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Textkritik: Der einzige Zeuge – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Der einzige Zeuge

von mischka
Textart: Prosa
Bewertung: von 5 Brillen

Der riesige Türrahmen umgibt mich, muss ich jetzt vor oder zurück? Ich komme von der Straße, Staubbrocken haben mich panisch in dieses Haus laufen lassen. Vor mir wedelt eine männliche Person mit ihren oberen Extremitäten, zwei davon fleischig mattorange, die dritte schwarz. Eine Frau daneben, in weißer Arbeitskleidung. Ein Geräusch, laut, ein Knall, Achtung!, wie bei Steinschlag! Ich betrachte mich – ist alles noch dran?
Alles da. Und nun? Langsam heben sich ihre fleischigen Brüste höher und höher drücken sie auch  den Arbeitskittel. Ein kirschrotes Meer aus Blut schwimmt auf mich zu, Durst überkommt mich. Meine Füße sind blutnass, ich muss herauswatscheln, bevor die Gerinnung einsetzt! Der Boden bebt. Der Himmel wird schwarz. Gummi. Meine Beine werden zerquetscht, mein Unterleib zerplatzt. Eine Schwarze Gummisohle.
Niemand trauert, niemand begräbt meine Ameisenleiche.

© 2001 by mischka. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Zusammengemurkster Pfusch!
Wäre das Vorhaben, aus der Sicht einer Ameise zu schreiben, auch nur ansatzweise irgendwo ernsthaft durchgeführt worden, wäre der letzte Satz der denkbar überflüssigste und törichste gewesen; denn der Leser wäre allmählich in die Sicht einer Ameise gerutscht und so zur Ameise geworden, eine Aufklärung hätte den Leser dann nur als einen Dummkopf gebrandmarkt!
Dann hätte die Ameise auch normal reden können statt von mattorangenen oder schwarzen Extremitäten zu schwafeln. Doch dem Autor scheint am Ende selbst klar geworden zu sein, dass er sein Ziel meilenweit verfehlt hat: das rechtfertigt den letzte Satz, und es tröstet; und Selbsterkenntnis ist sattsam bekannt als der erste Schritt zur Besserung: auf geht’s!

