StartseiteLiterarisches LebenWarum werde ich nicht veröffentlicht? Oder: Die Große Manuskriptverschickung - Teil 2

Warum werde ich nicht veröffentlicht? Oder: Die Große Manuskriptverschickung – Teil 2

Die Große Manuskirptverschickung: Auffangbecken 2Etwa eine halbe Million Menschen, so wird geschätzt, sitzen in den Wohnzimmern der Republik vor Laptops oder sogar Schreibmaschinen und verfassen »Romane«.

Ihre Qualifikation: Deutschunterricht.

Ihr Ansatz: autobiografisch.

Ihr Impetus: Schriftsteller werden, also vor allem reich und berühmt.

In einer fünfteiligen Serie analysiert der Autor Tom Liehr schonungslos, warum diese Werke dennoch kein Verlag veröffentlicht. Immer am Freitag erscheint ein neuer Teil.

Teil 2: Warum sich niemand für meinen Roman interessiert

Die am Ende des ersten Teils gestellte zweite Frage, ob überhaupt irgendwen interessiert, was ich geschrieben habe, lässt sich, mit Verlaub, in den allermeisten Fällen mit einem klaren Nein! beantworten. Selbstredend handelt es sich dabei doch immer um allerfeinste Kunst, und natürlich ist sie genauso selbstverständlich immer relevant, wenn auch oft nur für eine sehr bescheidene Zielgruppe, die meist leicht in einer Telefonzelle unterzubringen wäre. Trotzdem verweigern sich viele Autoren augenscheinlich dieser elementaren Frage. Stattdessen hüten sie ihr über Jahre verfasstes Traktat wie den eigenen Säugling, schreiben an Wochenenden ein paar Zeilen um, ändern fortwährend den Arbeitstitel, ein paar Personennamen und Schauplätze, nerven diverse Autorenforen mit immer gleichen Leseproben und beteiligen sich regelmäßig an der GMV, der Großen Manuskriptverschickung. Es liegt schließlich nie am Text, dass er nicht veröffentlicht wird. Nach einigen Jahren wird dann seufzend, aber immer noch hoffnungsvoll das »Premium-Profipaket« bei BoD gebucht, das immerhin Lektorat (eigentlich: Korrektorat), professionelle Ausstattung und die internationale Listung enthält, und anschließend vermarktet der Autor sein Buch dann selbst. Je nach Durchhaltevermögen, Aufwand, Resonanz bei den örtlichen Gratis-Wochenblättern und Freundeskreisgröße erreicht er früher oder später die magische Kappungsgrenze von 200 verkauften Exemplaren. Währenddessen wartet der Autor darauf, von den Verlags-Headhuntern entdeckt zu werden, die noch niemand lebend und auf freier Wildbahn gesichtet hat.

Die erste Frage muss umformuliert werden: Habe ich wirklich etwas anzubieten, das für genau diesen Verlag interessant ist? Würde es sich, objektiv gesehen, lohnen, ein Dutzend oder noch mehr Menschen im Haus damit zu beschäftigen, aus meinem Manuskript ein Buch zu machen und es dann anschließend über Tausende von Händlern und mit großem Aufwand unter die Leute zu bringen? Und, wenn ja: Warum? Man kann die Frage auch ganz anders formulieren:

Für wen schreibe ich eigentlich?

Für die Leser. Natürlich. Autoren schreiben für Leser. Das klingt so richtig, so entspannt, so zwangsläufig und irgendwie auch altruistisch. Wir schreiben selbstverständlich nicht für uns (das machen Therapieschreiber, und die mag niemand), und wir wären keine Künstler, wenn wir für Verlage schrieben, also tun wir es fraglos für die Leser. Bildende Künstler malen auch nicht für Galerien, Darsteller interpretieren nicht für Produktionsfirmen, Tänzer drehen ihre Pirouetten nicht für Ballettregisseure. Erstaunlicherweise ist es die absolute Ausnahme, dass Schauspieler bei Krauses in der Wohnung den Monolog der Molly Bloom von sich geben, dass Ballerinen dort die Rückkehr des Prinzen aus »Schwanensee« vorführen oder Maler passend zur abblätternden Retro-Tapete irgendwas pinseln. Nur wir, die Schriftsteller, produzieren unsere wohlfeile Kunst praktisch direkt für den Nachttisch, das Bücherbord oder den Badewannenrand. Eigentlich bräuchten wir Verlage überhaupt nicht, sondern nur sie, die Leute, für die wir schreiben, nämlich: die Leser.

