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Textkritik: Hausapotheke – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Hausapotheke

von Sarah-Ilona Funken
Textart: Prosa
Bewertung: 3 von 5 Brillen

…nehmen wir doch für einen Moment an, wir könnten das Leben in kleinen Dosen zu uns nehmen, wann immer uns danach ist…

Das Schränkchen ist weiß, außen und innen. Es hat drei Ablageflächen aus vergilbtem Plastik, bei denen ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wie sie wohl vor dem Verfärben ausgesehen haben.
Ganz unten liegt die tägliche Dosis. Noch vor dem Zähneputzen hole ich mir davon, nehme einen tiefen Schluck aus der Flasche, schließe meine Augen und besinne mich auf Altbekanntes, fühle Gewohntes und glaube für einen Moment fast, ganz gewöhnlich sein zu können.
Manchmal schüttle ich die Flasche ein bisschen, das verändert den Geschmack und ich beobachte so gern die kleinen abgelagerten Partikelchen, wie sie durch die dickflüssige Flüssigkeit schweben, um sich nach gewisser Zeit doch nur wieder auf dem Boden zu sammeln und dort zu verharren.
Genau so lange, bis ich wieder in der Laune bin, sie tanzen zu sehen.

Auf der Ablagefläche in der Mitte habe ich direkt zwei Auswege. Rot und Grau.
Mit den roten Pillen kann ich jemand ganz anders sein. Und mein Gegenüber habe ich direkt dabei. Wir lachen und sind unbeschwert, ich gebe mich geheimnisvoll und bin stark, so stark, dass ich die Tabletten gar nicht immer brauche, dass ich sie manchmal, ohne sie zu schlucken, einfach wieder ausspucken kann, mit voller Wucht gegen den Spiegel, sodass sie noch ein klimpernd klirrendes Geräusch machen, wenn sie in den Spülstein fallen. Manchmal spüle ich sie dann einfach den Abfluss herunter, denn ich bin nicht auf sie angewiesen, sie haben keinen Wert.
Die grauen Pillen zeigen mir das Leben. Sie lassen mich den Regen sehen, den Wind spüren, sie brennen mir die Sonne auf den Leib.
Sie klären meinen Blick und richten ihn für einen Moment auf das Wesentliche, oder auf das, was mich im Wesentlichen traurig macht.
Sie erfrieren meine Tränen, sodass sie, auch wenn sie längst herausgeweint sind, nicht verschwinden, sodass sie nie nie wegtrocknen können, sondern auf ewig als vereiste Tropfen in meinen Augenwinkeln hängen.

Auf der obersten Ablage liegt die Lösung, der Ausweg, die letzte Tür. Die Nadel der Spritze ist schon benutzt, ihr Inhalt noch fast vollständig. Ich hab schon am Türknopf gedreht, die Tür schon geöffnet, bei den ersten Malen nur einen Spalt, nach und nach einen Blick mehr riskiert und inzwischen schon den ganzen Kopf durch die Tür gestreckt. Ich halte ihn mutig in den Gegenwind, in die strahlenden Farben und die seichte Musik. Ich halte ihn in das Ende, das doch gleichzeitig aller Freude Anfang sein könnte.
Ich kann die Spritze nicht verschließen, und so trocknet mir die Flüssigkeit langsam weg. Entweder ich brauche sie auf, oder sie wird sowieso irgendwann einfach nicht mehr da sein, sie wird sich verflüchtigt haben, vielleicht in kleinsten Spuren auf den Schranktürchen liegen und mich mit ihrem Duft an nie genutzte Chancen und eingestürzte Träume erinnern.

Was, wenn ich das verhindere, wenn ich nicht will, dass das Schränkchen bekommt, was mir zustehen könnte, was, wenn ich mir die ganze Ladung schenke, die Tür weit aufreiße und auf die Wiese renne, die sich mir zeigt? Was, wenn ich mich dort fallen lasse, mich in den stacheligen Blumen wälze und den Duft des Plastikgrases ganz in mich aufsauge?
Ich weiß nicht, ob ich dort bleiben dürfte. Ob sich nicht doch plötzlich die Tür noch einmal öffnet, oder eine andere, ob nicht plötzlich ein langer Arm nach mir greifen wird, an mir zerren wird, um mich dorthin zu bringen, wo ich noch nicht einmal mein Schränkchen habe und mir das verweste Gras an meinen Füßen als einzige Erinnerung an die Freiheit bleibt?
Was, wenn ich die Tür von innen öffnen möchte, wenn ich gehen möchte, meinen Schrank aufzufüllen?

Heute Morgen bin ich ins Bad gegangen, verschlafen tapste ich zum Spiegel, schaute hoch und bemerkte es sofort.
Mein Schränkchen war weg. Und damit alles vorbei.