Die Kritik im Einzelnen

Allerheftigst verunglückt ist bereits aller Anfang: da flüchtet ein Wesen vor Staubbrocken – dass leser hier grübelt, was denn Staubbrocken sein sollen, ist durchaus gewollt! – auf eine Türschwelle und weiß dann angeblich nicht, wohin es muss!
Bei allem Verständnis und allem Wohlwollen: Warum in Dreigoethesnamen sollte jemand angesichts eines ihn umgebenden Türrahmens – und sei der noch so riesig – auf die Idee kommen, sich freiwillig den gefürchteten Staubbrocken auszusetzen, vor denen er gerade erst panisch geflohen ist? Soll das eine Verballhornung von Türschwellenpanik, vulgo Schwellenangst, oder gar Torschlusspanik sein? Wohl kaum. Und wieso ist der Türrahmen riesig, aber das Haus nicht? Und wieso ist jemand bereits im Haus, der gerade erst auf der Schwelle verschnauft?
Ob unser Wesen jetzt verschnauft oder einen Stepp tanzt, ist dabei unwesentlich, entscheidend ist, dass das Wesen nicht mehr läuft: die Staubbrocken haben das Wesen ja auf die Türschwelle laufen lassen: grammatisch ist das Laufen beendet (nicht aber die Panik: die ist aus unbekannten Gründen von uns gegangen – ‘s ist nicht schad drum!).
Dieser Sums entsteht dadurch, dass mit aller Gewalt Spannung erzeugt werden will, indem das Erzähler-Ich einer Leserin beiderlei Geschlechts Entscheidungsdruck aufzwingt: Stehend in einem riesigen Türrahmen heißt es: vor oder zurück, das ist hier die Frage! Und im folgenden Satz stellt sich peinlicherweise heraus, dass das so überhaupt nicht sein kann. Zudem bringen Staubbrocken egal welcher Größe auch nichts und niemanden zum Laufen: es ist die Angst bzw. Furcht vor einem Kontakt mit diesen!
Ist hier noch etwas zu retten? Schon, wenn leser/autor denn will: durch Verzicht auf all den verstaubten Unsinn! Ein Konzentrat dieser ersten beiden Sätze könnte beispielsweise lauten »Angst vor den Staubbrocken hat mich in dieses Haus stürzen lassen!« Mit Ausrufezeichen und einem stärkeren Verb als diesem schnarchlangweiligen laufen, damit die Angst auch sprachlich zum Ausdruck kommt und nicht nur erwähnt wird! Warum sollte man denn sonst schreiben, wenn man nichts ausdrücken will? zurück
Lassen wir den Zirkus um das Wesen: es handelt sich um eine Ameise. Wenn ein Mensch vor dieser Ameise mit den Armen wedelt, muss er sich tief bücken. Das tut er aber nicht: er wedelt mit dreierlei oberen Extremitäten neben einer Frau: dann soll er das gefälligst zumindest schräg über der Ameise tun, und nicht vor ihr; schließlich muss sie hoch blicken, wenn sie sein Gewedel sehen will!
Ich gebe ja zu: eigentlich haben Ameisen Facettenaugen und müssten keinesfalls hochblicken – aber Ameisen schreiben auch keine Erzählungen, und sie können keinesfalls einen Türrahmen von einem Fensterrahmen oder ein Haus von einem Felsen gedanklich unterscheiden; hier hätte eine Entscheidung getroffen werden müssen, wie weit die Vermenschlichung gehen soll. Durch das vor wird die Wedelperson zu sehr verkleinert. zurück
Da schau her! Die Ameise kennt zwar Türrahmen und Personen, Arme hingegen nicht – stattdessen ist ihr Extremität durchaus ein Begriff. Lassen wir es dahingestellt, ist eh wurschd, aber kümmern wir uns um die dritte Extremität, die nicht mattorange ist, sondern schwarz! Und man kann mit ihr wedeln! Und sie ist an einer Person oben angebracht! Na, dämmert’s?
Mir nicht. Ein Schwanz kann es nicht sein, der kann zwar wedeln und schwarz sein, ist aber nicht oben an einer Person. Der Kopf, eine natürliche obere Extremität, kann es ebenfalls nicht sein, denn der kann nicht wedeln, und keinesfalls kann er schwarz sein, da die Arme ja mattorange sind (aber wer weiß schon so genau, welche Verpflanzungstechniken uns die Mediziner noch schmackhaft machen werden. ).
Was also soll das sein? Mit einem schwarzen Gewehr (lang müsste das Ding schon sein, damit es eine Ameise als Extremität erkennen könnte: ein Pistölchen hätte da eher etwas Knubbelig-Warziges) ließe sich wohl wedeln, aber damit könnte der Mann die Frau neben ihm kaum beschießen (wenn das, was dann folgt, ein Schuss sein soll), wedelnd schon überhaupt nicht: als Nahkampfwaffe ist ein Gewehr allenfalls keulenmäßig einzusetzen. Lassen wir auch das auf sich beruhen. Es bringt nichts! Stellen wir uns einfach eine Peitschenschnur vor: schwarz, lang & wedelig, und knallen kann sie auch. Oder einen Krakenmann: unten normal, oben mit drei Tentakeln, von denen zwei gehäutet sind, was unter bestimmten Lichtverhältnissen bestimmt mattorange aussehen kann. Außerdem können solche Krakenmänner mit ihren Tentakeln heftig knallen, zumindest alle, die ich kenne. zurück
Wen wundert’s eigentlich noch, dass unsere Ameise weiße und blaue Arbeitkleidung unterscheiden kann und vermutlich Arbeitskleidung vom Kleinen Schwarzen? zurück
