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Textkritik: Freitod – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Freitod

von Janine Kecskes
Textart: Lyrik
Bewertung: von 5 Brillen

Wenn leben nur noch leiden heißt,
wenn Trauer Momente des Glücks zerreißt,
wenn die Sonne dunkel auf uns scheint
und die verlorene Kindheit in uns weint.

Wenn Liebe nur von Angst erzählt,
die Hoffnung stirbt und weiterquält
uns der Gedanke, allein zu sterben
und überall sind nur noch Scherben,

zerbrochen all das Glück und Licht,
man sucht es, aber findet nicht,
weil Verständnis nach Beweisen schreit,
dann heilt nicht mal mehr die Zeit
die Wunden der Vergangenheit,
und alles ist zum Tod bereit.

Wenn jeder Schritt unmöglich ist
und man den Weg zum Ziel vergisst
Gefühle nicht mehr fühlbar sind,
wenn Augen nicht mehr sehn und blind
die Leere uns vor Augen führen,
dann kann uns niemand mehr berühren.

Wenn Atem sich nach Stillstand sehnt
und dabei schon am Grabmal lehnt,
bereit das Dunkel zu betreten,
könn’ noch so viele Engel beten,
Gebete werden ungesehen
mit letzter Hoffnung untergehen.

Wenn Monster uns bei Nacht besuchen,
wir Lust und Leid und Kampf verfluchen,
wenn niemand uns die Hände reicht
und Wut sich durch den Körper schleicht
zu suchen einen Ort zum Wohnen
bei all dem Bösen der Dämonen.

Wenn Ohnmacht alle Sinne raubt,
man selbst sich nicht das Glück erlaubt,
wenn Stärke und Schwäche im Kriege liegen,
kann immer nur der eine siegen.

Wenn Geister vorbei gehn, in Schwarz gehüllt
mit Körben, die randvoll mit Erde gefüllt,
ein Lächeln auf all ihren blassen Gesichtern
und in ihren Händen dir zeigen mit Lichtern
den Weg, der nach unten führt, um zu erlösen
den Geist, deine Seele von all diesem Bösen.

Wenn das Flüstern im Kopf wieder anfängt zu schrein
und man sucht nach dem warmen, erlösenden Schein,
der versprochen so oft schon am Ende des Lebens,
doch man findet ihn nicht, es scheint alles vergebens.

Wenn sich das eigene Ich verändert,
einem Tag zum nächsten schlendert,
am Leben nur aus Pflichtgefühl,
längst aufgegeben im Gewühl
nach Hoffnung, Licht und Glück zu suchen

© 2004 by Janine Kecskes. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Dumpfgebrumme.
Freitod ist ein alberner Euphemismus für Selbstmord, denn dieser ereignet sich gerade nicht frei, sondern in psychischen Ausnahmesituationen; und er ist in den allermeisten Fällen längerfristig geplant. Nimmt man das Wort Freitod ernst, so müsste sich einer aus Jux und Dollerei aus dem Leben befördern. Oder sollte diese Überschrift gar ironisch gemeint sein? Denn hier wird kein Klischee ausgelassen, und deren gereimte Zusammenklumpung ist nachgeradezu sensationell schräg!
Und manchmal frage ich mich, aber nur ganz zaghaft: warum bekomme ich immer wieder solche Texte zugeschickt? Ich gehe eigentlich davon aus, dass Zuschicker meine Kritiken lesen und verstehen; doch die Zweifel werden größer: irgendwie wollen manche nicht begreifen, dass herausgeschriene Gefühle nur Geschrei sind, ausgebreitete Gefühle nur Brei, dass zu literarischen Texten Arbeit an Wörtern und Bezügen gehört, eine ästhetisch-symbolische Verdichtung! Dank dieses Unverständnisses könnte ich die nächsten beiden Jahre nur solche Verrisse schreiben – genug Material hätte ich! Zum guten Glück gibt es aber noch genug andere!

