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Protest gegen Stuttgart 21: Ein Bauzaun in zwei Büchern

Protestdokumente am Stuttgarter BauzaunDer Bauzaun vor dem abgerissenen Nordflügel des Stuttgarter Bahnhofs ist zum kreativen Symbol des Widerstands geworden. Am Stahlgitter wurden unzählige Plakate, Zettel und Transparente angebracht, um Unmut, Ohnmacht und Wut gegenüber Politik und Bahn auszudrücken. Als Kunstwerk soll die Absperrung demnächst im Stuttgarter Haus der Geschichte ausgestellt werden. Laut Medienberichten kostet die »Umsiedelung« und Restaurierung 30.000 Euro.

Zwei Bücher versuchen, die unzähligen Protest- und Kunstwerke zu dokumentieren. literaturcafe.de hat sich die unterschiedlichen Werke angesehen.

Zeugnis demokratischer Streitkultur

Anfang Dezember 2010 wurde begonnen, den Zaun mit all den vielen Dokumenten abzubauen. Er sei »ein hochrangiges Zeugnis demokratischer Streitkultur und ein im höchsten Maße plakativer Ausdruck von Meinungsvielfalt, Bürgerengagement und Kreativität«, so der Leiter des Hauses der Geschichte.

Buchstäblich in einer Nachtaktion wurde die Absperrung am 30. Juli 2010 unter Polizeischutz errichtet. Die Metallgitter sollten ungestört den Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs ermöglichen. Um derzeit von den Gleisanlagen belegtes lukratives Bauland im Innenstadtbereich zu erschließen, will die Deutsche Bahn mit dem Projekt »Stuttgart 21« Bahnhof und Gleise unter die Erde legen. Nur die Haupthalle des ursprünglich u-förmigen Bahnhofsgebäudes bleibt erhalten, Nord- und Südflügel müssen weichen.

Der Protest gegen das Immobilienprojekt »Stuttgart 21« wird außerhalb Stuttgarts gerne belächelt. Anständig wie die Schwaben sind, demonstrieren sie auch rechtschaffen und anständig. Doch so beschaulich und niedlich ist und war es nicht.

In Baden-Württemberg hat man am 30. September 2010 – dem so genannten »schwarzen Donnerstag« – gezeigt, dass das Niederknüppeln von friedlichen Demonstranten und bespitzeln Andersdenkender nicht nur in Diktaturen wie China, sondern auch in sogenannten Demokratien möglich sind. Mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray wurde der Schlosspark geräumt. Es gab Hunderte Verletzte.

Mappus: Wie ein kleiner Bub im Kindergarten

Doch niemand trat zurück, niemand hat sich entschuldigt, niemand wird bestraft. Feige schob Ministerpräsident Mappus die Schuld auf die anderen – wie der kleine Bub im Kindergarten, dem die christlich-soziale Erziehung fehlt.

Verständlich also, dass man in Baden-Württemberg von solch unsympathischen Menschen nicht regiert werden möchte. Der Bauzaun war eine Möglichkeit, die Wut gegen Politik und Bahn, speziell gegen Ministerpräsident Mappus, Oberbürgermeister Schuster und Bahnchef Grube zum Ausdruck zu bringen. Dicht an dicht hingen dort die Zettel und Plakate.

Jede Stilrichtung war dabei: Da wurden klassische Kunstwerke und Motive aus der Werbung parodiert, da wurde gezeichnet, gemalt, gephotoshoppt und collagiert, da wurde Protest zur Kunst.

Taschenbuch und Bildband: Pragmatismus und Kunst

Zwei unterschiedliche Bücher versuchen, diesen sehr speziellen Bauzaun zu dokumentieren.

Da ist zum einen ein Taschenbuch aus dem Schweizer Verlag Kein & Aber, der bereits eine Zettelsammlung anderer Art veröffentlicht hat. Das Buch heißt »Oben bleiben!!!« und trägt somit den Protestaufruf der Projektgegner im Titel. Die drei Ausrufezeichen sind von einem der Protestzettel übernommen, der das Cover ziert und gleichzeitig zum Titel wurde: Das Stuttgarter Wappentier, das Rössl, springt aus einem Loch heraus.

Im Buch findet sich eine Vielzahl an Fotos, die die Bauzaun-Werke dokumentieren. Außerdem sind einige wenige Texte u.a. von Harry Rowohlt und Wiglaf Droste eingestreut. Letzterer weilt auch aus kulinarischen Gründen gerne mal in der baden-württembergischen Landeshauptstadt.

Rowohlt philosophiert eher lustlos um die Begriffe Kopfbahnhof und Sackbahnhof herum, während Wiglaf Drostes Text eine Lektüreempfehlung wert ist. Bissig wie gewohnt schreibt er:

Stuttgart 21 ist eine Lektion. … Konzessionen müssen nicht länger gemacht werden, Politik schrumpft zur Aufgabe, den reibungslosen Gang der Geschäfte zu sichern und das Volk mit künstlichem Brot und Massenspielen ruhig zu stellen.

