Gardinen von der Außenwelt abgeschirmt. Zwischen den Gardinenbahnen häufen sich die Menschen, die keinen Platz auf den knapp 30 Sitzwürfeln im Bereich vor der Bühne gefunden haben. Seitlich rechts und links stehen wieder Trauben von Menschen in abstandslosem Gedränge.

Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel auf dem Blauen Sofa
Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel auf dem Blauen Sofa

Antje Rávik Strubel spricht in druckreifen klaren Sätzen über die Entstehung von »Blaue Frau« und meint, sie schreibe, um über Dinge nachzudenken. Sätze berühren und klingen nach. Die Hauptperson ihres Romans sei nicht Mann und nicht Frau, wenn man sich durch die Sprache tragen lasse.

Erinnern ist unabschaltbar, sagt der wunderbare Moderator René Aguigah im Gespräch mit Per Leo, der »Tränen ohne Trauer« geschrieben hat, ein Buch, das die deutsche Erinnerungskultur kritisiert und Änderung fordert, damit das Erinnerte nicht vergessen wird.

Daniela Krien ist angesagt, wird aber – wie viele andere – erklärungslos ersetzt. Ob sie sich auch der Protestgruppe angeschlossen hat, die ihren Auftritt beim Blauen Sofa für nicht ausreichend gesichert hält, weil in unmittelbarer Nähe eines sogenannten »rechten Verlages«? Es macht mich wütend, dass dieser per se kaum ins Auge fallende Verlag auf diese Weise viel unangemessene Aufmerksamkeit bekommt.

Der Ersatz ist Arno Strobel, der mit »Sharing« einen neuen Bestseller geschrieben hat, den 25. Er freut sich riesig, auf diese Weise unerwartet auf dem Blauen Sofa zu landen. Michael Sahr interviewt ihn entspannt und locker. Strobel bedient sich einer empfehlenswerten Recherchetechnik: er lässt jedes Buch in einer anderen deutschen Stadt spielen, nimmt Kontakt mit der Pressestelle der jeweiligen Kripo auf und wird überall mit offenen Armen empfangen. Seit 7 Jahren ist er Profischriftsteller und hat nie bereut, seinen sicheren Job als Informatiker bei einer Bank aufgegeben zu haben.

Der nicht nur wegen des Tonfalls an Frank Schätzing erinnernde Strobel rät: Lass nicht eine Figur agieren, sondern sei diese Figur. Dann funktioniert es.

Eva Menasse im Gespräch mit Andreas Platthaus
Eva Menasse im Gespräch mit Andreas Platthaus

Weiter zu Eva Menasse die am FAZ-Stand von Andreas Platthaus zu ihrem Roman »Dunkelblum« befragt wird. Dunkelblum steht für Rechnitz, der Enddarm Europas an Schengens Ostgrenze. Dort geschah im März 1945 im Rahmen eines Festes ein ungeheuerliches Massaker, bei dem 200 jüdische Zwangsarbeiter getötet wurden. Von den Leichen fehlt bis heute jede Spur. Menasse kommt schnell auf die eigene Befindlichkeit zu sprechen und erzählt offenherzig von ihrem Dilemma zwischen pfeilartig-sachlich geschultem Journalismusschreiben und »rumeierndem« literarischen Schreiben. Sie spricht von der Lebenszeitdesillusionierung und verrät, warum sie von österreichischen Kritikern nicht ernst genommen werde: Anders als Jelinek und Bernhard greifst du die Österreicher nicht an, hat ihr ein Freund erklärt.

Kleine Mittagsstärkung, nicht am liebgewonnenen Flammkuchenstand – auch der glänzt mit Abwesenheit –, sondern bei dünner, aber leckerer Kürbissuppe. Hier treffen wir Alexander Thieme, einen jungen, in England lebenden Lizenzmanager für Spiele. Ein europäisches Vergleichsgespräch zwischen Deutschland, England und Schweden entspinnt sich und beweist: Das ist ein Teil Bereicherung, der nur bei Live-Events entsteht. Und noch etwas Positives: Es gibt keine Schlangen vor den Toiletten!

Auf der ARD-Bühne äußert sich Petra Gerster zum Thema Gendern und erklärt, wie es gehen kann, ohne unerträglich holprig zu sein. Als meine Kollegin und ich, die aus einem Haushalt kommen, unerbittlich auseinandergesetzt werden, meint Beate: alte weiße Männer können manchmal sehr jung sein. Der Satz hat was.

