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Textkritik: Drei Brillen für drei Miniaturen

»Die die Wahrheit lieben« ist Titel und Thema von drei kurzen Szenen, die sich Malte Bremer für seine Textkritik angesehen hat. Textminiaturen, die »lebendig« und »mit ironischer Distanz« erzählt sind.

Doch trotz der Kürze sind sie zu ausufernd, viel Überflüssiges wird gesagt. Nie sollte man seine Leser unterschätzen. Oft genügen wenige Wörter, um Personen und Situationen zu beschreiben, und der Leser weiß, womit er es zu tun hat. Erläuterungen sollten nicht augewalzt und Überflüssiges sollte vermieden werden.

Auch Kurzes kann gekürzt werden.

Die die Wahrheit lieben

von Angelika Jodl
Textart: Prosa
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Mein Schwiegervater war als junger Mann hübsch gewesen: groß und breit mit vollem, schwarzen Haar. Es gibt ein Foto von ihm, auf dem er sehr stattlich auf einem dicken, schweren Pferd sitzt. Später bekam er dann Hautausschläge und Haarausfall und seine Schönheit schwand. Dass er ein kluger Mensch gewesen sei, hat nie jemand von ihm behauptet, am wenigsten seine Familie. Er wäre – obwohl von sanftem Gemüt – leidenschaftlich gern Metzger geworden, aber seine Mutter verbot ihm das einfach, so lernte er schreinern, arbeitete als LKW-Fahrer bei einem Kieswerk und schließlich als Totengräber der Gemeinde Gräfelfing. Mit dieser Arbeit war er nicht unzufrieden: Seine Kinder spielten unter den Särgen, er hielt Kaninchen am Friedhof, und voller Stolz fuhr er den kleinen Bulldog, den die Gemeinde ihm in späteren Jahren für Hubarbeiten zur Verfügung stellte. Die Freunde seiner erwachsenen Kinder nannten ihn »Fred« wegen seiner Ähnlichkeit mit Fred Feuerstein.
Eines Tages klingelte die Polizei an seiner Haustür. Ein junger Polizist zeigte ihm ein Foto, auf dem unscharf zwei Personen zu sehen waren, die vorne in einem Auto saßen. »Kennen Sie die vielleicht?«, fragte der junge Polizeibeamte. »Ja hö!«, freute sich Fred. »Das sind doch die Renate und der Sepp! Gleich habe ich sie erkannt!« Renate war seine Tochter, der Sepp war ihr Freund. »Vielen Dank«, sagte der Beamte und ging.
»Haben Sie dir eigentlich ins Hirn reingeschissen?« wollte Tochter Renate am nächsten Tag von ihm wissen. Sie hatte sein schwarzes Haar, aber nicht sein ruhiges Temperament geerbt. »Hey, die Fotografie war ganz unscharf, die hätten uns im Leben nicht drangekriegt! Und dann musst du kommen und alles vermasseln!! Jetzt ist der Sepp seinen Führerschein los! Spinnst du, oder was?!«
Fred sah ein bisschen unglücklich drein. Aber ernsthaft verunsichert war er auch wieder nicht. »Der Polizei muss man doch die Wahrheit sagen!«, grollte er.

