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Textkritik: Wie der Mauerfall einen Text zum Einsturz bringt

9. November 2014. 25 Jahre nach dem Mauerfall. Viel wird derzeit über damals berichtet. Menschen schreiben biografische oder erfundene Geschichten auf und sind der Meinung, die Nachwelt wolle sie lesen.

Unser Textkritiker Malte Bremer wollte von einem geplanten 500-Seiten-Roman zum Thema nicht mal den Prolog zu Ende lesen. Es ist ein Text, den man besser unter der einstürzenden Mauer begraben hätte.

Road to Paradise

von Jörg Stollmann
Textart: Prosa
Bewertung: 0 von 5 Brillen

Prolog

11.11.1989

Es war extrem voll. Die Türen gingen nicht richtig zu. Alles voller Menschen. Diejenigen drinnen waren froh im Zug zu sein und die draußen wollten noch unbedingt hinein. Der nächste fährt erst in zwei Stunden, aber alle wollen so schnell wie möglich nach Berlin.

Meine Freundin und ich, wir waren zwar drin, aber ich dachte: »Wie sollen wir die nächsten eineinhalb Stunden bis zum Ostbahnhof überstehen?« Gerade war genug Luft zum Atmen, das war auch schon alles.

Schon nach den ersten Kilometern wurde es unerträglich heiß. In jeder Kurve trat dir jemand auf den Fuß. Es blieb natürlich nicht aus, dass Arme, Beine, Hände und Gesichter, alle möglichen Körperteile fremder Leute, sich berührten. Ich konnte deutlich und nicht nur eine Hand, an meinem Hintern spüren. Mein Gesicht lag immer wieder auf einer, zugegeben schönen, Brust. Doch angenehm war das deshalb nicht. Schon nach kurzer Zeit rochen alle nach Schweiß, bei vielen klebten die Kleider an den Körpern.

Fahr mal sonst um diese Zeit mit dem Zug von Magdeburg nach Berlin. Da musst du aufpassen rechtzeitig aus zusteigen, weil du nämlich einpennst und niemand da ist, der dich wecken könnte.

Aber heute interessiert das keine Sau.

Alle sind nur aufgeregt und reden, ja schreien fast, weil es gar nicht anders geht. Anscheinend hat jeder jeden lieb. Es fallen keine bösen Worte. Jedenfalls höre ich keine, was hier auch ein Wunder wäre. Alle lachen, selbst wenn mein Gesicht in diese Brust fällt guckt mich das Mädchen nur lächelnd an. Zu einer anderen Zeit hätte ich sicher schon Eine gefangen.

Der Zug musste immer wieder an einem Bahnhof halten. Als die Türen dort auf gingen wollten immer noch Menschen hinein. Raus wollte keiner, so das es jedes Mal ein riesiges Gemenge gab bis der Bahnhof hinter uns lag. Einige schafften es nicht, manche nicht wieder hinein und mussten sich von diesem Zug und ihren Leuten verabschieden.

Erst ab Potsdam ging es besser, weil kaum noch jemand zusteigen wollte. Meine Freundin stand mal neben und mal vor mir, doch immer so nah, dass wir uns gegenseitig festhalten und nicht verlieren konnten.

Wenn viele Menschen auf einem Haufen sind, ich mittendrin, da habe ich schon des Öfteren Platzangst bekommen. Doch auch mir machte das heute nichts aus, obwohl ich den Moment der Ankunft, wie alle anderen auch, herbei sehnte.

Es dauerte eine Ewigkeit, von wegen eineinhalb Stunden. Fast drei brauchten wir, ehe der Zug Berlin Ostbahnhof erreichte.Als die Türen sich öffneten war alles egal. Hauptsache raus, frische Luft, weg aus dem Gedränge.

Doch das war leichter gesagt, als getan. Auch aus anderen Richtungen kamen die Züge an, nicht weniger gefüllt mit Menschen.