Der ZEIT-Stand fehlt. Eine Buchmesse ohne die ZEIT!? Eigentlich undenkbar.

Unter dem Titel »Geil« wird ein Gespräch der besonderen Art angekündigt: Michel Abdollahi trifft Tijen Onaran – nachzuhören in der ARD-Mediathek.

Dann kommt Sasha Marianna Salzmann, die vor drei Jahren mit ihrem Debutroman »Außer sich« sofort die Shortlist des dbp erklommen hatte. Dieses Jahr gelangte ihr neuer Roman »Im Leben muss alles herrlich sein« auf die Longlist. Er handelt von vier verschiedenen russischen Frauen.

Mittwochabend gelingt mir der Zugang zu einer Open-Books-Veranstaltung. Ich sage gelingt, weil man sich im Vorfeld überall anmelden muss, dabei irritierend viel Zeit verliert und manchmal vergeblich auf eine Zusage wartet.

Ladies Night mit Bärbel Schäfer. Im 25. Stock eines Hotels in Frankfurt stellt sie vier Autorinnen des Fischer Verlags mit ihren Neuerscheinungen vor. Es macht Spaß, den sehr unterschiedlichen Autorinnen Barbara Kunrath, Lisa Keil, Stefanie Schuster und Christiane Wünsche zuzuhören. Schön, wenn etwas wie chick lit anmutende Literatur unerwartete Tiefe zeigt.

Donnerstag, 21. Oktober 2021

Erstaunlich, wie schnell man sich an vieles gewöhnt. So läuft der erschwerte Einlass heute bedeutend schneller ab, weil alle bereits 50 Meter vor der Kontrolle sämtliche erforderlichen Nachweise, Ausweise und Pässe gezückt haben.

Kaum einer da bei Kanada: Blick in die internationale Halle

Wieder geht’s in die Höhle des Unbehagens, will sagen in die Festhalle zur Pressekonferenz des Gastlands 2022: Spanien. Dieser Auftritt steht unter dem Motto »Creatividad desbordante« was unglücklich mit »sprühende Kreativität« übersetzt worden ist. Besser wäre »überbordende Kreativität« gewesen, meint nicht nur Jürgen Boos. Eigentlich sollte Spanien in diesem Jahr Gastland sein, genau 30 Jahre nach dem ersten Buchmesse-Auftritt, aber das vereitelte Corona.

Der spanische Minister für Kultur und Sport erklärt: »Wer nicht versucht, lebt nicht. Und den Weg, den man beschreitet, erschafft man sich durchs Laufen.« Seit 2019 habe Spanien 2 Millionen Euro in Übersetzungen investiert und wolle nächstes Jahr mit 70 Autorinnen präsent sein. In diesem Jahr sind Rosa Monteiro, Elvira Lindo, Najat el Hachmi, Karmele Jaio und Mario Obrero zugegen. Karmele schreibt auf Baskisch und übersetzt auf Spanisch. Das sei wie ein Besuch beim Friseur, der uns den Hinterkopf zeige.

Mario Obrero sieht aus wie einer Thomas-Mann-Novelle entsprungen und meint, die Poesie glaube an ein besseres Leben.

Auf dem Blauen Sofa interviewt Cecile Schortmann den Förster Peter Wohlleben, der in diesem Jahr mit »Der lange Atem der Bäume« vertreten ist. Es gehe in Zukunft nicht um Temperatur, sondern um Kühle, und er fordert: Mehr Wald zulassen, mehr recyclen, und eine Steuer auf Holz erheben.

Wie gut, dass hinter mir drei schwäbische Buchhändlerinnen sitzen. Von ihnen erfahre ich, dass Denis Scheck jetzt mit Druckfrisch auf der ARD-Bühne sei, aus der Buchmesse-App ging das nicht hervor. Aber auf der HR-App stehe es. Ich verzweifle an der mangelhaften Vernetzung und sehne mich stock-altmodisch nach einem gedruckten Messekalender, den es wohl nie wieder geben wird.

Ja, natürlich kann man Schecks Bühnenauftritt in der ARD-Mediathek ansehen. Aber ist man auf der Buchmesse, ist das persönliche Dabeisein ein Muss. Ich bewundere Denis Scheck, dass ihm ein inspirierender Auftritt gelingt, ist er doch in Wirklichkeit wütend und enttäuscht, weil ihm 80 % seines Messeauftritts gestrichen worden seien.