© 2003 by Sarah-Ilona Funken. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Schade: Die angekündigte Absicht gerät im Verlauf des Textes überraschend früh aus den Augen & dem Sinn. Sprachlich sind durchaus gelungene Passagen vorhanden, es werden aber zu viele Worte gemacht; insgesamt fehlt der Erzählung eine zielgerichtete Durchformung: Was will ich eigentlich erzählen? Und wie erzähle ich das, was ich eigentlich erzählen will? Es bleibt bei guten Ansätzen.
Leben in kleinen Dosen: ich werde irgendwie den Verdacht nicht los, das hierbei fälschlicherweise an Drogen statt Leben gedacht wurde; dafür spricht die Hierarchie von unten nach oben in der Folge Flasche – Pille – Spritze, die inhaltliche Steigerung: Leicht bewegte Normalität – Persönlichkeitsveränderung – SchmerzLust (stachelige Blumen und verwesendes Plastikgras), und wenn man so will: Alkohol – XTC – Heroin (aber das sind nur Assoziationen). Wäre das gemeint gewesen, müsste das Vorwort geändert werden. Ich jedenfalls habe es beim Wort genommen und daran die Erzählung gemessen.

Die Kritik im Einzelnen

Wir nehmen also an, dass man das Leben in kleinen Dosen zu sich nehmen kann, wann immer einem danach ist. Das heißt: nehme ich keine Dosis, dann hat sich’s ausgelebt – ich muss mich also darum kümmern, dass die Hausapotheke immer gut gefüllt ist. Richtig? Richtig!
Im untersten Fach lagert gewissermaßen der Alltag, der sich in engen Bahnen ändert, wie es anschaulich im Bild der schwebenden Partikel dargestellt wird, die immer wieder unweigerlich auf dem Boden der Tatsachen landen. zurück
Da gefällt mir vieles nicht: zunächst einmal würde ich statt auf der Ablagefläche in der Mitte lieber lesen: auf der mittleren Ablage, im vorigen Absatz hieß es schließlich schlicht ganz unten. Dann irritiert mich dieses direkt – es könnte wie das Umgangssprachliche verstanden werden, also im Sinne von sogar, was inhaltlich passen würde; passen könnte auch zwei direkte Auswege, wenn es denn Auswege wären: ich erinnere daran, dass alle Mittel in der Hausapotheke lebensnotwendig sind; woraus aber soll Leben der Ausweg sein? Der Ausweg aus dem Tod? Besser stünde hier zwei Möglichkeiten, und der ganze Satz könnte lauten:
Auf der mittleren Ablage bieten sich sogar zwei Möglichkeiten: rot und grau.
Ich empfehle den Doppelpunkt, denn die beiden Möglichkeiten folgen unmittelbar! zurück
Jemand ganz anderes? Oder nur ganz anders? Ich vermute, das verdankt sich einer nachträglichen Korrektur, die unkorrigiert geblieben ist… zurück
Das ist schlechterdings unmöglich, denn jetzt wird die Grundannahme verletzt! Es ließe sich aber retten, wenn hier der Irrealis verwendet würde: der unterstützte zusätzlich die Stärkefantasien! Weiter: wenn ich etwas geschluckt habe, tue ich mich verdammt schwer, es wieder auszuspucken, es sei denn, ich bediene mich bestimmter unappetitlicher Techniken. Also kann hier weiter gekürzt werden. Aber der Satz ist noch nicht zu Ende: zurück
Klimpernd klirren ist Geräusch genug, da muss kein Geräusch mehr draufgesattelt werden. Eine Gesamtlösung folgt gleich, denn der Satz ist immer noch nicht zu Ende: zurück
Nur eine Kleinigkeit: fallen sie regelmäßig in den Spülstein? Oder springt die Pille der Ausspuckerin ins Gesicht zurück oder bleibt sie am Spiegel kleben (was ein anderes Geräusch wäre) oder stürzt sie sogar auf den Boden? Wenn sie regelmäßig im Spülstein endet (offenbar putzt sich die Icherzählerin die Zähne in der Küche, wo es kein Waschbecken gibt, und hat über dem Spülstein ihr Plastik-Badezimmerschränkchen hängen; je nun: warum nicht?), lässt sich auf die Bedingung verzichten. Das nur als Vorlauf für meinen Verbesserungsvorschlag:
Wir lachen und sind unbeschwert, ich gebe mich geheimnisvoll und bin stark, so stark, dass ich die Tabletten gar nicht mehr brauchte, sondern ich sie einfach mit voller Wucht gegen den Spiegel spucken könnte, sodass sie klirrend in das Waschbecken klimperten. zurück
Wie ist die Protagonistin in den Abfluss geraten, da sie die Pillen zu sich her spülen kann? Es muss hinunter heißen, falls man sich nicht damit begnügen kann, sie  einfach in den Abfluss oder weg zu spülen. Dieses Teilsätzchen könnte nahtlos dem vorhergehenden angehängt werden: . in das Waschbecken klimperten, wo ich sie wegspülte. zurück
