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Textkritik: In dich – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

In dich

von Wilfried Bienek
Textart: Lyrik
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Auch schon mal in dich gegangen?
Verdammt große Räume.
Bescheiden möbliert.
Fenster mit Aussicht.
Andere verhangen.

Ein paar Zentimeter Teppich über dem Boden.
Staubfarben, klar.
An- und ausgehende Lichter.
Zeitweise trüber Geruch.

Übermalte Bilder von
Über-Malern.
Auch Fälschungen? Wer weiß!
Ein Fernseher mit kleinem Schwarz-weiß Bild.
Mit Sendungen aus den 50ern.

Eine Standuhr,
die ihrem Namen Ehre macht.
Eine bunt lackierte Tür.
Dahinter ein Plumpsklo mit Zeitungen
als Papier.

Menschen?
Die lieb und werten am Esstisch.
Vertieft ins Gespräch über
Thema Nummer eins:
Über dich, altes Haus!

© 2000 by Wilfried Bienek. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Zunächst gefällt mir, wie der Autor mit Lesererwartungen spielt, jedenfalls mit meinen: Angesichts der Überschrift sanken meine Erwartungen ins Bodenlose, denn in meinem Kopf brachen schlagartig schlimme Erinnerungen an kitschtriefende Liebesgedichte auf – doch schon in der folgenden Zeile bat mein guter Kern den Autor heimlich um Verzeihung: dass ich ihm so etwas zugetraut habe!
Ähnliches widerfuhr mir bei der vorletzten Zeile: »Thema Nummer eins«! Schade, jetzt hat das lyrische Ich am Ende doch noch nur Frauen im Kopf … – Pustekuchen: Wieder hat mich der Autor dran gekriegt. Heimlich entschuldigt habe ich mich allerdings nicht mehr bei ihm, sondern ich habe dem Schelm heimlich mit dem Finger gedroht. Dann gefällt mir: Der Autor nimmt eine Redewendung wörtlich, indem er sie mit einem umgangssprachlichen Idiom verknüpft. Klar, das ist nicht originell, schon gar nicht bei dieser Redewendung – aber das muss und soll es auch nicht. Entscheidend ist allein, wie der Autor das macht! In diesem Gedicht wird der Leser seinen Gedanken und seinen Gefühlen überlassen: schmucklose Satzfetzen, eine lakonische Bestandsaufnahme des Hausinnern, sachliche Adjektive (und die unerwartete Synästhesie trüber Geruch); nichts, was einem Gefühle aufzwingen will; nichts Belehrendes; nichts Tiefsinn-Vortäuschendes, dafür in der letzten Zeile ein kleines Augenzwinkern (Über dich, altes Haus). Der Autor macht ein Angebot. Und das ist gut so!
Dazu passt die Form (aber nur, wenn die 2. Strophe fünf Zeilen hat!!!); die erste, dritte und fünfte Strophe enthalten jeweils eine Frage, ein dich in der ersten und letzten Zeile schafft einen Rahmen; alle Sinne werden angesprochen (der Tastsinn bei Zeitungen als (Klo)Papier).

Dieses Gedicht öffnet im wahrsten Sinne des Wortes Räume für eigene Gedanken, Gefühle und Bilder, wenn man sich darauf einlässt; und je mehr ich mich darauf einlasse, desto mehr entdecke ich in dem alten Haus!

ALFONS herrscht ihn an: Hör auf mit diesem Ton! Geh lieber in dich!
Stille.
HUDETZ grinst: Wohin soll ich gehen? In mich hinein? Was tät ich denn da finden?
ALFONS Schau nach.
HUDETZ horcht auf und grinst nicht mehr.
Stille.

(Ödön von Horváth, Der jüngste Tag; Sechstes Bild)

Die Kritik im Einzelnen

Warum hat diese Strophe als einzige nur vier Zeilen? Liegt hier ein Übertragungsfehler vor? Gehört  vor Teppich ein Zeilenumbruch oder vor über – da ergäbe sich zudem eine formale Parallele zum gedoppelten Über der nächsten Strophe?
Sollte diese Strophe tatsächlich nur vier Zeilen haben, wäre ich ratlos, denn inhaltlich finde ich nichts darin, was diese besondere Formgebung rechtfertigen würde (Ich lasse mich gern eines Besseren belehren). In diesem Fall würde ich fordern: Umbrechen! Fünf Zeilen draus machen! Passend zu den anderen Strophen! Es nützt dem Gedicht, wenn der Leser nicht durch »zufällige« Besonderheiten auf Fährten gelockt wird, die in Sackgassen führen! zurück
Auf die Frage »Auch Fälschungen?« bekommt der Leser durch das anschließende »Wer weiß!« keine Antwort. Stünde die Frage allein, bekäme er ebenfalls keine Antwort: wozu also diese Nicht-Antwort-Antwort? Weg damit, auch um des überwiegenden sachlichen, ja lakonischen Tones willen; dieses »Wer weiß!« setzt einen geheimnisvoll-bedeutungsschwangeren Akzent, der sonst (erfreulicherweise!) durchweg fehlt: also weg damit! zurück
Die Sendungen aus den 50ern laufen fraglos im Fernseher, ein Radio ist schließlich nicht genannt. Auf Mit kann ebenfalls problemlos verzichtet werden, was wiederum den lakonischen Sprachstil unterstützte. zurück

© 2000 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.