Die Kritik im Einzelnen

Dass alles Leben nur Leiden ist, weiß allerspätestens seit Buddha jeder, der es wissen möchte, und jener weiß und weist immerhin den achtfachen Pfad, das Leiden zu überwinden. Hier aber bekommen wir 10 unterschiedliche Abschnitte serviert, die so gar nicht zueinander passen wollen: denn wenn alles leben nur noch leiden heißt, wie kann es dann noch Momente des Glücks geben? Aber die muss es laut Gedicht geben, sonst wäre die Trauer arbeitslos, hätte nichts zum Zerreißen! Da könnte einem die Trauer doch wahrhaftig Leid tun! So aber ist sie zum Glück beschäftigt (kann Trauer Glück haben?), und darüber hinaus weiß jetzt endlich jeder, der es noch nie wissen wollte, was dieses Dumpfwort »Trauerarbeit« letztlich bedeutet: es ist ein Synonym für den Glücks-Reißwolf.
Der erste Abschnitt ist noch nicht zu Ende, es wird eine weitere Bedingung für den Freitod (?) genannt: die Sonne muss dunkel scheinen – pardon: auf uns scheinen. Da reicht ein einfaches Scheinen irgendwo in die Pampas nicht, nein, wir müssen wahrnehmen, dass sie dunkel scheint. Wenn man die Augen dicht verschließt (nachdem man sich des Sonnenscheins versichert hat, nicht, dass es einfach nur Nacht wäre),  und noch ein Tuch darüber bindet – dann wird es schön finster. Aber das liegt nicht an der Sonne – wir haben halt das alte Klischee, dass es um uns gehörig finster wird, wenn es uns nur schlecht genug geht – geschenkt! Doch ungeachtet strahlender Finsternis, Reißwolfgeräuschen und Dauerleiden ereignet sich unverhofft ein unerhoffter Hoffnungsschimmer:  Die verlorene Kindheit ist wieder da! In echt! Was haben wir gegrübelt, was haben wir geforscht – und da hockt sie in uns und weint Freudentränen, weil sie nicht mehr verloren ist, sondern endlich wieder gefunden! Was sagt man dazu? Nichts! Man bricht nach dieser vierten Bedingung einfach ab und macht einen Punkt! Die Schlussfolgerung (wenn-dann) fehlt, denn irgendwie führen diese vier wenn zu nichts Unerfreulichem – also Neubeginn! zurück
Neue Bedingungen für den Freitod müssen her:  Wenn Liebe nur von Angst erzählt ist insofern hübsch, als dass hier Liebe vorausgesetzt wird, sonst könnte sie nichts erzählen! Wem erzählt sie eigentlich von welcher und wessen Angst? Fest halten wir: Es gibt noch Liebe! Die Hoffnung hingegen stirbt (lässt also die Liebe allein), und uns (wer ist bitteschön uns? Ich halte mich wie üblich da raus und davon fern!) quält ein Gedanke weiter – bislang war noch kein Gedanke ausgesprochen, der hätte quälen können; der wird jetzt zum ersten Male genannt: allein zu sterben und überall sind nur noch Scherben. Das ist dank fehlendem Komma ein wahrhaft nebulöser Gedanke! Doch auch wenn uns nur der Gedanke allein zu sterben quält, warum schließen wir uns dann nicht einfach der Hoffnung an, die ist doch eh grad dabei? Dann stürben wir selig miteinand, und nur die Liehiebe bliehiebe zurücke! Alle Probleme lösten sich wohlgefällig – kein Gedicht müsste geschrieben, keines besprochen werden!
Bedauerlicherweise ist das nur so, wenn man das, was man so liest, auch ernst nimmt und das Wort beim Wort. Und entsprechend endet auch dieser Abschnitt und führt in die nächste Strophe weiter: überall sind nur noch Scherben – das kann ich schon jetzt im Brustton der Überzeugung bestätigen. Wobei mich die Frage beschleicht: ist das eigentlich ein verkappter Konditionalsatz, der da meint: wenn überall nur noch Scherben sind…? Schließlich warten wir auf eine Schlussfolgerung! zurück