Cecile Schortmann interviewt den bekannten Schauspieler Edgar Selge zu »Hast du uns endlich gefunden«, seine Autobiografie, die eigentlich »Hauskonzert« heißen sollte und seine Kindheit in einer Jugendstrafanstalt als Sohn des dortigen Direktors schildert. Sehr hörenswert von ihm selbst als Hörbuch eingelesen.

Jens Söring saß 33 Jahre unschuldig in den USA im Gefängnis. Seine Unschuld ist nicht offiziell bestätigt worden, was dem amerikanischen Staat 1,4 Millionen Dollar Haftentschädigung erspart habe.

Er ist erstaunlich gut beisammen und erklärt, wie wichtig es sei, im Gefängnis keine Angriffsfläche zu bieten. Dazu gehöre, keine Reaktionen zu zeigen.

Carolin Kebekus macht sich spät Gedanken zum Feminismus, bzw. zur Unterrepräsentanz von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft. Und wir sind mehr als die Hälfte, das muss man sich mal vorstellen! Die ARD-Mediathek, wo alle Gespräche, die auf der ARD-Bühne stattgefunden haben, bis Oktober 2022 nachzuerleben sind. Ein toller, empfehlenswerter Service.

Elke Heidenreich entwickelt sich immer mehr zur grand old lady der Literatur, obwohl sie noch immer sehr jugendlich, unbekümmert und teilweise schnodderig sein kann. Wohltuend, dass sie sich nicht politisch korrekt den Mund verbieten lässt und zu ihren Aussagen steht. »Hier geht’s lang!« heißt ihr jüngstes Buch, in dem sie zeigt, wie sie sie wurde.

Bei der HR-Hörbuchnacht war Dagmar Manzel angekündigt. Wegen ihr bin ich hingegangen.

Sie ahnen schon – sie kam nicht. Erklärungslos ausgefallen.

Ich staune nicht schlecht, dass diese Aufzeichnung nur knappe zwei Stunden dauert, die hinterher zusammengeschnittene Sendung jedoch mehr als drei Stunden. Ich zweifle an meinem Verstand: Da ist Sven Regener zu sehen. Aber der war doch gar nicht da!? Schon gar nicht am Anfang, denn da war Elke Heidenreich …

Ich Idiot! Verwechsle die Buchmessennacht mit der HR-Hörbuchnacht. Leicht passiert – weil Bülent Ceylan bei beiden aus seinem Buch vorlas.

»Jahrhundertstimmen« ist ein interessantes Hörbuchprojekt: 250 Originalaufnahmen, darunter ein nicht schreiender Adolf Hitler.

Als bestes Hörbuch wird »Saal 101« prämiert – das Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess. Will ich mir das wirklich anhören?

Einer der geschicktesten Hörbuchsprecher ist Jens Wrawrczek – seit 46 Jahren bekannt als Peter Shaw bei »Die drei Fragezeichen«. Ihm beim Vorlesen einer Szene aus dem Hitchcockfilm »Über den Dächern von Nizza« zuzusehen und zu hören, ist ein Genuss und beweist, dass ein Mann eine Frau glaubwürdig lesen kann.

Marcia Zuckermann verwandelt in ihren Büchern das Leben ihrer jüdischen Familie in Literatur. Vor fünf Jahren in »Mischpoke« nun in »Schlamassel«. Sie beendet ihren Auftritt mit dem eindringlichen Appell: Das Wort ist unsere schärfste Waffe. Bücher statt Boykott! Autorinnen, die ihr die Buchmesse boykottiert, kommt her!

Freitag, 22. Oktober 2021

Mein erklärter letzter Messetag beginnt mit der Pressekonferenz mit Tsitsi Dangarembga, der ersten schwarzen Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels. Sie strahlt eine ansteckende Ruhe aus und schafft eine überaus angenehme hoffnungsvolle Atmosphäre. Bereichert verlasse ich die Konferenz und freue mich über das ausführliche Gespräch mit Wolfgang Tischer, für das wir in diesem Jahr wirklich Zeit haben.

