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Textkritik: Talent und Prüfung – Romananfang

Eine Textkritik von Malte Bremer

Talent und Prüfung

von André Moch
Textart: Romananfang
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Georg presste die Finger in seine Oberschenkel. Zugefallen ist ihm selten etwas. Aber Druck, ja, Druck hatte er immer.
Urgroßvater Dr. Franz Rathbach, Zahnarzt. Großvater Prof. Dr. Ernst Rathbach, Kieferchirurg. Vater Dr. Karl Rathbach, Zahnarzt. Mutter Dr. Maria Rathbach, Dozentin für Endodontologie, etablierte die Wurzelbehandlung per Laser.
Sein älterer Bruder Conrad war jetzt seit zwei Jahren in Südamerika. Auf Sinnsuche unterwegs mit dem Rad. Und damit Schuld an einer vorübergehenden Alkoholproblematik seiner Mutter. Für einen Winter waren Maria und Mariacron enge Freunde. Die Pflicht brachte sie zurück in die Bahn. Darüber waren alle froh. Auch Conrad, der ein knappes »Bin erleichtert STOP« aus einem chilenischen Bergdorf telegrafierte.
Aber der war da längst abgeschrieben und Georg der neue Hoffnungsträger. Dabei war nicht mal das Abitur in der Tasche. Die nächsten zehn Jahre Spitzenausbildung zum Dentalexperten aber fest eingeplant. Ein schlechtes Abi? Nun, die Rathbachs kennen alle und alle kennen die Rathbachs: Für Georg würde es an der Fakultät immer einen Platz geben.
Trotzdem wollte er glänzen. Wollte ihnen allen alle Ehre machen … irgendwie. Conrad, den verkappten Grafik-Design-Architektur-Typografie-Expertennerd, konnte er trotzdem immer verstehen. Und es war okay, dass er selbst nun maximal gepusht wurde. Georg war bereit »sich den Staffelstab zwischen die Zähne zu klemmen«, wie sein Vater gerne sagte. Doch das änderte sich, als er die Schülerzeitung entdeckte und der betreuende Lehrer seine Schreibe. Alles wurde anders an diesem Tag und Georgs stete Bereitschaft, der Rathbach’schen Dentaldynastie ein neues Kapitel zuzufügen, schwand. Ja, verpuffte. Mit jeder Reportage, jedem Kommentar, jedem Gedicht und bald mit jedem Blogeintrag, den er privat zu den Themen Politik und Popkultur ins Netz hackte.
Und jetzt? Jetzt saß er auf einem unbequemen beigen Plastikstuhl und wartete auf letzte Instruktionen. Für den nächsten Tag planten die Rathbachs eine Feierstunde mit Schampus und Lachsfisch. Aber erstmal war Montagmorgen. Prüfungsmorgen: Abitur, Deutsch-LK, mündlicher Teil.
»Rathbach, Georg! Sie sind dran.« Sein Deutschlehrer stand vor ihm.
Worms war in Ordnung und sah dem Comic Book Guy der Simpsons entsetzlich ähnlich.
»Na Georg, was gucken Sie denn so? Sie werden wohl kaum Probleme haben. Also kommen Sie gerade mit. Der Vorbereitungsraum ist gleich hier, Herr Schulz hat die Aufsicht. Setzen Sie sich. Hier sind die Aufgaben. Ich bin mir sicher, Sie haben sich gut vorbereitet. Warten Sie: Nehmen Sie noch Stift und Papier. Irgendwelche Fragen?«
Georg schüttelte den Kopf.
»Gut. Sie haben 15 Minuten. Ich hole Sie ab. Die Uhr läuft, bis gleich.«
Worms stapfte Richtung Tür.
»Böll?«, rief Georg in seinem Rücken.
»Böll, Nobelpreis 1972«, antwortete Worms, »15 Minuten!«
Die Tür schepperte ins Schloss. Georg öffnete den Umschlag. Tatsächlich: Zehn Zeilen aus »Ansichten eines Clowns«. Drei Aufgaben, eine entscheidend: »Heinrich Böll haderte zeitlebens mit der Bigotterie des katholischen Rheinlandes. Deuten Sie in diesem Kontext den Verfall seiner Hauptfigur Hans Schnier zum Ende des Romans.«
Man kann in einem System nicht funktionieren, das einen nicht lässt. Der Gedanke war schnell geschrieben. Nicht nur, dass es SEIN Buch war. Das war Georgs Thema!Da saß er nun.