Der folgende Gedanke lohnt einer genaueren Erwägung: Ist es möglich, dass wir »die Leser« überhaupt nicht kennen – und überhaupt nicht wissen, was die eigentlich wollen? Ist denkbar, dass wir ein völlig falsches Bild von »ihnen« haben? Gar überhaupt keine Ahnung über sie? Kann es sein, dass wir unser – zuweilen leicht verzerrtes – Selbstbild auf sie adaptieren, dass wir sie gar mit uns verwechseln? Dass wir, wenn wir denken, wir würden für sie schreiben, es tatsächlich doch für uns selbst tun? Damit ist nicht jene Naivität gemeint, die viele, die auf den Markt zu drängen versuchen, wie einen Schutzschirm vor sich herzutragen: Ich muss gehört werden. Das hier ist wichtig, sogar entscheidend. Ohne meinen Text geht der Welt etwas verloren. Sondern eher der diffuse Irrglaube, man wüsste sehr viel besser als jedermann sonst, was als Lektüre erwünscht ist und was nicht. Schließlich stellt man sie her. Das qualifiziert. Oder?

Man greife sich irgendeinen guten, intelligenten Unterhaltungsroman aus dem Regal und stelle sich die Frage, ob der Autor tatsächlich so gedacht haben mag, wie im vorigen Absatz skizziert wurde, als er dieses Buch geschrieben hat. Dieses Experiment lässt sich sogar mit »gehobener« Literatur wiederholen. In ihren Widersprüchen gegen alles, was das Wort »Markt« enthält, kaprizieren sich die wortgewaltigen, bisher unveröffentlichten (oder per BoD oder in Kleinstverlagen publizierten) Neuautoren ja gebetsmühlenartig auf solche Beispiele. Rowling wurde dutzendfach abgelehnt, Goethe hat seine ersten Veröffentlichungen selbst bezahlt, und dann fallen noch Namen wie Grass, Böll, Brecht, Mann, Kafka und so weiter. Mit Verlaub, wer wie Franz Kafka oder Thomas Mann schreibt (oder entsprechend adaptiert auf die heutige Zeit etwas wirklich Bahnbrechendes vorzulegen hat), der treibt sich nicht in Autorenforen herum oder kommentiert Sachbeiträge auf literaturcafe.de. Woran diese Leute arbeiten ist das, woran alle arbeiten: Historische Romane, Gestaltwandler-Epigonen, unterhaltende Gegenwartsliteratur, ChickLit, Liebesgeschichten, Krimis, Thriller, Science Fiction und Fantasy. Nennen wir es: Gebrauchsliteratur. Möglicherweise Texte, die eine gewisse Zeit überdauern. Darunter vielleicht einige Perlen, die ganze Generationen beeinflussen werden. Aber in der Hauptsache Erzählungen nach klassischem Muster, einem der zwanzig bis dreißig Masterplots folgend, mit leicht veränderter Dramaturgie, neuem Personal und anderen Schauplätzen.

Hergestellt werden diese Texte fast ausnahmslos im stillen Kämmerlein. Der zukünftige Erfolgsautor hat eine Idee, die möglicherweise nicht ganz neu ist, ihm aber so vorkommt. Im Internet wird ein wenig – eher nachlässig – recherchiert, für das Personal werden ein paar knackige Namen gewählt, Schauplätze sind der Wohnort und die Lieblingsurlaubsorte des Autors, und dann geht es los, im Stil von irgendwem. Ein Teil der Autorenschaft plottet vielleicht sogar noch, aber viele schreiben einfach munter drauflos, mit einer nur nebulösen Ahnung davon, wo die Reise hingeht. Mit viel Mühe entstehen dreihundert Seiten, währenddessen werden ein paar ältere Kapitel überarbeitet, weil man vielleicht doch das Gefühl hat, es wäre hier und da nicht ganz stimmig, aber das wird hoffentlich niemand bemerken, außerdem gibt es ja Lektoren, und das sind, nach allem, was man so hört, ohnehin (leider missmutige) Zauberer.

Zu Teil 3: »Warum Verlage keine Arschlöcher sind«

Hinweis: Kommentare zu dieser Serie können Sie beim ersten Teil abgeben (auch zu Teil 2-5). So gestalten sich die Rückmeldungen etwas übersichtlicher.

Tom Liehr (Foto:privat)Tom Liehr, Jahrgang 1962, hat Dutzende Kurzgeschichten und bislang elf Romane veröffentlicht, zuletzt »Die Wahrheit über Metting« (2020) und »Landeier« (2017) bei Rowohlt. »Leichtmatrosen« (2013) wurde für die ARD verfilmt, »Geisterfahrer« (2008) ins Französische übersetzt. Im Herbst 2022 erscheint sein zwölfter Roman. Liehr hat den 42erAutoren e. V. mitbegründet und gehört zu den Schöpfern der legendären Kunstfigur Rico Beutlich sowie des Literaturpreises Putlitzer Preis®. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Links zu Tom Liehr:
Autorensite Tom Liehr www.tomliehr.de
Autorensite Tom Liehr bei Amazon

Weitere Beiträge zum Thema

1 Kommentar

Kommentare geschlossen.