Das muss man sich mal so richtig vor Ohren führen! Da ist also jemand, der beobachtet einen krakenähnlichen Mann, der wedelt selbstverständlich mit allerlei Extremitäten, das muss er auch, denn das haben Kraken so an sich; jemand nimmt ein Geräusch wahr: »Oioioi,«stellt jemand überrascht fest, »das war ja ein richtiges Geräusch, nachgeradezu ein lautes Geräusch: könnte das gar ein Knall gewesen sein? War das Geräusch dazu eigentlich laut genug? Mal nachdenken: doch, klar, ja natürlich! Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin: ich habe da einen richtigen Knall gehört! Sowas aber auch. Aber halt: war da nicht noch was mit Knall? Es gibt doch so Knälle, bei denen muss man aufpassen, z.B. platzende Schellfische oder implodierende Waschmaschinen oder so irgendwie – genau, also ist Obacht angesagt, dann werde ich mich mal vorsehen und mir ,Achtung’ zurufen, damit ich gewarnt bin! Da fällt mir übrigens ein: ,Achtung’ ruft man auch, wenn ein Steinschlag kommt! Oder knallt ein Steinschlag? Knall=Schlag? Jetzt weiß ich gar nichts mehr, jetzt bin ich ganz verwirrt!« Deswegen (und nur deswegen) wird unser Blödmann später erfolgreich partiell zermanscht; so soll es sein: »Die Narren werden geschlachtet / die Welt wird weise« (Erich Fried, Maßnahmen)
Knallende Steinschläge gibt es tatsächlich nicht, das prasselt eher oder rumpelt; Ameisen haben bei Steinschlägen auch nichts zu befürchten, die haben es eher (besser: eher nicht) mit Staubbrocken. zurück
Die Ameise hat sich – anlässlich eines Knalls – gefragt, ob noch alles an ihr dran sei, und da sie einen appen Fühler nicht fühlen kann, muss sie sich betrachten; dabei vergisst sie in ihrer Dusseligkeit (ihr ureigenster Knall), was sie eigentlich gucken wollte, und stellt befriedigt fest, dass beide Fühler und dreieinhalb Beine friedlich zuckend neben ihr liegen: zwar nicht mehr dran, aber immerhin noch da! zurück
Die der Ameise können es zum Glück nicht sein, denn Leser weiß eigentlich noch nicht, dass eine Ameise hier rumdenkt und schaut! Aber wessen Brüste sieht sie dann? Woher will eine Ameise überhaupt wissen, was Brüste ist, wenn sie nicht einmal Arme kennt? Fleischige Brüste gar, im Gegensatz zu den pflanzlichen und biologisch-dynamischen?
Aber wer kennt sich schon in Ameisenganglien aus! zurück
Holla: hier haben wir einen beinahe astreinen Chiasmus vorliegen – Kompliment! Astrein wäre er in folgender Form: »Ihre fleischigen Brüste heben sich höher, und höher drücken auch den Arbeitskittel sie.« Chiasmus heißt übrigens Überkreuzstellung – muss man nicht wissen, wenn man schreibt!
Inhaltlich schwächelt es unverdrossen weiter: einerseits lupft der Busen sich selbst, andererseits drückt er am Arbeitskittel rum; hier wird Ursache und Wirkung verwechselt, warum auch nicht. zurück
Wer bekommt angesichts von Blut Durst? Richtig! Von einer Vampir-Ameise lese ich zum allerersten Male! Nicht schlecht! Dafür wird mir bald schlecht, d.h.: Öbelkeit öberkömmt mich. zurück
Ja um des Schöpfers Willen: trinken Ameisen etwa mit den Füßen? Ich dachte immer, die trinken gar nicht. Und selbst wenn Ameisen mit den Füßen trinken sollten: Vampir-Ameisen beißsaugen hundertpro nicht mit den Füßen, da verwette ich meine gesamte Bibliothek für! Und lass mich zusätzlich beißsaugen, denn das will ich sehen!!! zurück
Eine Ameise mit Entengang! Jetzt wird es oberdreist: als Donald würde ich eine Beleidigungsklage einreichen, da kann der Disneykonzern noch so viele Ameisenfilme animieren! Keine Ameise der Welt kann so mit dem Bürzel schwingen wie Donald, und nicht nur deswegen nicht, weil sie keinen haben! Ameisen hingegen können – im Gegensatz zu Donald – vorzüglich krabbeln, selbst dann noch, wenn dreieinhalb Beine fehlten: da blieben dann immer noch zweieinhalb, aber nur und ausschließlich zum Krabbeln! Watschelnde Ameise, was nicht gar! zurück
Welch Rätsel türmen sich noch auf? Schwarze Extremität – schwarzer Himmel – schwarze Gummisohle? Soll ich Leser mir das zusammenreimen, erklären die Zusammenhänge mir selbst (astreiner Chiasmus)? Keine Lust!
Auch keine Lust: zu erklären, warum die Beine zerquetscht werden (also durch äußere Umstände), der Unterleib aber freiwillig zerplatzt, woran die quicklebendige Lebensgemeinschaft Mittel- und Oberleib ihrerseits gewisslich eine klammheimliche Freude hat!
Immerhin: da hat aber einer mit schwarzer Gummisohle meisterlich zugetreten: alle dreieinhalb Beinchen exakt erwischt! Zumal alle Beinchen am Mittelleib befestigt sind – und dem ist nachweislich nichts passiert. Der sollte die NATO mal lehren, was das heißt: Ziele treffen! zurück
Tätätätä: hier kommt die grandiose Auflösung, dass das Erzähler-Ich eigentlich eine Ameise ist und deswegen die Staubkörner so brockig, und der Große Ameisenmanitou weiß, was sonst noch alles!
Interessant ist, welche Leiche da eigentlich begraben werden soll: die zerquetschten Beinchen und der zerplatzte Unterleib? Zudem sind Vampire unsterblich, und von Sonnenstrahlen war nicht die Rede, von Knoblauch oder Weihwasser im Blut auch nicht! Nein: diese Ameise lebt! Im Internet ewiglich… zurück

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.