© 2014 by Jörg Stollmann. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Völlig verkorkster Text

Die Überschrift »Prolog« zeigt es eigentlich schon: Das soll der Beginn eines  Romans sein (geplant sind laut Autor 500 Seiten). Der Original-Prolog ist doppelt so lang wie der besprochene Teil – aber zum Herausarbeiten von Fehlern muss ich das nicht weiter lesen!

Die Kritik im Einzelnen

Auweia: Englischer Titel! Prolog: Der aktuell favorisierte Ich-möchte-auch-gern-Autor-sein-Beginn! Als Schmankerl ein »historisches Datum«, das in 200 Jahren keinen Normalmenschen mehr interessiert … ob das was wird? zurück

Es war extrem voll: Warum nicht gleich den Zug nennen? Und alles voller Menschen: Alles? Auch die Türen, von denen unmittelbar zuvor die Schreibe war? Je nun, ein Zug mit Menschen drin, das ist doch der Normalfall! Aber was sind das für Zugtüren, die nicht richtig zugehen? Gehen die nur ein bisschen zu? Was ist extrem voll? Voll ist voll genug, voller geht doch nicht! Da können Menschen noch so sehr nach Berlin wollen … Ach ja, der Zeitenwechsel: Eigentlich soll wohl im Präteritum erzählt werden, aber der nächste Zug fährt und die Menschen wollen rein, stehen da wohl immer noch!

Ich-Erzähler mit Freundin sind im Zug – warum das durch wir nochmals betont wird, wo im Folgenden doch nur noch von drinnen erzählt wird, bleibt unklar. Dann folgt ein sensationeller Gedanke, wie man diese Völle überstehen könne. Vermutlich droht Erstickungstod, denn es steht geschrieben: Gerade war genug Luft zum Atmen: Ich lese das als Gerade eben! Daraus folgere ich, dass Ich-Erzähler Angst hat, ein paar Minuten später gäbe es keinen Sauerstoff mehr (obwohl die Türen ja nicht richtig zu sind, Sauerstoff also ungehindert eindringen kann). Hätte der Satz gelautet Es gab gerade noch genug Luft zum Atmen, gäbe es dieses Missverständnis nicht. zurück

Jetzt wurde es unerträglich heiß. Warum? Nun: In jeder Kurve trat dir jemand auf den Fuß … und außerdem berührten sich Körperteile, Gesichter z. B. – so lernt man dazu: Gesicht ist ab jetzt ein Körperteil! Was macht Ich-Erzähler? Er spürt Hände an seinem Hintern, und sein Gesicht legt er immer wieder auf eine weibliche Brust (nein, nicht die seiner Freundin! Wird jedoch erst später deutlich). Wurde ihm deswegen unerträglich heiß? Soll das ein Anflug von Humor sein in einem sonst davon freien Text?

Nach diesem Gesicht-auf-fremde-Brust-Legen steht geschrieben: Doch angenehm war das deshalb nicht. Deshalb? Weshalb den? Wegen dem Gesicht? Oder der Brust? Oder der Hände am Hintern? Nein, natürlich nicht: Das soll sich auf das unerträglich heiß beziehen, was am Anfang dieses Abschnittes steht. Das macht aber ebenfalls keinen Sinn. Tatsächlich bezieht es sich auf die Folge der Hitze, nämlich den Schweißgeruch, der anschließend genannt wird!

Da soll ein Leser drauf kommen! Hier setzt sich fort, was schon von Anfang an gedroht hat: Sprachlich-inhaltliche Verwirr-Irrungen abseits jeder Vernunft! zurück

Ich-Erzähler fordert jetzt den Leser auf, mal von Magdeburg nach Berlin zu fahren, denn er würde den Bahnhof verpassen, da niemand ihn weckt, wohl weil es langweilig ist und kein anderer Fahrgast im Zug. So weit, so gut. Jetzt stellen sich eine Menge Fragen: Gilt das tatsächlich heute, also im Jahr 2014? Oder galt das damals zu DDR-Zeiten? Ich befürchte, dass das eine Erinnerung ist an die Zeit vor der Wende – und damit inhaltlich völlig daneben!