Wolfgang Tischer und Barbara Fellgiebel
Wolfgang Tischer und Barbara Fellgiebel

Ziemlich ziellos streife ich durch die gähnend leeren Hallen auf der Suche nach Trouvaillen, d.h. unvermuteten Begegnungen und Buchentdeckungen. Und werde fündig:

Bei Beck blättere ich in Uwe Wittstocks »Februar 33 – der Winter der Literatur« und will gar nicht wieder aufhören zu lesen.

Bei Gülizar nehme ich den Poesieband »Herzrhythmusstörungen« zur Hand und komme mit ihr in ein bewegendes Gespräch. Ihre Poesie ist herzergreifend.

Jennifer Hauff gehört zu den Autorinnen, die besondere Corona-Opfer wurden: Ihr 2020 neu erschienenes Buch »Verschnitt« hatte keine ihm gebührende Vorstellung, Lesungen etc. Dafür aber jetzt, denn das Thema geschlechtsverändernde Operationen ist aktueller denn je.

Am Stand der Mörderischen Schwestern
Am Stand der Mörderischen Schwestern

Zu guter Letzt laufe ich direkt in den Stand der Mörderischen Schwestern und werde mit Sekt und »Die Barbara!!!« wie eine verlorene Tochter begrüßt. Das tut gut und vertreibt die innere Traurigkeit.

An der Verleihung des Hessischen Filmpreises konnte ich dieses Jahr nicht teilnehmen. Wen es interessiert, bitte hier zur ARD-Mediathek.

Sowohl Samstag als auch Sonntag ist das streng reduzierte Kontingent zugelassener Messegäste voll ausgeschöpft, und die zur Messe strömenden Cosplayer machen Hoffnung auf farbenfrohe Belebtheit.

Sonntag, 24. Oktober 2021

Auch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche verfolge ich wie viele andere in diesem Jahr nur am TV. Der unvorhergesehene Auftritt der Grünen-Abgeordneten Mirianne Mahn setzt die Diskrepanz zwischen Meinungsfreiheit und Zensur nochmal ins Zentrum dieser Buchmesse. Eine sehr gute detaillierte Berichterstattung dieser Verleihung finden Sie auf feuilletonfrankfurt.de.

Hoffen wir, dass sowohl die nächste Buchmesse als auch meine Impressionen positiver werden.

Bücher und Hörbücher auf die ich mich freue:

  • Johanna Adorján: Ciao
  • Bülent Ceylan: Ankommen – aber wo war ich eigentlich
  • Tsitsi Dangarembga: Die Tambudzai-Trilogie
  • Svenja Flasspöhler: Sensibel
  • Gülizar: Herzrhythmusstörungen
  • Jennifer Hauff: Verschnitt
  • Elke Heidenreich: Hier geht’s lang!
  • Per Leo: Tränen ohne Trauer
  • Sasha Mariana Salzmann: Im Leben muss alles herrlich sein
  • Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden
  • Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
  • Uwe Wittstock: Februar 33

Barbara Fellgiebel
mit Fotos von Beate Fischer-Kanehl und Wolfgang Tischer

Barbara Fellgiebel ist langjährige Buchmessen- und Literaturfestival-Beobachterin. Sie verweigert sich nach wie vor erfolgreich den sozialen Medien.
Sie freut sich aber über Ihre Reaktionen hier als Kommentar oder an alfacult(at)gmail.com.

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4 Kommentare

  1. Liebe Barbara,
    so anregende Buchmesse-Berichte brauchen wir die ALFA-Waisen hier im Dir ja bestens bekannten letzten Winkel Europas. Aber wo nehmen wir die Zeit her, in die so spannende Welt der von Dir empfohlenen Neuerscheinungen einzutauchen ?
    Schade, dass Du morgen bei der Eröffnung des zweiten privaten Naturparks in Portugal A Area Protegida Privada Vale das Amoreiras nicht dabei sein kannst. Eine Wanderung auf den trilhos im APP VdA ihm lohnt sich !
    Hoffentlich bis bald ! Liebe Grüße
    Raban

  2. Liebe Barbara, Danke für die wundervolle Berichterstattung. Bei der Lektüre fühlt man sich so als wenn man Dich auf der Messe begleitet hätte. Du hast eine besondere Beobachtungsgabe und Deine Darstellung ist durch eine erfrischende Ehrlichkeit sehr vergnüglich, überraschend und spannend. Deine Empfehlungen sind ein guter Kompass in dieser Welt der Neuerscheinungen. Leider hat man ja wirklich nicht die Zeit für alles. Beste Grüße von Irina

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