Babs stammte aus dem Ruhrgebiet und war die Tochter reinblütiger Proletarier. Der Vater soff, die Mutter merkte erst nach zwei Tagen, wenn die Tochter ausgerissen war. Aber als sie neunzehn war, hatte Babs wunderbarerweise dennoch das Abitur geschafft. Sie schrieb sich an der Uni ein für Soziologie und Theaterwissenschaft. Das eine Fach war gerade in, bei dem anderen stellte sie sich irgendeine Karriere on stage vor. Abends jobbte sie in einer Kneipe, und mit dem langen, weißblonden Haar, der aufregenden Kluft zwischen ihren großen Brüsten und dem kessen Stupsnäschen hatte sie sehr reelle Chancen beim Trinkgeld. Babs war praktisch ein Bunny. Aber zufällig verliebte sie sich in einen sehr ernsthaften, intellektuellen jungen Mann, und an seiner Seite geriet sie in Kreise, die derart ernsthaft und intellektuell waren, dass sie Blondie-Babsi nötigten, ihr Leben neu zu ordnen. Sie brach das Studium ab und schrieb sich erneut ein als Lehramtsstudentin für Religion und Sport. Ihre neuen Kreise verlangten ihr vielleicht ein bisschen viel ab, aber sie schaffte diese Herausforderungen so locker wie die familiäre Tristesse von einst. Sie legte sich eine besondere, Kaugummi kauende Lässigkeit zu, mit der sie die Abende in der Wohngemeinschaft ihres Freundes überstand, wenn dort heiß über politische und wissenschaftliche Fragen diskutiert wurde, und sah immer so aus, als hätte sie sämtliche Trümpfe in der Hinterhand, wäre sich aber zu schade, sie auszuspielen. Bisweilen wirkte sie kalt.
Sie hielt ihr Studium durch, ermuntert von ihren neuen Freunden, die ihr versicherten, ihre Fächer seien der totale Quatsch, würden aber dereinst ein so ruhiges wie gut bezahltes Lehrerleben ermöglichen. Dann kam das Referendariat, und an seinem Ende die letzte Prüfung, zu der zwei Beamte des Kultusministeriums und ein Mann der Kirche ganz hinten in ihrem Klassenzimmer in einer Bank saßen und beobachteten, wie das blonde Fräulein seinen Religionsunterricht gestaltete. Mitten im Unterrichtsgespräch über die Bergpredigt hob ein schäbiger, nichtsnutziger Knabe den Finger und vermeldete: »Ich finde es übrigens toll, dass unsere Religionslehrerin so heiße Titten hat.«
Babs reckte ihre Stupsnase und wandte der lauschenden Gesellschaft das Profil zu; die Jeans spannte sich über ihren prallen Hintern, das Pullöverchen aus Angora umzitterte die Wölbung weiter oben. »Und?«, fragte sie kühl. »Stimmt’s etwa nicht?«
Der eine Kultusbeamte stritt sich in der nachfolgenden Besprechung lange mit dem Mann der Kirche, aber leider obsiegte dieser, da er von dem zweiten Beamten, der sehr konservativ war, unterstützt wurde.