Ojoijoi, jetzt wird es oberhappig! Vorhin hat die Trauer das Glück zerrissen – und jetzt ist es angeblich zerbrochen (getreu dem Motto: was schert mich mein Geschreibsel von vorhin!), zudem ist das Licht ebenfalls zerbrochen (oder fehlt hier wieder ein sinnstiftendes Komma hinter Glück? Aber: viel Sinn würde das nicht verursachen, allenfalls grammatische Klarheit: vergessen wir das einfach!), obwohl man das ja nicht sehen kann, da die Sonne bekanntlich dunkel scheint oder schien und dies dunkle Licht jetzt zerbrochen ist oder was immer das heißen mag, und dann sucht man das Glück oder das Licht oder beides und findet es nicht – Kunststück: Glück liegt im Reißwolf – und draußen ist es schön finster, während innen die wieder gefundene Kindheit mittlerweile Freudentänze aufführt, weil die Liebe übrig geblieben ist nach dem Ableben der Hoffnung – wer kennt sich da noch aus? Ich würde ebenfalls nichts mehr finden, könnte nicht einmal in Ruhe suchen, zumal jetzt noch das Verständnis nach Beweisen schreit dafür, dass es eben Verständnis ist und keine Beweise braucht, sondern Gründe, sonst wäre es kein Verständnis, sondern Verstand. Was für ein Missverständnis von Verständnis…
Ha, jetzt kommt’s: endlich das dann: wenn – dann, wer sagt’s denn! Was also ist nach all den Wenns? Dann heilt nicht mal mehr die Zeit die Wunden der Vergangenheit … Nanü? Wovon ist hier die Rede? Welche bzw. wessen Vergangenheit? Die wieder gefundene Kindheit kann nicht gemeint sein, die ist ja geheilt, die Hoffnung ist tot, die Liebe labert und die Trauer leistet Trauerarbeit. Ich gebe zu, ich verstehe das nicht. Aber vielleicht kommt die Auflösung ja später? Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, sonst stirbt sie – so ist das nämlich!
Und jetzt der Oberclou des Ganzen: und alles ist zum Tod bereit!  ALLES – mit weniger gibt sich das Gedicht nicht zufrieden! Alle Scherben sterben, – das ist mir einfach zu viel, zumal die Hoffnung überhaupt nicht bereit dazu ist, sondern bereits tot! Nein, einen solchen Unfug mache ich nicht mit, und ich und du und Sie und er/sie/es und sogar das literaturcafe.de, wir gehören alle zu alles…  seid ihr etwa bereit? zurück
Wenn jeder Schritt unmöglich ist, kann man das Ziel getrost vergessen – sofern man bewusst etwas vergessen kann; dennoch bleiben die logischen Probleme: ist das ein kopulierendes und (und man den Weg zum Ziel vergisst) oder ein rein additives, will sagen: müssen beide Wenns zutreffen oder ist die Aussage wahr, wenn nur eines der beiden zutrifft? Letztlich ist das aber bestimmt wieder wurschd, es sei denn, dass man sich zum Ziel fahren oder meinetwegen tragen lässt, wenn man nicht mehr laufen kann – in diesem Falle sollte man um das Ziel noch wissen. Fahrzeuge jedoch kommen in dem Gedicht nicht vor, und alle anderen sind zum Tod bereit – kein Grund folglich, noch jemanden zu tragen. Zumal ja das Ziel offenbar der Freitod (geworden) ist. Die ganze Zeile wird damit ziemlich hinfällig…
Jetzt wird weiter paradoxiert, indem landläufigste Augen-Metaphern zusammengebastelt werden zu einem verballhornten Ödipus-Syndrom – denn was nützt Blindheit als zusätzlicher Schrecken, wenn wegen totalem Schwarzlicht eh nichts mehr zu sehen ist? Und zu glauben, dass da Leere ist, bloß weil man nichts sieht und kein Gefühl mehr fühlt, ist beinahe schon wieder kindlich-naiv: Kleinkinder stehen mitten im Zimmer, halten sich die Augen zu und kreischen »Such mich« – und haben mächtig Spaß, wenn man schimpfend und der gespielten Verzweiflung laut Ausdruck gebend hilflos durchs Zimmer irrt, bis man dann doch noch zufällig über sie stolpert (Warnung: das Spiel kann sehr lange dauern!); diese heitere Variante allerdings schließt dieser Abschnitt völlig aus, denn hier wird höchst verblüffend gefolgert: wenn wir nichts sehen und keine Gefühle mehr fühlen, dann kann uns niemand mehr berühren. Ich gestehe: da bin ich mit meinem Deutsch so ziemlich am Ende, denn ich weiß, dass berühren zweierlei Bedeutung hat: deswegen müssen ja beide zutreffen, schließlich kommt dieser Text als ein Gedicht daher…  zurück