Selbstverständlich nicht, ist doch schon gesagt worden, dass jemand die Pillen nicht braucht (dennoch ist die Icherzählerin objektiv auf die Pillen angewiesen wegen ihrer lebenserhaltenden Wirkung – aber die Einleitung scheint endgültig ad acta gelegt worden zu sein); jedenfalls ist der Rest ab dem letzten Link überflüssig. zurück
Die grauen Pillen lassen den Regen sehen, sie lassen den Wind spüren, aber sie brennen die Sonne auf den Leib. Eine Erklärung für dieses eigenwillige Pillenverhalten habe ich nicht; ich wäre damit zufrieden, wenn sie Wind und Sonne spüren ließen – doch wer will schon, dass ich zufrieden bin? zurück
Ist das Absicht oder Versehen? Erfrieren ist ein intransitives Wort, transitiv wäre einfrieren: die graue Pille könnte die Tränen einfrieren oder vereisen lassen (auf dem lassen beharre ich jetzt). zurück
Da hat sich eine Menge angesammelt: 1.) Warum hängen die vereisten Tropfen nur in den Augenwinkeln, wenn alle Tränen vereist werden, auch, die schon längst herausgeweint sind? Wurde bislang nur einmal geweint und das bereits im Ansatz erstickt? 2.) Eis trocknet sehr wohl, auch ohne Umweg über Zu-Wasser-Werden: wer einmal Wäsche bei konstanten Minustemperaturen zum Trocknen aufhängt, wird diese Erfahrung auch in unseren Breiten machen können – sofern er nicht dringend auf die Wäsche angewiesen ist… 3.) Wenn Tränen erfroren werden (was nicht geht, aber man weiß ja, was gemeint ist), dann werden sie – man höre und staune – zu vereisten Tränen! Das ist geradewegs so, als ob, wenn jemand stürbe, dieser in der Regel so stirbt, dass er hinterher tot wäre: der nackte Wahnsinn! Deswegen muss man eigentlich beides nicht besonders hervorheben. 4.) Außer der Ewigkeit ist nichts ewig: das ist ein viel zu langes Wort! Oder ist nie nie noch länger – wobei sich zum zweiten Male die Frage stellt: liegt hier ein Korrekturfehler vor oder wurde bewusst Umgangssprache gewählt?
Es wäre so einfach gewesen: Sie lassen meine Tränen in den Augenwinkeln einfrieren.
So; das zweite Fach wurde fachfraulich begutachtet, der zweite Absatz ist beendet, es folgt der dritte Absatz und damit das dritte Fach: immerhin stimmt bis jetzt die Form! zurück
Drei Nomen werden hier präsentiert, aber keines hat irgendetwas mit der Einleitung zu tun: es geht schließlich keinesfalls um Lösung oder Ausweg oder um eine letzte Tür (wo sind denn – bitteschön – die anderen Türen?!), sondern um die freie Wahl zwischen drei (vier?) unterschiedlichen Lebens-Dosen (ein saublöder Plural, das!). zurück
Was hier mit dem Bild Tür gemacht wird, ist in Ordnung, aber es passt halt nicht zum angekündigten Vorhaben. Ungeklärt ist, wieso Gegenwind identisch sein soll mit dem Ende – aber hier kann ich nichts verbessern. zurück
Auch hier wieder fette Wiederholungen: die Flüssigkeit trocknet langsam weg, die Flüssigkeit wird irgendwann nicht mehr da sein, die Flüssigkeit wird sich verflüchtigen: ja, ja und nochmals ja: ich hatte es doch schon bei wegtrocknen kapiert, und eine Steigerung findet nicht statt, im Gegensatz zu den verschiedenen Türöffnungswinkeln zuvor! Auch das wäre schnell zu bereinigen:
Ich kann die Spritze nicht verschließen! Entweder brauche ich sie auf, oder der Inhalt wird sich verflüchtigen, sich vielleicht in kleinsten Spuren auf das Schranktürchen legen und mich mit seinem Duft an nie genutzte Chancen und eingestürzte Träume erinnern. zurück
Dazu fällt mir nichts ein, das heißt: dazu könnte ich eine Menge sagen, aber ich mag nicht, denn der ganze Absatz hat überhaupt nichts mehr mit dem Thema zu tun: was soll denn ein Plastikschränkchen mit einer Dosis Leben anfangen??? Und wie verwest Plastikgras??? zurück
Der letzte Absatz ist in Ordnung bis auf die letzten vier Wörter (wer es genau wissen will: Und damit alles vorbei): sofort eliminieren!!! Das ist schon kein Zaunpfahl mehr, da bekommt der Leser einen ausgewachsenen Zaun um die Ohren! zurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.