Als Harry die Vierzig überschritten hatte, bemerkte er, dass sein Glück bei den Frauen irgendwie unstet wurde. Das verstand er nicht ganz, denn er hielt sich selbst für einen außergewöhnlich gut aussehenden Mann mit einem gewissen Niveau. Trotzdem lebte er nun seit vierzehn Monaten ohne eine Freundin, und dieser ungewohnte Zustand ließ sich offenbar immer schwieriger beheben, zumal Harry inzwischen seine Wohnung so ungern verließ. Am liebsten saß er abends zu Hause auf dem Sofa und kraulte seine fette Katze, während der Fernseher lief. Auch an seinen Hüften hatte sich schon Fett angesetzt, aber das war in seinem Alter ja normal.
Die Party, auf der er Gudrun kennen lernte, war so langweilig, wie er es sich vorgestellt hatte. Aber er musste hingehen, es war die Geburtstagsfeier des Chefs. Und siehe da: Peng! Schon gab es wieder eine Frau in seinem Leben. Sie war schon etwas älter und eine Spur fülliger, als er es schätzte, aber sie passte sich seinem Stil an, und bald saßen sie zu dritt auf dem Sofa: Harry, Gudrun und die Katze. Das war die letzte Party, auf die ich gegangen bin, schwor sich Harry, ab jetzt kehrt wieder Gemütlichkeit ein – und da kam auch schon Gudrun und öffnete ihm ein Bier und stellte eine Schüssel Kartoffelchips dazu.
Eines Abends, es lief gerade der Tatort, da sprach der Kommissar zu seiner Frau: »Schätzle, für dich würde ich doch alles tun!«
Gudrun hörte den Satz, nahm sich eine Handvoll Chips und fragte lächelnd: »Und du? Würdest du auch alles für mich tun?« – »Was?« entgegnete Harry überrascht. »Alles für dich tun? Nein, natürlich nicht.«
Gudrun ließ die Hand in der Schüssel mit den Chips ruhen. »Moment mal«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Aber du liebst mich doch. – Oder?«
Harry folgte mit den Augen noch ein paar Sekunden der spannenden Szene im Fernsehen, dann wandte er sich Gudrun zu. »Also, wenn du mich so fragst, also ehrlich gesagt: Nein. Lieben tu ich dich nicht.« Er fand es sehr schade, dass sie ihre Frage gerade bei diesem Tatort stellte, in dem sein Lieblingskommissar mitspielte, der aus dem Schwabenland, denn es war ja klar, dass sich nun eine längere Auseinandersetzung dranhängen würde.
Aber Gudrun diskutierte nicht, sondern ging durch die Wohnung und sammelte die paar Besitztümer ein, die sie hierher mitgebracht hatte, darunter auch ihre Zahnbürste. »Ich finde, du hättest es mir nicht unbedingt auf die Art sagen müssen«, erklärte sie ihm an der Tür. Er hob die Achseln an. »Hätte ich denn taktieren sollen?«, fragte er. »In der Liebe? – Da sollte man ja doch die Wahrheit sagen, oder nicht?« Natürlich hatte er nicht vor, sie ernsthaft zu verurteilen – dennoch klang in seiner Stimme ein leiser Tadel mit.

© 2010 by Angelika Jodl. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Lebendig, mit ironischer Distanz und einem Lächeln auf den Lippen
mit leichten Fehlern und  etwas zu lang geraten.

Die Kritik im Einzelnen

Viele Informationen bekommen wir über Fred – aber welche brauchen wir für den Rest der Erzählung? Es ist nicht so, dass das, was erzählt wird, schlecht erzählt wird: Aber es ist zu viel! Ich würde hier nur eine Straffung vorschlagen:
Dass mein Schwiegervater ein kluger Mensch gewesen sei, hat nie jemand von ihm behauptet, am wenigsten seine Familie. Er wäre – obwohl von sanftem Gemüt – leidenschaftlich gern Metzger geworden, aber seine Mutter verbot ihm das einfach. Schließlich arbeitete er als Totengräber der Gemeinde Gräfelfing. Mit dieser Arbeit war er nicht unzufrieden: Seine Kinder spielten unter den Särgen, er hielt Kaninchen am Friedhof, und voller Stolz fuhr er den kleinen Bulldog, den die Gemeinde ihm in späteren Jahren für Hubarbeiten zur Verfügung stellte. Die Freunde seiner erwachsenen Kinder nannten ihn »Fred« wegen seiner Ähnlichkeit mit Fred Feuerstein.
Ein wacher Leser – und davon gehe ich prinzipiell aus – kann hier alle nötigen Informationen über seine Entwicklung erkennen: seine Unselbständigkeit, seine Bescheidenheit, sein Familienstand. Mehr braucht es nicht zum Verständnis des Folgenden. zurück

»Ins Hirn rein« ist doppelt rein, es genügt durchaus, einem nur ins Hirn zu scheißen! zurück

Hier liegt ein Missverständnis vor: Proletarier sind Arbeiter, die sich dadurch auszeichnen, dass sie produktiv arbeiten; was aber hier gezeichnet wird, sind allenfalls Proleten oder ehemalige Arbeiter (Marx nannte sie Lumpenproletariat). Der Begriff waschechte Proletarier muss also weg. zurück
Nun … also: Verlieben tut man & frau sich immer zufällig, das hat etwas mit Chemie zu tun und muss nicht besonders betont werden! zurück

