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Textkritik: Mit der schönen Müllerin – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Mit der schönen Müllerin

von Albrecht Verron
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Das Hasenbachtal, stelle ich mir vor, hätte gerade geschlossen, mag sein wegen Urlaubs der Hasen. Aber eines schönen Tages, wenn die Hasen wieder da sind, würden wir es doch noch erlaufen können. Es läuft uns nicht fort, einstweilen könnten wir es, könnte ich mir denken, auch mit anderen Tälern versuchen.
Wir liefen die Bäche hinauf und hinter, stundenlang, tagelang, du voran, ich hinterher am Stock, aber du ohne Stocken, Mühlbach, Dörsbach, Sülzbach, aber nicht den Hasenbach, wie gesagt, Mühlenbäche allesamt, denn überall sind hier einmal Mühlen gewesen. Begegnest du ihren schönen Namen, die auf alten Holztafeln stehen, so klappert dir jedes Mal eine herzliche Erinnerung. Real klappert es freilich nicht mehr unter den alten Mühlengebäuden, unterm Dach dagegen schon manchmal, denn sie sind ein wenig heruntergekommen; doch den alten Mühlenstolz haben sie beibehalten. Im oberen Jammertal, das der Dörsbach mit seinem melodiösen Geräusch füllt, gibt es, du erinnerst dich, noch ein letztes Mühlrad im Keller, das sich unter den Wasserwirbeln dreht und das man nicht sieht, aber doch hören kann, immerhin. Dort wohnte einst die schöne Müllerin, wie auch der Franz Schubert eine gekannt hatte. Seit sie aber nicht mehr Müllerin ist, die Frau Müller, die uns Mineralwasser und trockene Brezel verkauft, ist sie auch nicht mehr schön.
den Bachläufen weg, kann sein, stiegen wir dann zum Kloster Arnstein hinauf, droben siehst du seine hohen steinernen Bögen weiter himmelwärts steigen. Es ist gut ausruhen in der Kirchenstille dort. Wenn du durch eines der Fenster in ein rund geschnittenes Stück Himmel schaust, so wie ich immer in dein Gesicht schaue, dann überfällt dich ein plötzliches Wohlsein, und ein jedes sehnt sich, du nach einem jungen Gott, der dich ewig in Ordnung hält, ich nach dir und der schönen Müllerin. Dass ich euch in den Armen halten könnte für ein paar Augenblicke!
Jedoch, es muss weiter gelaufen werden. Laufen! Was läuft, lebt. Alles Lebendige läuft, mit und ohne Bein, kriecht, fliegt, schwimmt, bewegt sich, wächst und sinkt zurück. Curro, ergo sum. Selbst die dicksten Bäume streichen leichtfüßig durch die Wolken und sehen sich im großen Kreis immerwährend an Sonne, Mond und Sternen vorbeilaufen. Was ein Gefühl! Meine Gottheit wäre ein bewegender Geist, der uns endlos am Laufen hält, notfalls musst du dir das Geistige die Kehle hinablaufen lassen. Himmel vom Fass, wie der Rühmkorf sagte. Menschenskind, der Rühmkorf!
Abends, wenn wir zu Tische sitzen, müde und wohl vom langen Laufen, wie ich mir denke, dass wir dort säßen, dann laufen die Kellner, und je mehr wir ihnen auftragen, desto hurtiger wird uns von ihnen aufgetragen. Ganz ohne Zweifel haben sie ebensoviel Freude am Laufen wie die Wanderer und wie die vielen laufenden Wasser ringsherum. Wasser jedoch bringen sie uns nur zu Beginn, solange sie noch nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben, dann Wein, Lahnwein. Honni soit qui mal y pense! Gleichwohl hätten sie, so hätte ich es gern, auch noch andere Weine, die sie bereitwillig ausschenkten. Man müsste der Lahntäler Gastlichkeit ein großes Lob nachrufen, alles in allem.
der Bank aus, auf der wir, will mir scheinen, von der Rotenhöhe kommend, unsere Wandertage beendeten, hast du einen Blick über Weinähr hin ins Gelbachtal. Auch den Gelbach hätten wir nicht mehr ablaufen können. Der Gelbach und der Hasenbach stehen für die Aufgaben, die wir, um wieder auf dem Laufenden zu sein, noch würden erfüllen müssen. Sitzend und schauend, vom Umherschweifen gesättigt tief bis ins Gehwerk hinein, könnten wir uns des Gedankenschweifens lange enthalten. Allein die kleinen Glücksvorstellungen sind nicht zum Absitzen zu bringen, sie wandern unentwegt weiter im Kopf herum. Wie könnte ich, läuft es mir durch den Sinn, meine Wanderbeinchen frisch halten, dass sie nicht früh schon nach Beinhaus röchen? Du riechst nach den frischen Wassern, genau wie die schöne Müllerin, genau diesen Geruch, nehme ich mir vor, wollte ich dann mitnehmen, wenn ich nach Nassau hinunter ginge zur Bahn.
Ich kann aber nicht fort. Ich kann nicht gehen und auch noch weiter leben dazu. Ich könnte nicht lange am Leben bleiben in meinem Niemandsland von Stadt nach den drei Tagen Leben in den Tälern. Tatsächlich bin ich, nachdem ich tagelang kreuz und quer zwischen den Bächen umhergezogen war, nicht nach Frankfurt gefahren an diesem Abend. Ich habe auch gar nicht den direkten Weg nach Nassau genommen. Vielmehr bin ich von der Rotenhöhe aus in entgegengesetzter Richtung über den Berg nach Obernhof gerannt und auf der anderen Lahnseite durch den Wald nach Bergnassau zurückgekehrt, wo ich in der Nacht angekommen bin. Der Anton hat schon auf mich gewartet und hat gleich gesagt, dass ich nicht einfach fortlaufen darf. Das weiß ich schon, dass ich eigentlich nicht fortlaufen darf. Aber der Anton ist selbst schuld daran. Ich hatte ihm doch jeden Tag Grüße aufgetragen, aber ich glaube, er hat sie niemals ausgerichtet. Er sagt immer, ein Pfleger habe viel zu viel zu tun, und er sei schließlich kein Gemischtwarenladen, sondern eine staatliche Heil- und Pflegeanstalt. Ich mag seine witzigen Bemerkungen gern. Jetzt gibt es keinen Grund mehr zum Fortlaufen. Ich habe nämlich die Menschen, die mir draußen begegneten, alle schon gebeten, dass sie die schöne Müllerin von mir grüßen sollen. Es waren siebenundfünfzig, das habe ich mir genau gemerkt, einmal sogar eine Gruppe von neun Personen und acht Hunden. Sie waren sehr nett, haben freundlich gelacht und haben alle versprochen, dass sie die Grüße ausrichten werden.
Ach, wie wird sie sich freuen!

