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Textkritik: Fundbüro – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Fundbüro

von Frank Reinhard
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Heute Morgen erwachte ich von einer Überraschung. Ich lag auf dem Boden, mein Zimmer gähnte mich an, umgab mich mit leergeräumter Gleichgültigkeit, die Wände waren nachts geweißelt worden, wer außer mir besitzt einen Schlüssel zur Wohnung, überlegte ich laut, und wie haben die Diebe, ich legte mir bereits Absicht und Kausalität zurecht, das Bett unter meinem Schlaf hervorziehen können, nicht einmal die Postkarte hing mehr über meinem Kopf, die von Schiele, mit seinen beiden Händen, 1917, gefaltet, als würden sie beten, sehnig und grob, durchfahren von Adern und Venen, sie haben mir immer Halt gegeben, gerade wegen des plötzlichen Abbrechens hinter den Ellbogen.
Nach einer kurzen erschreckten Bestandsaufnahme – Bad und Küche waren verschwunden, wo sonst die Türen wenigstens Möglichkeit gaben stehen zu bleiben oder weiter zu gehn, stieß ich jetzt auf sauber gestrichene Wand, nicht einmal Narben fielen mir auf, als wäre dort vorher nichts Anderes gewesen – begab ich mich in die Stadt um auf dem zuständigen Amt den Verlust anzuzeigen.
Die Schlange vor dem Schalter war lang, es dauerte eine Weile, bis man die Person hinter dem Glas ausmachen konnte, ein feistes geschlechtsloses Gesicht, stark überzogene Brauen, rote, umrandete Augen, ein geschwollener Mund, dessen schiefe Oberlippe akuten Herpes folgern ließ, beide Oberarme dermaßen dick, dass der Hemdsstoff, eine seidige Imitation, wie die Epidermis einer Wurst um sie herumlag. Etwas angeekelt wandte ich mich dem amtlichen Bogen zu, welchen man auszufüllen hatte.
Da keine Tische zur Verfügung standen, nur einer, weit entfernt, es wäre ein Wahnsinn gewesen den Platz in der Schlange zu verlassen, nutzte man jeweils den Rücken des Vorstehenden zum Schreiben, eine krakelige Angelegenheit. Der Bogen war übersichtlich gestaltet, aber mit unmöglichen Fragen und Leerstellen bevölkert, schon die erste Angabe, Name und Herkunft, schien mir unlösbar. Ich schielte auf das Blatt meiner Vorfrau, eine schlanke Wohlform, sie hatte mit Kugelschreiber einen langen Strich über die erste Seite getan, Name, Herkunft, Wohnort, Blutgruppe, Größe, Aussehen, Anzahl der Kinderkrankheiten, Familienstand, Beruf, Vorstrafen. Sie bemerkte meinen schmulenden Blick und wandte mit fragendem Ausdruck den Kopf. Es war nicht zu erkennen, ob der Ausdruck auf mich bezogen oder durch mich hervorgerufen wurde.
Ist Ihnen aufgefallen, begann ich leise und verlegen, alle persönlichen Angaben sind offensichtlich nicht durchführbar, woran das wohl liegen mag. Sie hob ihre Schultern, eine lange Bewegung, in die ich mich ohne Zögern verliebte, und sagte, mag sein, das liegt an dem schleichenden Verlust, über Nacht, und wie geht es Ihnen? Jemand weiter vorn in der Reihe sah zu uns herunter, das alles sind Angaben, die von der zuständigen Behörde gemacht werden, deshalb sind Sie doch da, nicht wahr, woher sollen Sie dergleichen denn wissen, aber Sie werden sich einen neuen Bogen besorgen müssen, wenn Sie Vermutungen angestellt haben, nicht wahr, machen Sie sich auf einigen Ärger gefasst, es reißt Ihnen jeder den Kopf ab hier, auch wenn Ihr Gesicht bereits fehlt.