Das hat zu tun mit dem Satz »Aber heute interessiert das keine Sau.«

Was denn, bitte schön? Und was ist heute? 2014 oder 1989? Und wenn 2014 gemeint ist: Was soll dann dieses aber? Sollte uns heute interessieren, wie es dermaleinst um die Bahnverbindung Magdeburg-Berlin bestellt war, auch wenn man kein DDR-Bahn-Freak ist?

Falls 1989 gemeint sein sollte (das wäre das einzig Nachvollziehbare), dann müsste es unbedingt »Aber heute interessierte das keine Sau« heißen, also Präteritum statt Präsens! zurück

Weiter geht’s im Präsens – bei diesem Absatz ist das in Ordnung, weil die intensive Erinnerung so nah ist!

Inhaltlich verwirrt es weiter: Alle sind nur aufgeregt und reden … Wie wäre es mit Alle reden aufgeregt? Schließlich sind sie ja nicht nur aufgeregt, sie reden auch noch! Dann schreien sie fast, weil es gar nicht anders gehtWas geht nicht anders? Und warum geht es nicht anders? Ist da ein Fast-Schrei-Zwang?

Wir werden es nicht erfahren! Außer: »Anscheinend hat jeder jeden lieb.« Das ist aber kein Grund zum Schreien … mmh: Lustschrei? Nun: Das fremde Mädchen mit der von des Ich-Erzählers Gesicht in Beschlag genommenen Brust lächelt nur. Doch alle anderen lachen, wenn sein Gesicht in diese fällt … quasi so ne Art Gesichtsverlust … Und ist Ich-Erzähler denn so klein, dass er den Frauen nur bis zur Brust reicht?

Dieser blödsinnige Zusammenhang ist Folge des inhaltlich grotesk falschen Kommas nach Alle lachen: Da muss ein Punkt hin!

Und wen Ich-Erzähler damit meint, wenn er sicher sonst Eine gefangen hätte, bleibt unklar. Gemeint ist garantiert, dass er sicher schon eine (Ohrfeige) gefangen hätte. Warum steht es nicht so da?. zurück

Was für eine Information: Der Zug musste immer wieder an einem Bahnhof halten. Boah: Sogar zu DDR-Zeiten! Da herrschte wohl noch Zucht und Ordnung – im Gegensatz zur BRD, wo ICEs schon mal Bahnhöfe vergessen … Und dieses wunderbare an einem Bahnhof: Immer derselbe? Und immer wieder, also quasi Kreisverkehr? Was soll dieser doofe Satz?

Weiter im Text: Der Ort, um den es geht, ist ein Bahnhof, richtig? Richtig! Und was passiert dort? Auf dem Bahnhof gehen die Türen auf! Weil der Zug anhält! Will sagen: Man kann jetzt in das Bahnhofsgebäude hinein und auch wieder heraus. Schön, dass die eingesperrten Möchtegern-Reisenden endlich freigelassen werden …

Es kommt noch schlimmer: Alle im Zug sind auf dem Weg nach Berlin! Der Zug ist proppenvoll mit fast-schreienden, schwitzenden und stinkenden Menschen! Die Zugtüren (Oh ja, wir erinnern uns!) waren die ganze Fahrt über nicht richtig zu (trotzdem fuhr selbstverständlich der Zug), also eigentlich auf! Nehmen wir jetzt einmal an, die nicht zuenen Zugtüren gingen trotzdem auf – was geschieht jetzt?