Auch hier würde ich einige Kürzungen vorschlagen, aus den gleichen Gründen wie oben:
Babs’ Vater soff, die Mutter merkte erst nach zwei Tagen, wenn die Tochter ausgerissen war. Aber mit neunzehn hatte Babs wunderbarerweise dennoch das Abitur geschafft. Sie schrieb sich an der Uni ein, und abends jobbte sie in einer Kneipe. Mit der aufregenden Kluft zwischen ihren großen Brüsten hatte sie sehr reelle Chancen beim Trinkgeld. Sie verliebte sich in einen ernsthaften, intellektuellen jungen Mann, und an seiner Seite geriet sie in Kreise, die derart ernsthaft und intellektuell waren, dass sie Blondie-Babsi nötigten, ihr Leben neu zu ordnen. Sie brach das Studium ab und schrieb sich erneut ein als Lehramtsstudentin für Religion und Sport. Sie schaffte diese Herausforderungen so locker wie die familiäre Tristesse von einst. Sie legte sich eine besondere, Kaugummi kauende Lässigkeit zu, mit der sie die Abende in der Wohngemeinschaft ihres Freundes überstand, wenn dort heiß über politische und wissenschaftliche Fragen diskutiert wurde, und sah immer so aus, als hätte sie sämtliche Trümpfe in der Hinterhand, wäre sich aber zu schade, sie auszuspielen. zurück

Eigentlich reicht das: Das Geschlecht ist genannt; die Adjektive sind offenbar ein wertender Kommentar des Erzählers – aber das ist völlig überflüssig! Beide Adjektive sollten gestrichen werden! zurück

Mir ist unklar, wieso das Pullöverchen den Busen umzitterte: Wo soll denn da Platz zum Zittern gewesen sein bei der Wölbung? Umschmeichelte ließe ich mir gefallen oder umspannte – aber niemals nicht kein Zittern!
Und ganz und gar unklärlich ist mir Babsis Anatomie: Welche Wölbung befindet sich denn weiter oben, ausgehend vom Po, der sich normalerweise hinten befindet? Ein bisher verschwiegener Buckel? Hier fände ich »stolze Brust« nicht schlecht – Babs weiß ja, was sie hat: […]das Pullöverchen aus Angora versuchte vergeblich, die stolze Brust zu fassen. zurück

Der eingeschobene Relativsatz unterbricht zu stark – hier wäre ein Adjektiv besser: […]da er von dem zweiten, sehr konservativen Beamten unterstützt wurde. zurück

Auch hier hätte ich es gerne wieder etwas kürzer – die Gründe sind die gleichen:
Als Harry die Vierzig überschritten hatte, bemerkte er, dass sein Glück bei den Frauen irgendwie unstet wurde. Das verstand er nicht ganz, denn er hielt sich selbst für einen außergewöhnlich gut aussehenden Mann mit einem gewissen Niveau. Trotzdem lebte er nun seit vierzehn Monaten ohne eine Freundin; allerdings saß er abends auch am liebsten zu Hause auf dem Sofa und kraulte seine fette Katze, während der Fernseher lief.
Die Party, auf der er Gudrun kennen lernte, war so langweilig, wie er es sich vorgestellt hatte. Aber es war die Geburtstagsfeier des Chefs. Und siehe da: Schon gab es wieder eine Frau in seinem Leben. Sie war schon etwas älter und eine Spur fülliger, als er es schätzte, aber sie passte sich seinem Stil an. Das war die letzte Party, schwor sich Harry, ab jetzt kehrt wieder Gemütlichkeit ein – und da kam auch schon Gudrun, öffnete ihm ein Bier und stellte eine Schüssel Kartoffelchips dazu.
zurück

Und wieder haben wir ein überflüssiges Adjektiv ertappt: weg mit dem spannend – Harry findet das immer spannend, was er sich anschaut! zurück

Das ist zu umgangssprachlich – ein schlichtes anhängen genügt! zurück

Wohin den sonst hätte sie es mitbringen können? Streichen! zurück

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