Ängstlich und eingeschüchtert sahen wir uns an, ob ein Durchstreichen wohl schon eine Vermutung ist, ihre Hände begannen zu flattern, einen Moment später auch meine, als stünde ich in irgendeiner Verbindung mit ihr, ich weiß nicht, aber vielleicht können Sie den Durchschlag noch nutzen, wenn der Kugelschreiber nicht zu stark durchdrückt. Dankbar lächelnd wandte sie ihren Kopf wieder nach vorne und ließ ihre Schultern sinken, ich hatte Lust sie zu streicheln, tat es aber nicht.
Hinten, am Eingang, entstand ein Getümmel, als ein Mann sich in die Reihe der Stehenden drängte und murmelte, schimpfte, den Blick auf den Boden gerichtet, mit seinem dunklen Gesicht nach den zurecht zürnenden Menschen ausschlagend, er trug eine sibirische Pelzmütze, einen langen Lodenmantel, die linke Hand hielt, wie im Krampf, einen schwarzen Aktenkoffer, vielleicht ein Beamter, sagte die Wohlform vor mir, mag sein. Wir sahen uns stumm an, sie legte sich in meine Augen, aber als meine Lider sich senkten, verließ sie die Iris jäh und mit furchtbarem Atem und ich wusste nicht, ob ich etwas erwidern sollte.
Das ist nicht der richtige Weg, flüsterte sie vor sich hin, wie bitte, ich beugte mich an ihre Schulter heran, an die linke, in die ich mehr als in die rechte verliebt war, das ist nicht der richtige Weg, flüsterte sie noch einmal, deutlicher jetzt und zu mir gewandt. Inzwischen waren wir kurz vor dem Schalter zu stehen gekommen. Als ich zur Seite sah, blitzte mich fremd und zu nah jener boshafte Blick an, den ich zuvor schon gesehen hatte, lass mich bloß vor, du seniler Berührbarer, zischte der dunkle, fast schwarze Mund in dem verrückten Gesicht.
Ich besann mich einen Augenblick lang, der Mann sah zu meiner Vorfrau hin, zischte, er lässt mich nicht vor, ich habe ein Recht darauf, sagen Sie ihm verdammt noch mal, er soll mich jetzt vorlassen, he, hören Sie mich, und sie drehte sich um, ohne Erstaunen, musterte mich, als sähe sie mich zum ersten Mal, nun machen Sie ihm doch Platz, vielleicht geht es dann schneller, ich spürte den Trotz in mir, sagte, ich sei zuerst hier gewesen und immerhin habe er kein zugelassenes Signal, wenn er es hätte, würde ich gerne zur Seite gehn.
Dann aber, plötzlich und ohne zu wissen warum, nahm ich die Hand des dunkelhäutigen Mannes, führte sie an meine Stirn, küsste sie und sah in die blitzenden Augen, die langsam verschwammen, weil wir uns nah standen, du bist nicht der Erste, du hast nichts zu tun, aber wir sind alle gesichtslos, warum willst du das nicht endlich verstehen, komm endlich herunter von deinem Baum und gib denen zurück, die du bestohlen hast, ich weiß es doch, wir wissen es alle hier, du musst dich nicht länger verstecken, du musst nicht den Amtsweg beschreiten, damit du nicht bloßgestellt scheinst, gib dich auf, sag, dass du Dieb bist, gestohlen hast, sag es, aber da lief er schon weinend weg, eine Treppe hinunter, ins Freie, das vorher nicht da gewesen war, und meine Wohlform lief ihm hinterher.
Ich hatte meinen Platz gerettet, sogar einen dazu gewonnen, worauf es mir immer nur ankommt, reden und einlullen, die Tiefen der andern berühren, damit sie sich loslassen und fortlaufen, damit ich den Platz nehmen kann, den sie freigeben, ich stand direkt vor dem Schalter, aber was hatte ich gewonnen, das feiste Gesicht sah mich an, drückte mir einen Türschlüssel in die Hand, sagte, sehen Sie dort nach, und die spiralförmigen Schallwellen seines Lachens drückten mich fort, aus der Reihe, dem Gleichmaß hinaus.