Zumindest auf dem einen Bahnhof wollten immer noch Menschen hinein! Der Ich-Erzähler befindet sich aber im Zug! Er schreibt aus seiner Sicht – also wollten diese freigelassenen Menschen herein (Perspektivwechsel heißt das, und das ist in diesem Text ein Fehler!). Doch wann haben die Menschen denn bereits herein gewollt, wenn sie es immer noch wollten? Schließlich fuhr der Zug ja definitiv nicht im Kreisverkehr, auch wenn Ich-Erzähler uns das weismachen will. Raus wollte aber keiner. Jetzt fährt der Zug mit offenen Türen weiter, und es geschieht etwas, was Ich-Erzähler uns kryptisch verschleiert: Raus wollte keiner so das es jedes Mal ein riesiges Gemenge gab bis der Bahnhof hinter uns lag.

Nach keiner und gab müsste jeweils ein Komma stehen, es müsste auch so dass heißen – aber das sind Kleinigkeiten. Es geht um den Inhalt: Wo findet denn ein Gemenge statt, wenn keiner raus will und keiner rein kann? Das ist doch sauber getrennt, also höchsten ein Gedränge in eine Richtung, nämlich in den Zug?

Damit nicht genug: Zwar kam keiner rein und keiner raus, aber: einige schafften es nicht, manche nicht wieder hinein (auch hier muss es herein heißen) … öhm, ähem, Hirnverrenk … WAS schafften EINIGE nicht? Schafften sie es nicht, nicht reinzukommen (kamen also versehentlich rein) bzw. nicht rauszukommen (und fanden sich unvermittelt auf dem Bahnsteig wieder)? Das ist Unfug der allergröbsten Art! zurück

Was jetzt in Potsdam besser sein soll, nur weil weniger Menschen sich ergebnislos hereindrängen wollten – Gedränge bleibt Gedränge! Dem Ich-Erzähler fällt seine Freundin wieder ein: Sie standen so nah beieinander, dass sie einander gegenseitig festhalten und nicht verlieren konnten … Dieses und befremdet heftig, denn normalerweise hält man einander fest, um sich nicht zu verlieren in einem Gedränge (Übrigens braucht es zu diesem Behufe in einem vollgestopften Zug aber kein Festhalten, da man nicht mal umfallen kann! Und verlieren geht schon gar nicht.).

Was des Protagonisten Platzangst anbelangt: Das ist gelogen! Denn er hat gar keine Platzangst, also die Angst, über große Plätze zu gehen (Agoraphobie)! Unser Ich-Erzähler hat genau das Gegenteil, nämlich die Angst, eingeschlossen zu werden oder zu sein, also in geschlossenen Räumen oder Menschenansammlungen (Klaustrophobie oder Raumangst). So viel Korrektheit sollte schon sein, egal, was Volksmund so von sich gibt!

Aber dass ihm seine Raumangst diesmal nichts ausmachte, obwohl er den Moment der Ankunft herbei sehnte (statt herbeisehnte) – das verblüfft mich doch heftigst: Stünde da weil statt obwohl – also das genaue Gegenteil! – hätte mir das überflüssiges Grübeln erspart. zurück

Munter torkelt der Unfug weiter: Der Ich-Erzähler will uns allen Ernstes davon überzeugen, dass eine Ewigkeit knapp eineinhalb Stunden dauert! Als sich endlich die offenen Türen öffneten, war es nicht so leicht, den Zug zu verlassen wegen der anderen Züge: Die kamen nämlich aus anderen Richtungen. Richtungen! Plural! Wir haben es hier nicht mit einem normalen Bahnhof zu tun, auch nicht mit einem Sackbahnhof, sondern einer Art Sternbahnhof (nun, wenn’s der literarischen Qualität dient …)! Und wenn aus anderen Richtungen Züge kommen, nicht weniger gefüllt mit Menschen, (gemeint ist mit nicht weniger Menschen; einfacher wäre ebenfalls vollbesetzte Züge), dann kann man schließlich nicht einfach aussteigen.

Warum man nicht aussteigen kann? Das weiß nicht einmal der Ich-Erzähler, es sei denn, er pflegt auf der Gleisseite auszusteigen.

Solche Albernheiten fallen schon nicht mehr auf, daran sind Leser dieses Textes inzwischen gewohnt! zurück

© 2014 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.