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Textkritik: Einsamkeit oder Drang nach Gemeinschaft – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Einsamkeit oder Drang nach Gemeinschaft

von Philipp H.
Textart: Lyrik
Bewertung: 1 von 5 Brillen

eins allein
ist sich uneins
und doch nicht plural
Zerfall in Unterfunktionen
die Stille krächzt nach Ton
es dämmert.
Rudeltiere sind auch nicht
anders beschaffen.
Wohin wohin?
in das Allein der Gesellschaft
lockt uns die wahre
Einsamkeit.

© 2003 by Philipp H.. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Das Gedicht kommt dem seltsamen Thema nicht einmal ansatzweise auf die Schliche, sondern gaukelt Tiefe vor, wo es in oberflächlichen Wortspielereien versandet.
Schön: es wird mit Formen gespielt – aber das hat keinerlei Bezug zum Inhalt (außer am Anfang und am Schluss), und es gibt 1 wunderschönes Bild. Der Rest ist ein unverdauliches Gemisch aus trüben Quellen.

Die Kritik im Einzelnen

Ich will bestimmt nicht wir sein, und was du oder er/sie/es will, entzieht sich durchaus meiner Kenntnis; tröstlich & schön zu wissen, dass immerhin das lyrische Ich absolut Bescheid weiß, schließlich hat es mich Leser ausgespart, denn nicht zu lesen war Sie wollen Ihr sein: dafür bedanke ich mich.
Wer aber verbirgt sich hinter dem es? Das Baby, Kind, Mädchen? Großväterchen, Großmütterchen, Pappilein oder Mammilein? Ich nehme schließlich an, dass das Gedicht von menschlichen Wesen handelt und nicht von der Einsamkeit eines Küchenmessers und seinem Drang zum Set! Wenn also das Gedicht schon die Grammatik bemüht, dann aber bitte sinnvoll!
Wer aber ist ich & du & Müllers Kuh & er & sie anderes als: wir? Wir wollen zum wir? Da bin ich aber so was von gespannt, wie das gut gehen soll, wenn wir dauernd vor uns wegrennen, weil wir zum wir wollen, aber am Horizont wetterleuchtet bereits flachphilosophischer Triefsinn: denn wenn die obengenannten das so wollen, ist das eine freiwillige Entscheidung und kein Drang! zurück
Hier beginnt der zweite Abschnitt, deutlich abgesetzt durch die pfeilförmige Einrückung. Thema: eins ist nicht eins und nicht plural, da es nur mit sich uneins ist oder so oder wie oder was? Plural (groß geschrieben) bedeutet Mehrzahl, plural (klein geschrieben und mit Betonung auf der zweiten Silbe) ist inhaltlich identisch mit pluralistisch, meint also die Vielgestaltigkeit gesellschaftlicher Erscheinungen. Die Feststellung, dass eins allein kein vielgestaltiges gesellschaftliches Phänomen ist, hat etwa den gleichen Erkenntniswert wie die Belehrung, dass eine Schwalben keinen Sommer macht. Ist jedoch Plural gemeint, lässt sich dem entgegnen, das Singular halt kein Plural ist – so einfach ist das alles! Zwar taucht immer das Phänomen von Persönlichkeitsspaltung auf bis hin zu den multiplen Persönlichkeiten (was im Augenblick wieder heftig bestritten wird, aber dazu haben wir ja Fachleute, damit sie jeweils die einzige Wahrheit pachten und verkünden – man denke nur an meine Kritiken…), wo die eine Person mit sich überhaupt nicht uneins ist, sondern allenfalls jede Person in dieser Person, sodass diese multiple Person in sich und an sich und sogar für sich den Widerspruch zwischen Einheit und Mehrheit aufhebt auf eine transzendent-onthologische Art und Weise, dass Heidegger das Hirn sumsen würden, könnte er das noch erleben.
Wie komme ich überhaupt auf Heidegger? Ach ja: das war der Philosoph, der außer durch seine deutliche Braunfärbung vor allem durch unverständliche Texte glänzte, da er für seine Beweisführung auf eine völlig eigene und höchst abstruse Wortabstammungslehre zurückgriff. So geschieht es auch in diesem Abschnitt: eins hat mit uneins außer bestimmten Buchstaben inhaltlich nichts zu tun, denn eins meint hier die Zahl eins als konkrete Mengenangabe, während uneins ein Gefühl beschreibt. Was bleibt, ist ein harmlos-oberflächliches Spiel mit Wörtern, woraus keinerlei Erkenntnis fleußt, sondern das munter vor sich hin plätschert.
Warum diese pfeilförmige Einrückung gewählt wurde, vermag ich nicht zu ergründen, ich finde keinerlei Zusammenhang zum Inhalt; dann bleibt Form um der Form willen, was überflüssig ist. Und zum Drang gibt es noch immer nichts Erhellendes – zum Glück folgen noch zwei Abschnitte! zurück