Wir erinnern uns: jeder Schritt ist unmöglich. Okay? Dann weiter im Text:
Jetzt wird der Atem verpersonifiziert: der sehnt sich nach Stillstand, obwohl er bereits still am Grabmal lehnt – meiner Treu, das ist hochgradig Alzheimer, woran dieser Atem krankt! Damit aber nicht genug: er will das Dunkle betreten – das kann er aber nicht, es ist doch schon alles überaus finster! Zudem – wir erinnerten uns – ist jeder Schritt doch unmöglich!
Wir erinnern uns: alles ist zum Tod bereit.
Stimmt aber gar nicht, ätschebätsche: da beten ganz viele Engel wie der Teufel für den sterbenswilligen Atem, die sind keinesfalls zum Tod bereit, fallen wohl auch nicht unter den Begriff alles (man darf gespannt sein, was dieser Begriff alles noch alles ausschließt…) – und haben auch noch unglaubliches Pech: der Gebetsempfänger sieht die Gebete nicht einmal an! Was waren das noch für Zeiten, als Gott die Gebete hörte, ja erhörte – aber seit dem Computerzeitalter und den dadurch neu geschaffenen Netzproblemen kann es schon vorkommen, dass einige Gebete-eMails ungesehen untergehen – das ist das Teuflische an der modernen Technik! Ach, wenn es doch wenigstens unbesehen hieße, das könnte ja noch durchgehen – aber es heißt eben ungesehen…
Wir erinnern uns: die Hoffnung mindestens ist bereit gestorben.
Jetzt aber gehen die Gebete mit letzter Hoffnung unter – das heißt: wenn die Hoffnung stirbt, gibt es immer noch einige letzte Hoffnungen, zumindest eine für jedes Engelsgebet; tja, was es nicht so alles gibt in diesem Gedicht. Wir könnens nicht ändern, so steht es geschrieben. zurück
Es wird – man glaubt es kaum – noch schlimmer: Jetzt werden uns Krümelmonster auf den Hals gehetzt (auch die gehören nicht zu alles!), und zwar nachts (obwohl es schon tagsüber finster ist: woher wissen die Monster ihre Einsatzzeit – gerade die müssten ja völlig von der Rolle fallen?), und unser Atem, der da am Grabmal lehnt, arbeitet heftigst, damit wir fluchen können auf Lust und Kampf, die eh schon zum Tod bereit sind (es sei denn, die gehören auch nicht zu alles – nur immer weiter so!), und auf das Leid, obwohl alles Leben sowieso leiden ist – steht doch schon in der allerersten Zeile! Und bei allem Respekt: wie soll uns den jemand die Hände reichen, wenn uns niemand mehr berühren kann? Und woher kommt die Wut, wo doch Gefühle nicht mehr fühlbar sind? Und zu allem Überfluss sucht die sich einen Ort zum Wohnen bei all dem Bösen der Dämonen! Ich frage mich ernsthaft, was die Wut da will – da gehört sie nicht hin, denn das Böse ist nicht wütend, das kommt eher cool und grinsend daher – siehe Mephisto, siehe Bush! Und mir vorzustellen, was und wo der Ort im Menschen sein soll, wo nicht die Dämonen wohnen, sondern all das Böse der Dämonen – dazu gebricht es mir an der nötigen Fantasie (zumal hier schon wieder der Begriff alles auftaucht und ich – aus Erfahrung klug geworden – davon ausgehen muss, dass damit bestimmt nicht all das Böse gemeint ist, sondern eine allenfalls beliebig kleine Teilmenge). »Was ist der Mensch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen« wusste schon Gryphius (obwohl er das vorliegende Gedicht gar nicht kennen konnte…). zurück
Und jetzt zu etwas ganz Anderem: man ist mindestens schon halb tot, jetzt raubt einem frecherweise die Ohnmacht noch alle Sinne (die man bekanntlich schon nicht mehr beieinander hatte, wie die vergangenen Abschnitte zeigen) – es ist drum also nicht gerade schade; jetzt wird das zerrissene, verscherbelte Glück zu allem Überfluss auch noch post mortem moralisch gequält, indem man es sich nicht gönnt (verständlich, wer ist schon nekrophil veranlagt); schließlich liegen Stärke und Schwäche im Krieg (ich nehme an: miteinander? oder beide gemeinsam gegen den Oberfeind, z.B. den Freitod?) – und wenn dieses drei Bedingungen zutreffen, dann kann immer nur der eine siegen: das kann weder die Stärke noch die Schwäche sein noch das Glück noch die Ohnmacht, allenfalls der Sinn – aber der ist samt Verwandtschaft geraubt – steht halt so im Text, kann ich nichts für. Einen anderen der bietet dieser Abschnitt nicht – stopp, halt: der Krieg! Der Krieg siegt. Aber – wenn der Krieg siegt, dann ist ja beständig Krieg, dann dürfte auch nicht alles zum Tod bereit sein, denn der Krieg würde in diesem Falle ebenfalls mangels Masse sterben müssen – und hätte elendig verloren! Dann muss es eben der Freitod sein, so heißt ja schließlich unser Gedicht. Ich weiß dann freilich immer noch nicht, wie der Freitod beim Rauben siegen kann oder beim Sich-das-Glück-nicht-Erlauben, allenfalls kann ich mir vorstellen, dass der Krieg zwischen Stärke und Schwäche endet durch den einzig vernünftigen Freitod: »He, Kumpel, weißt was? Ist doch blöd, so ein unablässiger Streit zwischen uns, sind doch beide gleich stark bzw. schwach, will dich jetzt nicht beleidigen – wir bringen uns einfach selbst um, dann is a Ruah!« – «Recht hast!» Gesagt, getan – und der Freitod ist echter Sieger, wie das Gedicht es uns prophezeit hat. Schön! Doch das Gedicht selbst gibt immer noch keine Ruh, es setzt immer noch einen drauf: zurück
Die Monster sind wieder verschwunden, jetzt gehen höchst eigenwillige Geister vorbei: sie sind in Schwarz gehüllt mit Körben, die randvoll mit Erde gefüllt – wie kann man sich mit Körben einhüllen? Ich nehme an, dass hier wieder mal ein Komma vergessen wurde, es erstaunt auch nicht weiter, ja, wäre geradezu überraschend, wenn die Zeichensetzung als Einziges stimmen sollte. Wir erfahren, dass Geister (es müssten, rein syntaktisch gesehen, übrigens die Körbe sein) blasse Gesichter haben (wer hätte das gedacht) – aber jetzt – Töröööö – kommt das wirklich neue: jedes Gespenst hat gleich mehrere Gesichter, jawoll! Denn es steht geschrieben: ein Lächeln auf all ihren blassen Gesichtern. Die nicht-blassen Gesichter hingegen ziehen wahrscheinlich eine Schnute – das hat man davon, wenn man sinnlos Adjektive streut und mit dem Wörtchen all herumwirft – denn auch ohne das blass hätte jeder Geist dank dem all mehrere Gesichter!
Geht’s noch? Es geht tatsächlich noch viel schlimmer: die vielgesichtigen Geister, die vorbeigehen (!) und Körbe, randvoll mit Erde, tragen(!), die zeigen (!!:mit welchen Händen? Oder mit der Nasenspitze? Haben sie zu jedem Gesicht auch noch zwei Extra-Arme, z.B. zum Zeigen…) mit Lichtern (!!!:…oder zum Lichtlein-Tragen) in ihren Händen (!!!! die bereits mehr als vollbeschäftigt sind mit Körben, Lichtern und Zeigefunktionen) den Weg (!!!!!  jetzt tragen die auch noch einen kompletten Weg, denn sie zeigen ihn ja in ihren Händen – und das alles beim Vorbeigehen…), der nach unten führt. Atempause ist jetzt dringend erforderlich!
Genug geatmet, der Kerl lehnt auch schon wieder gierig hechelnd am Grabmal, also:  Der Weg wird jetzt seinerseits personifiziert, denn ihm wird eine Absicht untergejubelt: er soll den Geist erlösen, und der Geist sei meine Seele (woher kennt mich das lyrische Ich eigentlich so genau?) – also fand oben wohl gerade eine Seelenwanderung mit schwerem Gepäck statt – welch trübe Aussichten! Dann doch lieber ganz und immer tot! Die Personifizierung geht aber schon in Ordnung, irgendwie: der Weg ist schließlich das Ziel, das man – nochmals: zu Recht – vergessen hat (s.o.). Irgendwie geht diese Personifizierung aber ganz&gar nicht in Ordnung, denn der Weg weist ja nicht den Weg, sondern das Ziel: die Erlösung von all dem durchgestandenen Unsinn, diesem Bösen an sich! Doch die Erlösung lässt immer noch auf sich warten, noch zwei Abschnitte harren der Begutachtung – aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben, sonst stirbt – ach, das hatten wir schon? Sorry! zurück
Machen wir’s kurz (wird aber nicht klappen): da fängt das Flüstern wieder an zu schrein, obwohl es bisher noch gar keines gab (so viel zu das Flüstern und zu schrein) – und wer könnte das schon hören, sind doch alle Sinne geraubt (vermutlich gehört der Hörsinn nicht zu alle Sinne, dieses Verfahren kennen wir allmählich, wir sind ja schließlich lernbereit); man sucht nach dem warmen, erlösenden Schein, während man zuvor noch allzeit bereit war, das Dunkel zu betreten, und dieser Schein sei versprochen so oft schon am Ende des Lebens – wie viele Lebensenden hat denn unser lyrisches Ich eigentlich hinter sich, dass es sich an so viele Versprechen erinnern kann? Eiwei! Man findet den warmen, erlösenden Schein aber keinesfalls – man fühlt ja nichts mehr und hat keine Sinne: da ist keinerlei Art von Wärme mehr wahrzunehmen; zudem ist man so was von blind (siehe den Augenabschnitt – es ist der vierte, habe keine Lust mehr, hier rumzulinken), dass allein der Gedanke an eine solche Suche bereits Fanal für Alzheimer in seiner ausgereiftesten Form ist! Das scheint nicht nur vergebens, das ist vergebens – ganz ehrlich! zurück
Und noch eine Bedingung: wenn sich das eigene Ich verändert. Das wäre oberschlimm! Mein Ich bleibt zum Glück immer gleich, ich bin immer noch der strahlende Säugling und ernähre mich von der Mutter Milch, weiß von nichts und kümmere mich um nichts, lass den lieben Gott in Ruhe, kann nicht lesen und nicht schreiben, will ein Leben lang so bleiben – nein, mein eigenes Ich verändert sich nicht (wohingegen mein anderes Ich machen kann, was es will, ist ja schließlich nicht mein eigenes!); und noch eine Bedingung: das eigene Ich nimmt eine Ortsveränderung vor – gefährlich, da könnte es unter die Räder kommen! Obwohl: jeder Schritt ist unmöglich, also ist diese Zeile auch gelogen. Macht nichts, kennen wir, wissen wir: sie ist die Erste nicht! Am Leben ist dieses bewegungsunfähige Ich auch nur aus Pflichtgefühl – fein, sag ich da nur! Klasse auch! Aber, so frage ich, Pflichtgefühl gegenüber wem, vor welcher Instanz, und für wen? Soooo einfach stiehlt sich hier niemand davon! Und aufgeben, im Gewühl nach Hoffnung, Licht und Glück zu suchen? Kleiner Tipp: das Glück ruht im Reißwolf, nicht im Gewühl, frag mal die Trauer, die arbeitet daran, oder suche die Scherben, aber vergiss nicht, dass du blind bist, könntest dich schneiden, würdest aber nichts spüren, da die Sinne bei der Ohnmacht sind, das kann tödlich sein! Übrigens: selbst wenn du sehen könntest, könntest du nichts sehen, weil es nämlich dank der Schwarzlichtproduktion der Sonne zappenduster ist. Es ist wirklich nur allzu vernünftig, wenn du diesen Blödsinn jetzt endlich aufgibst! Bring das Gedicht zu Ende, ergänze die fehlende Zeile – Vorschlag? Vorschlag:

dann backt es Schokoladenkuchen. (Nicht gut? Zugegeben, wie wärs mit:)
dann hilft nur eins: Mallorca buchen! ( Auch nicht gut? Auf ein Letztes:)
…»Dann musst es halt noch Mal versuchen!«

(Nix da, mehr gibt’s nicht! Macht’s doch selber, ich schenk euch ein paar Reimwörter: besuchen, ersuchen, verfluchen, tuchen (was das ist? ein Adjektiv: »aus Tuch bestehend«), untersuchen, Eunuchen, diverse Kuchensorten, heimsuchen, absuchen, nachsuchen (und noch viele andere -suchen)… Schönen Tach auch, und Gute Nacht! zurück

© 2004 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.