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Textkritik: Stimmen im März – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Stimmen im März

von Hagen von Sendling
Textart: Lyrik
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Schick das Dunkel ins Licht! –
Reiß die Bleiche vom Himmel! –
Die Kristalle wollen sterben
Erlöse sie!

Zünde den Regenbogen!
Ich will aufbrechen
Ins Blütenfeuerwerk

Worauf wartest Du?
Umarme mich! –

© 2001 by Hagen von Sendling. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ist das eine Parodie? Sollen hier die üblichen Frühlingsgefühle gekippt werden? Oder ist das unfreiwilliger Humor, weil die völlig überzogenen Bilder eigentlich tiefernst gemeint sind? Ich vermag das nicht zu entscheiden, denn mir fehlt eine zweite Stimme, die die Überschrift doch nahe legt: die müsste in einer einzeiligen (um die Form zu wahren) Schluss-Strophe zu Wort kommen und könnte antworten: »Nein Danke!« Dann hätte dieses Gedicht die Lacher auf seiner Seite und alle Brillen verdient!
So aber? Das Gedicht hat durchaus etwas für sich in seiner Reduktion auf wenige Elemente: die abnehmende Zeilenzahl, die Befehle, die Gedankenstriche, die lautliche Gestaltung (schick-ins-Licht; reiß-bleich…), die kaputten Bilder. Es könnte als Liebesgedicht gelesen werden angesichts des dräuenden Frühlings: in mir ist es so finster und der Himmel ist so bleich: umarme mich, Liebste(r), damit ich meine Starrheit verliere und meine Gefühle explodieren können; es könnte als Frühlingsgedicht gelesen werden: liebe Sonne, wärme ich, damit ich nach dem langen dunklen Winter vom Schnee befreit werde (vom Eise befreit sind …) undsoweiter undsoweiter undsoweiter ad libitum.
Ich werde vorsichtshalber nur eine Brille vergeben: wegen dem Handwerklichen, und weil ich eben nicht weiß, ob das Handwerkliche versehentlich ein ernst gemeintes Gedicht verhunzt hat oder ob die Verhunzung gewollt war.

Die Kritik im Einzelnen

Dieser Befehl hat es aber auch so was von in sich! Sollte jemand tatsächlich gehorchen, würde er sein schwarzes Wunder erleben: schließlich geht das Licht dabei elendig drauf, das Dunkle wird es mit einem Happs verschlucken – und es wird schön finster werden; denn da wieder einmal der Kitschkampf Lücht gegen Fünsternüs (oder umgekehrt) beschworen wird, muss leser davon ausgehen, dass der Befehlsgeber ein Anhänger der dunklen Seite der Macht ist (möge sie nicht mit ihm sein), schließlich erteilt er einen Mordauftrag – gegen wen auch immer: das Licht wäre in jedem Falle ausgerottet. Der anschließende Gedankenstrich lässt hoffen, dass der Befehlsgeber noch heute vergeblich auf einen willfährigen Dummkopf wartet! zurück
Fein: es hat sich kein Dummkopf gefunden, jetzt beruhigt sich der Oberbefehlshaber und startet einen zweiten Versuch: die Bleiche soll vom Himmel! Frage: wie kommt die dahin? Was will die da? Ich kenne Bleiche nur als den Ort, auf dem man frisch gewaschenes Linnen auslegt, damit die Sonne (statt dem weißen Riesen) für das weißeste Weiß unser aller Leben sorgt!
Oder ist damit so etwas wie Farblosigkeit gemeint, so eine Art leichte Leichenbleiche? Dann sollte es aber das Bleiche heißen (Ha: wozu habe ich einen Duden? Augenblick: Blei, Bleiasche  – nanu: brennt das denn? – , Bleibe, bleiben, Bleiberecht, bleich, Bleiche: die; – tja, aber das ist wieder die Persil-Konkurrentin). Egal. Mit dem Duden kommt man keinem Text auf die Spur!
Reiß die Bleiche vom Himmel – das könnte sogar ein bleiches weibliches Wesen sein, dass aus unerfindlichen Gründen am Himmel herum turnt. Wie auch immer: Auch hier redet der Oberbefehlshaber gegen eine Wand, denn wieder folgt ein Gedankenstrich, und wieder erneuert sich Leser-Hoffnung, dass kein Trottel sich finden möge, diesen unverständlichen Befehl auszuführen – denn der muss schief gehen! zurück
Der General ist unzufrieden mit seinem immer offener zutage tretenden Autoritätsverlust, versucht es jetzt auf der menschlich-esoterischen Schiene und wirbt um Verständnis: angeblich hat er davon Kenntnis erlangt, dass Kristalle sterben wollen (was Salzkristalle angeht: kein Problem, denn Sterben ist ihr ureigenster Zweck, dafür sind sie dann das Salz in der Suppe! Welches Kristall kann das schon von sich sagen? Selbst die Schneeflocke schmilzt hier beschämt vor sich hin!), und jetzt soll so ein Erlöserheini die Kristalle erlösen:
Erlöserheini: General, melde gehorsamst: kann Befehl nicht ausführen!
General: Was fällt Ihnen ein?
Erlöserheini: General, wünschen Sie, dass ich die Kristalle von ihrem Todeswunsch erlöse, oder wünschen Sie, dass ich die Kristalle in die Suppe werfe?
General: Welche Suppe?
Erlöserheini: Mit Verlaub: die symbolische, damit die Kristalle sich auflösen, also symbolisch sterben können!
General: Frechheit, ich lehne Suppen in jeder Form ab! Führen Sie unverzüglich den Befehl aus!
Erlöserheini: Wie Sie wünschen! (erlöst den General).
Die erste Strophe ist beendet; der Ton ist ziemlich gewalttätig und herrisch, der Inhalt trägt in seiner Verrücktheit parodistische Elemente; der Titel »Stimmen im März« deutet auf vorzeitigen Vorvorfrühling hin, und die Stimme (ich erkenne in dieser Strophe nur eine) ist ganz allein (siehe Gedankenstriche). zurück
Zünde die Bombe! Der Befehlston bleibt, unser General ist zunehmend verwirrt: jetzt sieht er schon einen Regenbogen als bedrohlich an und will ihn wegsprengen: erst hat er Angst vor dem Licht, dann vor irgendeiner Bleiche (schließlich liebt er Fünsternüs nur pur), dann vor lebendigen Kristallen, jetzt soll der Regenbogen dran glauben! zurück
Warum soll der Regenbogen gesprengt werden? Weil unser undichter General aus lauter Angst vor Licht in ein Blütenfeuerwerk aufbrechen will? Das leuchtet mir nicht ein! Zwar kann ich mir vorstellen, dass ein explodierender Regenbogen Farbsplitter versprüht: aber was will unser Licht-und-Farben-Hasser in einem Blütenmeer? HErr, errette mich aus dieser Fünsternüs! (HErr: Nix is!)
Die zweite Strophe findet ihr unrühmliches Ende, sie weist eine Zeile weniger auf, und es gibt nur noch einen sinnlosen Befehl, den wohl auch niemand befolgt, wie der Gedankenstrich am Ende zeigt! zurück
Ich denke ja nicht im Traum daran, so jemanden zu umarmen! So ein Nichtsnutz soll sichs gefälligst selbst besorgen. Er darf auch gerne seine absurden Befehle ausführen – ohne mich, und laber mich gefälligst nie mehr an! zurück

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.