Und seine Gedanken flogen davon und wurden Wolken. Schwarze Wolken. Mit bizarr blauen Blitzen. Er lehnte sich weit nach hinten, starrte an die Decke und spannte seinen Körper.
»Scheiße!«
Schulz sah auf. »Georg! Alles klar?«
Er nickte und ließ sich nach vorn fallen.
Was soll bloß werden? Vor seinen Augen poppten die Worte auf wie Kaugummiblasen. Was, wenn nicht Arzt oder gleich Dentalgenie? Etwa Medienmensch? Und selbst wenn er es wagte: Würden ihn seine Alten am Leben lassen?
Sicher: Er war jetzt 23, musste nach einem Unfall mit neun zwischendurch fast zwei Jahre komplett aussetzen, blieb nach der Reha gleich noch ein Jahr hängen und machte sich jetzt Druck. Seine Eltern? Machten sowieso welchen und die Gesellschaft obendrein.
»Die Gesellschaft«! Was für ein Scheiß! Erfolgreich sollste sein, einen ehrenwerten Beruf ergreifen, gegen die Demografie anzeugen, mindesten 2,7 Kinder bekommen. Am besten mit Mitte 20. Und dann sollste dir das natürlich auch alles leisten können, sollst deine Talente nutzen, musst dafür deine Seele verkaufen, deine Ideen und deine Persönlichkeit in Projekte buttern, und wenn du was mit Medien machst, Konzepte zusammenkloppen bis milliardenschwere Konzerne mit deiner knapp entlohnten Arbeit Millionen machen.
Werbetexter schloss er für sich also aus. Denn was machte das für’n Sinn?

© 2010 by André Moch. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Tempo, Biss, Humor, Distanz – So wünsche ich mir Romananfänge!
Wie erfrischender kommt das doch, wenn sich ein Protagonist quasi selbst vorstellt, als die häufig als Einstieg gewählten langweilig vor sich hin dümpelnden Biografien … Georg lebt bereits von Anfang an!

Die Kritik im Einzelnen

Das ist der erste der wenigen Sätze, die mir nicht behagen: Georg mag pressen wie er will, er bekommt niemals seine Finger in die Oberschenkel! Er vermag durchaus seine Hände auf die Oberschenkel pressen, er kann auch mit seinen Händen die Oberschenkel drücken (von mir aus hier auch seine, denn so ganz zu Beginn wäre nicht auszuschließen, dass er fremde Oberschenkel bearbeitet)– aber bitte nicht in! Wegen dem anschließenden Druck würde ich ein Drücken dem Pressen übrigens vorziehen! zurück
Das sind genau die überraschenden Formulierungen, die einen Text lesenswert machen – da werden ausgetrampelte Pfade à la »hatte ein Alkoholproblem« verlassen, und das macht Lust auf mehr, weil da jemand Lust am Schreiben hat! zurück
Das Wort lautete ursprünglich Grafikdesignarchitekturtypografieexpertennerd – Ich habe es entschärft, und sei es nur aus satztechnischen Gründen, schließlich erscheint dieser Text im Internet, und das beherrscht nun einmal aus verständlichen Gründen keine Silbentrennung! zurück
Schreibe ist so ein Müllwort, das jugendlich auftreten Wollende verwenden, weil irgendein Grufti in die Welt gesetzt hat, es sei besonders cool, da es angeblich Jugendliche verwenden. Ich ziehe Text oder Stil vor – oder Geschreibsel, wenn es mies ist. zurück
Das ist missverständlich: Georg ist schließlich kein Hacker, der in fremde Rechner eindringt und dort Texte ablädt (was eine harmlose Variante wäre). Gemeint ist sicher das Einhacken auf die Tastatur. Vielleicht wäre ein biederes ins Netz stellte sinnvoller. zurück
Sofern es ein Zitat von Franz Ferdinand ist, ist es okay; sonst würde ja Lachs genügen. zurück
Ich würde nach welchen ein Komma setzen, um zu verhindern, dass die Eltern SOWOHL Druck ALS AUCH die Gesellschaft machten: Machten sowieso welchen, und die Gesellschaft obendrein. zurück
Zweimal machen ist zu viel – warum können die Konzerne die Millionen nicht einsacken? Außerdem machen die keine Millionen mit seiner Arbeit, sondern dank seiner Arbeit. Zuletzt würde ich hier der Übersicht halber andere und notwenige Satzzeichen setzen – das sähe dann folgendermaßen aus: (…) und – wenn du was mit Medien machst – Konzepte zusammenkloppen, bis milliardenschwere Konzerne dank deiner knapp entlohnten Arbeit Millionen einsacken. zurück
Da oben ganz banal und schnoddrig sollste steht, darf hier ruhig fürn stehn – vielleicht sogar schon zu Anfang des Absatzes: Was fürn Scheiß! zurück

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