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Textkritik: Das Auge des Polyphem – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Das Auge des Polyphem

von Annelie Jagenholz
Textart: Lyrik
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Ein gemeinsames Luftschloss
hinter gefurchten Ge-Stirnen.
Sie sorgen sich nicht.
Das sind nur Mutmaßungen.

Das mediale Bewusstsein flimmert
und steigt in Seifenblasen aus den Köpfen.
Ich möchte ein Auge erfinden,
das weiter blickt …

Nicht hinaus ins All,
soviel Zeit bleibt mir nicht,
aber hinein in nur eine einzige Andeutung,
als Spion für verborgene Welten

© 2006 by Annelie Jagenholz. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine gekonnte & sehr persönliche Abrechnung mit unserer Medienwirklichkeit, vielleicht auch ein begründeter Rückzug, behaftet mit kleineren Mängeln.
Vor allem der Titel will mir nicht einleuchten. Kann und will jemand helfen?

Die Kritik im Einzelnen

Erinnert sich jemand nicht mehr, dass Polyphem ein dummer einäugige Riese war? Und dass der listenreiche Odysseus ihm dieses ausgebrannt und sich anschließend Polyphem gegenüber als Niemand geoutet hatte, was der prompt glaubte, schließlich sah er ja auch niemanden? Nun, wer sich immer noch nicht erinnert, kann sich hier sachkundig machen.
Das Auge des Polyphem ist also ein historisches, will sagen, es existiert nicht mehr. Polyphem hat nur noch seine Erinnerungen und Fantasien. Das Gedicht bietet jedoch nur 1 Fantasie an: ein gemeinsames Luftschloss. Offenbar befinden sich hinter gefurchten Ge-Stirnen keine individuellen Vorstellungen mehr, keine individuellen Wünsche, sondern ein allen gemeinsames Luftschloss. Die beliebte Projektionsfläche hinter Gestirnen (»Über den Wolken muss die Dingsbums wohl grenzenlos sein« oder »völlig losgelöst« oder »Gott im Himmel«) wird nach innen verlagert, hinter die gefurchten Stirnen – damit wird unser Gehirn zum alleinigen Wirklichkeits-Generator. Aber wir leben nicht allein, sondern in einer Gesellschaft. