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Textkritik: Fango – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Fango

von Ben Hurley
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Was hab ich Angst,
(das steh ich durch)
morgen
jedenfalls
O Gott,
Was hab ich Angst

»Wohin?«, ich kurble sporadisch am Fenster, das ist nämlich kaputt. Das durchnässte Fräulein lässt sich auf den Sitz plumpsen und sagt garnix.
Zwei schreckliche Stunden später habe ich ihr immer noch keinen Laut entlockt. Sie sitzt einfach da, raucht und dreht ab und an am Radio, das den Regen übertönen soll. Ich bin ziemlich irritiert.
Als ich noch per Anhalter unterwegs war, denke ich, kam ich aus dem Erzählen gar nicht mehr heraus, wir haben ja auch viel erlebt, damals. Außerdem war mir das störrische Autobahnschweigen immer schrecklich peinlich.
Mich wurmt es ein wenig, dass sie ohne zu fragen mein Auto voll qualmt, ich habe nämlich erst vorgestern aufgehört – wegen Gabi. Aber ansprechen tu ich sie nicht. Ich kann auch stur sein.
Jetzt sagt sie endlich was, ich merke das vorher, weil sie plötzlich laut und scharf einatmet, und schiele neugierig zu ihr herüber.
Ihr Mund formt sich langsam und verkrampft zu einem O, dann zu einem breiten E, dann purzeln brüchig ein paar spastische Laute aus ihr heraus, ungefähr so:  »Bwärgnnck?«
Es hört sich ganz eindeutig nach einer wohlgewogenen Frage an, ich zucke aber trotzdem zusammen, weil es so krächzig klingt.
»W…Wie bitte?« Ich spüre meine Gesichtsmuskeln entgleiten. Sie dreht sich sichtlich erleichtert wieder nach vorn und starrt weiter auf die vorüberfliegende Tristesse.
»Ich glaube, ich habe Sie gerade akustisch nicht verstanden…«
Sie drückt schweigend ihre Kippe aus.
»Ähm, ich weiß immer noch nicht… Also ich fahre jetzt hier die nächste ab, ist das für Sie … für dich okay?«
» … … …«
Ich habe mir ganz offensichtlich eine Verrückte aufgehalst. Sie ist mager und struppig und sie riecht ein ganz kleines bisschen sauer, nach dem Regen in ihren Kleidern. An der nächsten Raststätte ist sie draußen, denke ich mir und drücke unwillkürlich etwas fester aufs Gas. Nach fünf Minuten ohrenbetäubender Stille wird es mir dann zu bunt. Sie könnte ja auch taubstumm sein.
»Hast du mir vielleicht auch ‘ne Zigarette?« teste ich. Erst reagiert sie nicht. Dann greift sie hastig in die Tasche ihrer Lederjacke, holt ein zerknittertes Päckchen Tabak heraus, drückt prophylaktisch auf den Anzünder und dreht mir eine ziemlich dicke, schrumpelige Zigarette, die sie mir ohne einen Blick überreicht.
Aha. Jetzt muss ich sie aber auch rauchen. Ich bin beinahe froh über den originellen Vorwand, bei den ersten Zügen wird mir trotzdem schwindelig, ein schönes Gefühl, obwohl der Tabak kratzig und alt schmeckt.
Das nächste blaue Schild kündigt den RASTHOF NECKARBURG an. Das Ende einer Zufallsbegegnung naht, ich habe das Rauchen wieder angefangen.
Dann piepen dumpf die Anfangstöne der Toccata in d-Moll aus ihrer Jacke. Sie zuckt zusammen, rührt sich aber nicht vom Fleck. Ich drehe das Radio ab. Mein Handy hat das gleiche Klingeln gehabt. Endlich greift sie in die Tasche, kramt hektisch nach dem Handy und hält es sich dann ohne ein Wort ans Ohr. Ein paar Sekunden lang ist es sehr still im Auto. Dann piept es noch mal, als sie die rote Taste drückt. Stille.
Ich nehme entschlossen die Ausfahrt zum Rasthof.
Als sie aussteigt, will ich ihr noch ein »Komm gut weiter« oder so etwas Ähnliches mit auf ihren stummen Weg geben, da drückt sie mir ein Stückchen Papier in die Hand. Sie schaut mich nicht noch mal an, dreht sich einfach um und läuft los. Langsam und bedächtig und immer noch tropfnass. Ich schaue ihr fasziniert hinterher, bevor mich die Neugier packt und ich lieber sehen will, was auf dem Zettel steht.
Er ist leer.

© 2002 by Ben Hurley. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Das ist eine ganz nette Erlebnisschilderung, und als Leser könnte man sich durchaus Gedanken über das tropfnasse Fräulein machen, wenn einen der Ich-Erzähler an seinen teilhaben ließe; der macht jedoch unfreiwillig einen ziemlich verwirrten Eindruck, seine Verhaltensweisen kann ich kaum nachvollziehen.
Ganz doll rätselhaft: Motto und Titel!
Motto: Wer soll da Angst haben? Wer soll etwas durchstehen, der Fahrer hat es schließlich durchgestanden, das Fräulein ebenfalls? Den Text durchzustehen ist nicht schwer, er liest sich stellenweise recht flüssig und würde sich noch viel flüssiger lesen, wäre er nicht in so viele Miniabsätzchen zerfetzt worden; Angst macht der Text auch keine, mich macht er eher schmunzeln angesichts der Trotteligkeit des Protagonisten – Kurzum: als Motto könnte da auch eine Händi-Bedienungsanleitung stehen.
Titel: Fango ist ein abgelagerter Mineralschlamm, dem Paraffine und Stabilisatoren zugesetzt sind. Die feste, kalte Masse wird in speziellen Öfen auf ca. 60-70 oC erhitzt. Zur Therapie wird diese Masse auf eine Plastikfolie ca. 2cm dick ausgegossen und dann, auf ca. 50 oC abgekühlt, angelegt. Das Material wird dem Körperrelief entsprechend gut angepasst und bleibt zwischen 20-30 Minuten am Körper des Patienten. Die Eindringtiefe dieses Wärmetherapieverfahrens liegt bei etwa 2-3 cm, es kann aber angenommen werden, dass über reflektorische Vorgänge auch tiefer im Körper eine Wirkung erzeugt wird.
Fango-Packungen eignen sich zur Behandlung von großen bis mittelgroßen Flächen am Körper, die Temperaturerhöhungen im Gewebe führen (zu) einer Durchblutungssteigerung und Stoffwechselanregung, Muskelverspannungen werden gelöst und Schmerzen gelindert
. (Da kommt das her)
Dass der Text all dies nicht leistet, ist zweifellos! Soll die Überschrift ironisch gemeint sein, müsste sie dennoch einen Bezug zum Text haben; Fango hat keinen, aber Fangio hätte einen, denn der war Rennfahrer, und auch der Protagonist gibt Gas. Was wollen Motto & Überschrift? Wer klärt auf?

Die Kritik im Einzelnen

Wenn der Fahrer weiß, dass das Seitenfenster kaputt ist, braucht er auch nicht zu kurbeln, es sei denn, er glaubt an die göttliche Selbstreparatur; dass jemand sporadisch kurbelt, also gelegentlich, kann ich mir nur während eines längeren Zeitraumes vorstellen, und soo langsam wird unser Held »Wohin« nicht artikuliert haben! Stünde da sinnlos anstelle von sporadisch, so könnte das durchaus einer Charakterisierung des Protagonisten dienen. zurück
Ich hielte es für angebracht, zumindest die Seitentür einen Spalt zu öffnen, wenn schon das Fenster nicht zu öffnen war, durch welches das Fräulein sowohl die Frage hätte verstehen als auch das Fahrzeug betreten können! zurück
War es erst im Nachhinein schrecklich, dass er ihr keinen Laut entlockt hat? Waren bereits die Lockversuche schrecklich (oder nur ergebnislos)? Welche Versuche gibt es denn? Ich würde das Hohlwort schrecklich streichen, denn das Resultat der ungenannten Lockversuche ist schließlich Irritation (wenn man dem Ich-Erzähler vertrauen will) (s.u.). zurück
Nassfräulein sitzt nicht einfach da, sondern sie raucht und dreht sporadisch (kennen wir, kennen wir) am Radio; also weg mit einfach. zurück
Auch denke ich muss radikal getilgt werden: zum Einen ist es missverständlich, denn es könnte bedeuten, dass er sich das halt so denkt, obwohl es realiter ganz anders war; zum Anderen wird durch den einleitenden Nebensatz deutlich genug, dass jetzt Erinnerungen folgen, der irritierte Fahrer also denkt. Warum muss das besonders betont werden? Denkt er in der Regel nicht, wie z.B. beim sporadischen Fensterkurbeln? zurück
Was den Kerle wurmt, wird sofort gesagt: auf das Pseudosubjekt es kann also getrost verzichtet werden.
Am Ende dieses Abschnittchens: Worauf bezieht sich auch in der Kombination Ich kann auch stur sein? Wird hier dem Fräulein Sturheit unterstellt? Oder betont der Protagonist, dass er nach 2 Stunden vergeblicher Kommunikationsversuche auch einmal still sein kann – stur also im Sinne von trotzig bzw. Maul-Halten? Das möge der Ich-Erzähler präzisieren. zurück
Wann krampft der Mund: nur beim O oder noch beim E? Was löste den Krampf? Ist die Langsamkeit des Formens bedingt durch das Krampfen oder verursacht die allzu langsame O-Formung den Mundkrampf? Ist verkrampft gar nicht gemeint, sondern eher eine Art Mundgymnastik? Raus mit verkrampft! Die Beschreibung ist doch ohne Krampf plastisch genug! zurück
Fragen werden nicht gewogen, sondern erwogen; sie werden daraufhin geprüft, ob sie sinnvoll sind: wenn ja, sind sie wohlerwogen. zurück
Genauer: was spürt er denn? Spürt er, wie seine Gesichtsmuskeln entgleiten, oder spürt er lediglich, dass sie entgleiten? Hier ist zu meiner Überraschung einmal keine Kürzung nötig, sondern eine Erweiterung – zu meiner Erleichterung allerdings nur eine kurze. zurück
Warum ist die Stille erst jetzt penetrant? Was bringt das Fass zum Überschwappen? Sind es gar nicht diese 5 Minuten, sondern die weiteren 5 Minuten? Dann sollte es da stehen (Schröcklich: noch eine Erweiterung!). zurück
Weia: dem Fahrer wird es zu bunt – und als Folge davon brüllt er nicht oder springt aus dem fahrenden Auto oder frisst die überflüssige Fensterkurbel: nein, er fängt endlich an zu denken und stellt sich eine ganz vernünftige Frage.
Diese Frage finde ich höchst angemessen, die Verknüpfung zum Zu-bunt-Werden völlig abwegig. zurück
Auch dieser Satz muss irgendeinen Sinn haben! Mag unser Fahrer vielleicht das Händigedudel? Schließlich hatte er sich und zufällige Opfer mit dem gleichen Klingelkitschlärm belästigt! Kriegt er wehmütige Erinnerungen an Mein-erstes-Händi? Will er feststellen, ob Madame Beifahrerin richtig sprechen kann? Will er gar hören, was gesprochen wird oder wer spricht? Ist es Fürsorge, denkt er z.B., sie habe das sporadische Drehen an Radioknöpfen verlernt? Will er nicht, dass sie sein Radio nochmals anfasst? Irgendeinen Hauch von Sinn muss dieser Satz doch haben – aber welchen? zurück
Ha! Eben noch reine Vermutung, jetzt der Beweis: er hält dieses Händigedudel selbst nicht aus, denn er ist froh (endlich), als das Fräulein hektisch nach ihrem Penetranzriegel sucht! Warum aber in Dreinokias Namen hat er dann das Radio abgedreht statt auf volle Pulle? Verzweiflung könnte einen packen, wenn man so etwas geschrieben hätte! zurück
Der Text ist voll von umgangssprachlichen Wendungen und Verkürzungen, das ist Stilmittel und einem solchen Text durchaus angemessen; bei regionalen Ausdrücken wird es schwieriger: es regnet (nehme ich an, zumindest hat es offiziell nie aufgehört), Madame steigt aus, dreht sich um und läuft los. Da dachte ich an ein ziemliches Tempo, musste mich aber belehren lassen, dass sie keineswegs läuft, sondern geht: nämlich langsam und bedächtig. zurück
Dem Fräulein sei Dank! zurück

© 2002 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.