Dazu bedarf es einer hochdiversifizierten Verblödungsindustrie, die Fanmeilenexzesse ebenso im Portefeuille hat wie das, was ein digitaler Neandertaler mit Universitätsabschluss braucht, um sich intelligent zu denken.

Im Buch sind keine Texte der sonst oft gehörten S21-Kritiker Walter Sittler, Gangolf Stocker, Heinrich Steinfest oder Wolfgang Schorlau zu finden. Diese Texte sind wiederum im Buch »Stuttgart 21 – Die Argumente« (bei Kiepenheuer & Witsch) enthalten, das hier nicht betrachtet werden soll.

Das Taschenbuch »Oben bleiben!!!« ist ein preisgünstiges Bauzaunarchiv, das die Dokumente in einer Qualität wiedergibt, wie es der Druck auf einfachem Papier vermag. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt.

Einen künstlerisch höheren Ansatz verfolgt das zweite Werk »Der Stuttgarter Bauzaun – Phantasie des Protests« aus dem Silberburg Verlag, der auf baden-württembergische Regionalika spezialisiert ist. Das Format ist größer, der Einband fest und das Papier hochwertiger. Das Buch ist ein Bildband, die Fotos sind ebenfalls weitaus hochwertiger in Aufnahme und Druck. Es scheint weniger abfotografierte Dokumente als das Taschenbuch zu enthalten. Doch die beiden Fotografen Ulrike Mössinger und Heinke Brantsch haben stattdessen auch Zeugnisse des Protests im Stadtpark dokumentiert, wie beispielsweise die Plakate an den Bäumen, die dem Immobiliencoup der Spätze-Connection zum Opfer fallen sollen.

Der Band aus dem Silberburg Verlag sieht den Bauzaun klar als Kunstobjekt und deutet den Weg ins Museum bereits an. Außerdem lässt er einige der Bauzaunkünstler selbst zu Wort kommen. Ein Text, den Ulla Lachauer für die ZEIT geschrieben hat, beschreibt gut die Stimmung am Zaun im Herbst 2010, das Vorwort der Herausgeber Sybille und Ulrich Weitz fasst die Entstehungsgeschichte und Chronologie der Absperrung zusammen.

Dass dieser Bildband nur 5 Euro mehr kostet, als das Taschenbuch von Kein & Aber, erstaunt.

Fazit

Beide Bücher dokumentieren die Zettel, Plakate und anderen Kunst- und Protestobjekte am Bauzaun sehr gut. Qualitativ hochwertiger, in der Auswahl breiter und mit mehr Anspruch gelingt dies dem Bildband aus dem Silberburg Verlag, ohne dass er wirklich sehr viel mehr kostet als das Taschenbuch von Kein & Aber. Dessen Dokumentation der reinen Bauzaunobjekte ist jedoch umfangreicher. Dass in beiden Büchern die selben Motive enthalten sind, liegt in der Natur der Sache.

Daher ist es eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob einem das pragmatische oder künstlerische Werk mehr liegt.

Auf jeden Fall leisten beide Bücher einen wertvollen Beitrag zur Dokumentation einer einzigartigen Baustellenabsperrung.

Albrecht Götz von Olenhusen; Gerd Paulus: Oben bleiben!!! Manifeste und Bilder des Protests. Taschenbuch. 2010. Kein & Aber. ISBN/EAN: 9783036952819

Heinke Brantsch; Ulrike Mössinger; Sybille Weitz; Dr. Ulrich Weitz: Der Stuttgarter Bauzaun: Phantasie des Protests. Gebundene Ausgabe. 2011. Silberburg-Verlag GmbH. ISBN/EAN: 9783842511248. 16,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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4 Kommentare

  1. Es ist schon immer wieder erstaunlich, was alles als verlegtes Buch den Weg in die Buchläden findet. Diesmal sind es abfotografierte und kommentierte Protestzettel an Bauzäunen. Was wird als nächstes zur “Kunst” erkoren? Fotos des Stuhles, auf dem Heiner Geißler während der Schlichtung saß? Liebe Verleger, kümmert Euch doch ein bisschen mehr um unbekannte, junge Autoren, die auch tatsächlich Geschichten zu erzählen haben!

  2. Liebe S21 Gegner, warum besprecht iht nur die Bücher der großen Verlage, die sich die unmoralischen Bedingungen bei amazon leisten können?
    Ein ziemlich buntes Widerstandbuch ist der Sprühregen. Die erste Auflage war in einer guten Woche ausverkauft und nun ist eine zweite in Planung. Ohne Verlag im Hintergrund nicht ganz einfach, dafür aber umso näher dran! Bis später beim Neujahrstreffen, Anna

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