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Textkritik: Intelligenztest – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Intelligenztest

von Franktireur
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Papa war enttäuscht von ihr, das sah sie ihm an.
Wieder und wieder sah er die Blätter durch, mit ernster Miene und verkniffenen Lippen.
»Ich verstehe das nicht! So viele richtige Antworten, und dann das hier!«
Er tippte mit dem Finger aufs Papier: »Oder hier!«
Wieder stieß sein Finger wie ein Dolch auf eine Stelle nieder. Während er die Blätter von vorne nach hinten und von hinten nach vorne durchsah, würdigte er seine Tochter keines Blickes. Mama klapperte in der Küche herum und ließ sich kein einziges Mal sehen.
Papa riss ein Blatt heraus, rückte seine Brille zurecht und stand auf: »Martha! Sieh Dir das nur einmal an.«
Mama erschien in der Türöffnung, mit einem Geschirrtuch in der Hand.
Papa hielt ihr das Blatt unter die Nase: »Deine Tochter hat Defizite, von denen ich nicht mal zu träumen wagte
Mama sah hilflos zu ihr und dann pflichtschuldig aufs Blatt.
»Ein Hund – eine Katze – ein Radio. Ist doch deutlich zu erkennen, nicht wahr, Martha? Eines der Bilder passt nicht in die Reihe. Und was kreist Deine Tochter ein? Die Katze! Ich fasse es einfach nicht. Derartiges findet sich noch einige Male in den Testbögen.«
Papa zog die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Nicht zu glauben«, murmelte er währenddessen. Dann setzte er die Brille wieder auf: »Na ja, nichts dran zu deuteln. Das Kind ist eben doch nicht so intelligent, wie wir es uns gewünscht hatten. Ich gehe ins Arbeitszimmer. Setz mir doch noch einen Kaffee auf, Martha, den kann ich jetzt gebrauchen.«
Er schob sich an Mama vorbei aus dem Zimmer.
Mama lächelte sie hilflos aufmunternd an: »Bleib ruhig im Wohnzimmer. Möchtest Du fernsehen? Lassie kommt gleich.«
Sie schüttelte den Kopf. Das hatte sie schon herausgefunden. Lassie kam angeblich immer, wenn Mama nicht mehr weiter wusste.
»Mach Dir nichts draus, Kind. Solche Fehler unterlaufen einem immer mal.«
Sie schüttelte den Kopf.
Fehler! Fehler!
Keine Fehler. Sie hatte den Kringel um den Katzenkopf gemalt, weil die Katze nicht in die Reihe passte. Das war richtig so. Für den Hund und für das Radio musste man Abgaben zahlen, für die Katze nicht. Wie oft hatte gerade Papa darüber schon lauthals geschimpft. Doch er hatte sie nicht einmal gefragt, warum sie die Katze mit dem Kringel ummalt hatte.
Die Prüfer sagten ›falsch‹, also war es falsch, meinte auch Papa.
Gerne, so gerne hätte sie es ihm erzählt.
Aber er hatte nicht gefragt, sie nicht einmal beachtet. Auch Mama fragte nicht.
Aber, auch wenn sie es getan hätten – wer traut solch eine Gedankenverbindung schon einem fünfjährigen Mädchen zu?!

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Zusammenfassende Bewertung

Eine pfiffige Tochter, dröge Eltern – es könnte eigentlich eine launige Erzählung sein.
Was ein ungetrübtes Lesevergnügen verhindert, sind allerlei Flüchtigkeitsfehler und Ungenauigkeiten. Auch Erzählungen fließen nicht aus Ärmeln …

Die Kritik im Einzelnen

Auch wenn die Sprache bewusst einfach und schmucklos einher schreitet, gibt es keinen Grund 2mal so kurz nacheinander sah zu verwenden. zurück
Mutter mit Geschirrtuch: Da meldet sich ein vollfettes Klischee – braucht es das? Beim Herumklappern in der Küche war bereits Gefahr im Verzug …zurück
Entgleist dem Herrn Papa die Sprache absichtlich? Oder pflegt er von Defiziten seiner Tochter zu träumen? Wenn ja, dann sollte er sich gefälligst freuen, dass sie alle seine heimlichen Wunschvorstellungen übertroffen hat! Vielleicht meint der Herr Papa aber eigentlich, dass seine Tochter Defizite hat, die er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen vorzustellen vermochte – alsdann wäre sein Verhalten verständlich. Also: Entgleist dem Papa die Sprache absichtlich, oder hat hier der Erzähler gepatzt? zurück
Wie ist das mit der räumlichen Anordnung? Vater sitzt im Wohnzimmer, das direkt an die Küche grenzt, die Tochter befindet sich im gleichen Raum, die Mutter klappert in der Küche. Vater steht auf und fordert seine Frau auf, sich etwas anzuschauen, woraufhin sie in der Türöffnung erscheint. Jetzt hält der Herr Papa ihr das Blatt unter die Nase, woraus zu schließen ist, dass er irgendwie vor seine Frau gekommen sein muss, deren Blick nun außer durch das Blatt auch noch durch ihren Mann verstellt ist. Wie aber kann sie dennoch ihre Tochter sehen? zurück
Warum wird Dein groß geschrieben? Es handelt sich keinesfalls um die persönliche Anrede in einem Brief, die übrigens seit der Rechtschreibreform inzwischen auch klein geschrieben wird! Sollte hingegen damit gemeint sein, dass SEINE Tochter niemals solche Defizite gehabt hätte, wohl aber die Tochter der Mutter, dann würde ich raten, deine eindeutiger hervorzuheben, damit es nicht wie ein Rechtschreibproblem aussieht, also etwa kursiv, mit Versalien oder gesperrt: deine Tochter – DEINE Tochter – deine Tochter. zurück
Erneut stellt sich die Frage nach dem Raum, jetzt aber nach der Zimmeranordnung im Haus: Offenbar muss Herr Papa durch die Küche in sein Arbeitszimmer, womit die Küche ein Durchgangsraum wird und davon auszugehen ist, dass das Wohnzimmer keinen weiteren Ausgang hat. Das erscheint mir höchst zwar sonderbar, aber dennoch möglich. zurück
Das kann ich mir nicht vorstellen, gleichzeitig hilflos und aufmunternd; vom Klischeecharakter der Mutter her würde hilflos genügen, das Aufmunternde wird verbal nachgereicht. zurück
Zimmer hatten wir gerade gelesen, jetzt darf die Tochter im Wohnzimmer bleiben, also da, wo sie sich eh gerade aufhält! Außer dem gedoppelten Zimmer stört die Anweisung: Wieso sagt die Mutter von sich aus nicht einfach »Bleib ruhig hier.«? Die Doppelung wäre weg, und die Tochter hätte es verstanden, es entspräche zudem der eher maulfaulen Mutter Martha. zurück
Dieser Satz ist verzichtbar, weil die Erläuterung auf dem Fuße folgt. zurück
Wie schon ganz zu Anfang gibt es auch hier Wortwiederholung, allerdings gleich doppelt: zwei aber an exponierter Stelle sowie zwei auch – das kommt nicht gut! Doch selbst wenn wäre z. B. eine einfache Alternative. zurück

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