Der dritte Abschnitt kommt ohne Einrückungen. Worum geht’s? Irgendetwas zerfällt in Unterfunktionen: aha, hier wird offenbar problematisiert, dass ätschebätsche eins doch Plural sein kann, nämlich aus Unterfunktionen besteht; so hat jeder Mensch Nierenfunktion oder Lungenfunktion und Herzklappenfunktion usw, da kommt ein erkleckliches Rudel Funktionen zusammen. Abgesehen davon, dass ein Menschlein, und sei es noch so klein, aus einem ganzen Haufen Zellen besteht, von denen jede einzelne ihrerseits usw. usw.; könnte man ja fast glauben, dass, wenn man so weiter macht, irgendwann ein kleinstes Unteilbares kommt… Boah, voll konkret fett!
Jetzt erscheint völlig überraschend das einzige herrlich-schräge Bild in diesem Gedicht: die Stille krächzt nach Ton! Darüber nachzudenken, welch Ursach dies Krächzen haben könnt: hat die Stille zu lange nichts gesagt? Oder hat sie zu lange rumgeschrieen und jetzt solln mal andere ran? Oder stand sie zu lange singend, aber bewegungslos (auch das gehört zu Stille, nicht nur die akustische Wahrnehmung) im Regen und hat sich dabei erkältet? Ich wiederhole: ich liebe diesen Satz – aber mir ist vernagelt & verschlossen, was der in diesem Gedicht verloren hat, denn viele Stillen ergeben keinen Ton (wohl aber viele Töne einen Klang). Es tut mir richtiggehend Leid, dass dieser Satz so völlig vereinsamt in dieser Umgebung vor sich hinkümmern muss…
Es dämmert? Also mir nicht! Dämmerung ist der Übergang von zwei sich ergänzenden Widersprüchen. Das ist eine Naturerscheinung, kein Drang. zurück
Was zum Teufel haben die Rudeltiere hier zu suchen? Die sind genetisch fixiert und bleiben so lange im Rudel, bis sie vom Rudel aussortiert werden! Und da sie entsprechend programmiert sind, haben sie auch einen entsprechenden Drang. Über den Menschen lässt sich solches nicht sagen, trotz Aristoteles, der sein verqueres Menschbild aus der Anschauung der griechischen Polis gewann. Nein, Rudeltiere wollen nicht, sie müssen. Aber da sie nicht dämmern und auch nicht nach 1 Ton krächzen (ein krächzender Wolf: was nicht gar!), sind sie sehr wohl anders beschaffen. Alles in allem eine mehr als fragwürdige Behauptung! Vielleicht schleicht sich hier irgendwie durch die Hintertür Thomas Hobbes’ Wolfsmensch ein?
Wohin wohin? Woher soll ich das wissen; immerhin wird hier demonstriert, wie man mit einfachsten Mitteln aus einem Singular einen Plural macht: durch reine Verdoppelung wird aus einem isolierten wohin ein kollektives. Was aber die Frage soll, wer die stellt, das bleibt im Verborgenen; und das ist wohl auch gut so. Die Zeile ist genau so überflüssig wie die beiden, die sich mit den Rudeltieren befassen. Immerhin wird eine Antwort auf diese doppelte Frage gegeben:
in das Allein der Gesellschaft geht es dank Rudeltierdrang. Was das Allein der Gesellschaft sein soll, kann ich mir erklären anhand der politischen Alleingänge der selbsternannten höchsten moralischen Politinstanz der Welt: dem home of the free; die Vertreter dieses Staates müssen tun und lassen, was sie bei der Gefahr des Untergangs anderen Gesellschaften nicht zugestehen können und dürfen, weil man dann logischerweise nicht mehr das Home dieser free wäre. Aber ehrlich: dahin verspüre ich keinen Drang! zurück
Das ist (endlich) der letzte Abschnitt, der am stärksten eingerückt ist und optisch zunächst einmal 2 Zeilen suggeriert, also genau so viel, wie ersten Abschnitt, wo jedes ich (außer meinem) zum wir wollte. Tatsächlich gibt es auch einen inhaltlichen Zusammenhang (wenn auch immer noch keinen überzeugenden Drang): das ich will wir sein, weil es schrecklich allein ist – und als Folge dieses Wollens gerät es in das Allein der Gesellschaft, wo es dann wahrhaft einsam ist. Um den Zusammenhang herzustellen, habe ich die letzte Zeile des vorhergehenden Abschnittes dazu geholt, denn diese Zeile gehört nach meinem Dafürhalten zu beiden Abschnitten, da es beide Male grammatischen Sinn macht. Soweit, so echt gut, klasse, doll, fantastisch. Und nun? Was haben wir erfahren? Dass sich getreu den Regeln der (Hegelschen) Dialektik die Widersprüche auf der nächsthöheren Stufe aufheben (außer bei den Rudeltieren)? Oder mussten wir erkennen, dass es keinerlei Drang gibt, sondern dass wir gelockt werden von der wahren Einsamkeit? Ich weiß es nicht. Das Gedicht ist zuende, bevor es zum Thema kommt. Aber eigentlich ist das kein Wunder, bei diesem abgefahrenen Thema: Einsamkeit oder Drang nach Gemeinschaftzurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.