© 2000 by Frank Reinhard. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine meisterliche Erzählung! Und eine tiefe Verbeugung meinerseits!
Der Verzicht auf Vordergründiges, der durchgehalten-atemlose Stil, das Selbstverständliche des Bizarren, Absurden, Unerwarteten, die präzise sprachliche Gestaltung: eine wunderbare Komposition!

Die Kritik im Einzelnen

Das kann nicht sein: die Überraschung wird durch eine Veränderung bewirkt, die frühestens wahrgenommen werden kann mit dem Aufwachen; die Überraschung ist also nicht Ursache des Aufwachens, welches Missverständnis durch die Präposition von provoziert wird: Heute Morgen erwachte ich mit einer Überraschung träfe den Sachverhalt besser! zurück
Sicherlich ist die Bestandsaufnahme nicht erschreckt (was ja nur ein Augenblick ist), und auch nicht erschrocken: das ist der Bestandsaufnehmer. Die Partizipialkonstruktion führt in die Irre, denn das Subjekt muss genannt werden: Erschrocken machte ich eine kurze Bestandsaufnahme. zurück
Es handelt sich um zwei Möglichkeiten, müsste also Möglichkeiten heißen; ersetzte man gaben durch eröffnen, fände sich ein weiterer Bezug zu Türen: ., wo sonst die Türen zumindest die Möglichkeiten eröffneten, stehen zu bleiben oder weiter zu gehen, . (jetzt bleibt nur noch die Möglichkeit, stehen zu bleiben). zurück
Dieses Wort lese ich zum ersten Mal (Word – immer wachsam – schlägt Erstaunliches als Verbesserung vor: Schmuländen z.B.: was in Bill Gates Namen soll denn das für eine Verbesserung sein? Was soll das überhaupt sein?). Hat schmulen was mit Schmu zu tun, diesem leichten Betrug? Ah jetzt: da: Duden weiß: landsch. für verstohlen blicken, schielen! Gefällt mir, dieses Wort! Wüsste jetzt noch gerne, in welcher Landsch. solch hübsche Wörter gebräuchlich sind. zurück
Wenn von der zuständige Behörde diese Angaben bereits gemacht werden: wozu müssen dann die Bögen noch ausgefüllt werden? Sind es Daten, die die Behörde einmal erhoben hat und jetzt zur Kontrolle erneut verlangt? Sind es Daten, die die Behörde hier neu erhebt? Ich verstehe den Satz nicht. zurück
Ich bin mir nicht sicher – aber: mehrmals habe ich Atmen gelesen, das erschien mir unbewusst offenbar einleuchtender: Und ich muss meinem Verleser Recht geben: sie verließ die Iris jäh und mit furchtbarem Atmen; hier unterstützte ein plötzliches furchtbares Atmen  das jähe Verlassen: Das wäre ein einmaliges, besonderes Atmen gegenüber dem normalen, während ein furchtbarer Atem einfach ein furchtbarer Atem wäre, also ein beständiges furchtbares Atmen. zurück
Dieses Teilsätzchen darf getrost fehlen: es folgt weder positive noch negative Reaktion der gestreichelten Wohlform, sondern unser Protagonist wird durch das entstandene Getümmel abgelenkt (was ich mich freue, sogar in diesem vorzüglichen Text etwas zum Streichen gefunden zu haben .) zurück
Ach: warum ausgerechnet hier die schöne Wohlform zu einer nüchternen Vorfrau degradieren, wenn Pelzmützen-Ekel sich gerade an sie wenden will? Lieber Frank Reinhard: Lassen Sie der Wohlform ihren angestammten Namen! zurück

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