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Textkritik: Ohne Drumrumlabern und Schmachtgesülze

Texte über Seelen- und Gemütszustände sind beliebt. Oftmals haben sie für den Verfasser oder die Verfasserin mehr therapeutische Wirkung als literarische für Leser oder Leserin. Nicht selten versinken solche Werke im Kitschgeschwurbel.

Doch es geht auch anders, wie unser Textkritiker an diesem Text zeigt. Nur Kleinigkeiten wären zu verbessern.

Ümitle karşılaşmak*

von Lula Witzescher
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

*Ümit ist ein türkischer Vorname, der Hoffnung bedeutet. Ümitle karşılaşmak heißt übersetzt »Begegnung mit der Hoffnung«.

Im August des vorigen Jahres hatte sie angefangen sich zu trennen. Zuerst trennte sie sich von einer alten Gewohnheit: Sie hörte auf, Menschen zusammenzubringen. Nachdem der Eindruck von Ungefälligkeit nachließ, trennte sie sich von ihrem liebsten Hobby: Sie hörte auf zu tanzen. Als Nächstes trennte sie sich von einer vertrauten Freundin. Um den Abschiedsschmerz nicht zu spüren, trennte sie sich von sich selbst.

»Nur im Bett zu liegen und Snooker zu gucken ist nicht gut«, sagte ihre Ärztin. »Warum?«, fragte sie.

Im Juni hörte sie auf zu warten. Sie gab die Hoffnung auf, dass ein Impuls sie befreien würde. Auf ihren stundenlangen Spaziergängen spürte sie die Unebenheiten des Bodens unter ihren Füßen. Sonst spürte sie nichts.

Dann war plötzlich Ümit da und riss ihr – so wie man ein festsitzendes Pflaster entfernt – mit einem Ruck die Decke der Dumpfheit weg. Sie fand sich wieder in einem fremden Garten und spürte vor allem eins: Lust. Das Herz, das sie öffnete, war leer und Ümit fand darin einen Platz wie ein Juwel, das sie zum Strahlen brachte. Ihr Blick wurde weit. Ümit lachte. Mit Erstaunen teilte sie die Freude. So ging es eine Weile.

Die anderen bemerkten es zuerst. »Du wirkst so glücklich!«, sagten sie und schoben hinterher: »Nicht, dass es wieder böse endet …« Sie versuchte gar nicht erst, es abzustreiten. Sie wusste, was zu tun war, damit ihr die Hoffnung nicht entglitt. Und ehe sie sich versah, verhörte sie sich. Wohl wissend begegnete sie der wachsenden Dissonanz, das Erleben wurde abgelöst vom stummen Warten.

Es blieb dabei: Ihre Wünsche waren unerhört. Begleitet von Verständnislosigkeit befreite sich das Bild von seiner Täuschung.

Zu guter Letzt schlug Ümit einen Nagel in die Wände der Wohnstatt, und ihr Herz erschlaffte. Sie saß ernüchtert und verließ den Ort dennoch nicht. Sie schaute zu, wie ihre Demut sich in Demütigung verwandelte.

Wochen später, als sie endlich sicher war, dass die Fläche ihrer Projektionen leer blieb, stand sie auf und ging. Auf ihren stundenlangen Spaziergängen spürte sie nichts, außer Trauer.

© 2016 by Lula Witzescher. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein gradliniger Text ohne das übliche dumpfe Drumrumlabern und Schmachtgesülze!
Das positive Gesamtbild trüben nur Kleinigkeiten, die sind aber schnell zu verbessern!

Die Kritik im Einzelnen

Wer des Türkischen mächtig ist, bekommt mit dem Titel sofort die metaphorische Erklärung des Textes mitgeliefert. Wer dies nicht ist, erhält sie mit der Sternchenerklärung auf die Nase gebunden. Ein guter Text muss sich jedoch nicht für alle selbst erklären. Also weg mit der wenig eleganten Kursiverläuterung! Wer Türkisch kann, der weiß hier mehr. Wer nicht, kann recherchieren und hat so eine kleines Aha-Erlebnis. zurück

Ein überaus gelungener Anfang: Rasant und lakonisch! zurück

Ich würde diese Decke der Dumpfheit eindampfen zu Dumpfheit – das genügt! zurück

Das ist Kitsch & Unsinn: Wieso sollte ein Juwel in ihrem Herzen sie zum Strahlen bringen? Ich empfehle dringend, ersatzlos zu streichen dieses wie ein Juwel, das sie zum Strahlen brachte. Man könnte allerdings zu Recht argumentieren, dass dieses Bild der Naivität der Protagonistin entspricht, was durchaus gerechtfertigt ist. Dennoch … zurück

Ist das Adjektiv stumm hier notwendig? Reichte nicht ein schmuckloses Warten als Gegensatz zum Erleben? Ich würde das Adjektiv entfernen! zurück

Das ist (absichtlich?) missverständlich: Unerhört bedeutet vor allem ungehörig und erst dann auch ungehört. Was ist hier gemeint? Beides? Blieben ihre ungehörigen Wünsche unerhört? zurück

Das geht gar nicht! Erstens: Wie kann man 1 Nagel in die Wände schlagen? Muss man ihn jedes Mal rausziehen und erneut einschlagen, bis man alle Wände gelöchert hat? Zweitens: Ümits Wohnstatt ist bekanntlich der Protagonistin Herz: Wie viele Wände hat ein Herz? Mein Vorschlag: Zu guter Letzt schlug Ümit einen Nagel in die Wand der Wohnstatt. zurück

Warum verließ sie den Ort dennoch nicht? Und welchen Ort? zurück

Hier wäre ein Kürzen angebracht, das die letzten beiden Sätze zusammenfasst; das läse sich dann so:
Sie saß ernüchtert und schaute zu, wie ihre Demut sich in Demütigung verwandelte. zurück

Endete der Satz einfach mit spürte sie nichts, erscheint mir das wesentlich stärker als mit diesem Nachklapp außer Trauer. Beim ersten stundenlangen Spazierengehen gab es nur noch äußere Wahrnehmungen (und keine inneren) – aber jetzt einfach gar nichts mehr … zurück

© 2016 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.