(Musik: G.F.Händel, »Wassermusik«-Suite, Sätze 2 (Menuett), 3 (Affettuoso) und 11 (Air), und Allessandro Marcello, Konzert für Oboe in d-moll, Sätze 2 und 3, Adagio und Presto (wird auch gern von Trompete in a-moll gespielt), und natürlich Franz Schubert, Liederzyklus »Die Schöne Müllerin«.)

© 2001 by Albrecht Verron. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein melancholisch-heiterer und sehr musikalisch-verspielter Text. Eine tiefe Verbeugung vor dem Autor!

Die Kritik im Einzelnen

Die Verbindung Stock – stocken ist bereits ohne dieses aber stark genug; ich würde darauf verzichten. Vielleicht wäre sogar eine Umstellung denkbar: du voran ohne Stocken, ich hinterher am Stock; das geht jedoch nur, wenn Stocken nicht gleichzeitig ein Ortsname ist … zurück
Auch hier: ich bin unkundig der räumlichen Gegebenheiten; sieht ein Wanderer das Kloster mitsamt seinen Bögen erst, wenn er auf dem Berg angekommen ist, so ist der Satz völlig korrekt; sähe er die Bögen bereits vorher, würde ich den Satz in einen relativen umwandeln: dessen hohe steinernen Bögen weiter himmelwärts steigen. zurück
Menschenskind, mein Gott Rühmkorf: das möchte ich aber so was von dick unterstreichen! Lyrik schreiben ist schön und gut, aber dazu gehört vor allem auch Lyrik lesen und lernen von den Großen: und Rühmkorf ist ein ganz Großer!
Und überhaupt: Rühmkorf und der Himmel: Wie das Auge austeilt, so empfängt es; / strömt dem Himmel zu – und trinkt ihn ex (La-Paloma-Lied); bis der Himmel haart (Wiegen- oder Aufklärelied); Nimm es für nichts, es sei als ein grobes Gelüst / dem Himmel beizuwohnen. (Bocks-Gesang); -höh! wie der Himmel ihm bis unters Haar schwappt (Selbstportrait 1958); Der Himmel wie ein Präser Gottes / über die entflammte Welt gezogen (Auf Sommers Grill)
Buchempfehlung? Gerne: Peter Rühmkorf, Lethe mit Schuß, Bibliothek Suhrkamp 1285 (Auswahl von Robert Gernhardt); Peter Rühmkorf, Gedichte; Rowohlt (herausgegeben und kommentiert von Bernd Rauschenbach). zurück
Bisher fand die Wanderung eigentlich im Kopfe statt: könnte ich mir denken / kann sein / wie ich mir denke / so hätte ich es gern / will mir scheinen / nehme ich mir vor ;dazu die Irrealis-Formen des Konjunktiv II, die sich auch noch Realis-Formen gleichen und einen eigenartigen Schwebezustand erzeugen (stiegen, liefen, beendeten);
Darüber hinaus wurde mit einer Partnerin gesprochen, die sich erinnert an örtliche Gegebenheiten, also (mit dem Erzähler-Ich?) schon einmal da war, was ein weiterer Beweis ist für eine Kopfreise (oder Gedankenspiel) wäre.
Jetzt bekommt diese Reise unvermittelt eine starke Realität: drei Tage lang war ich gewandert in diesen Tälern. Aus der Traum? Bleibt nur noch eine Erinnerung? zurück
Das Erzähler-Ich ist offenbar Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, der er entlaufen ist, um nach schönen Müllerin zu suchen. Also ein Verrückter? Schließlich gibt es die schöne Müllerin realiter nicht. Allerdings gibt es das Erzähler-Ich auch nicht! zurück
Diese Angaben waren vom Autor an den Text gehängt, gehören offenbar dazu: Händel habe ich mir angehört, Teile des Liederzyklus auch: ein Zusammenhang zu diesem Text ist hörbar – mehr kann ich dazu nicht sagen. zurück

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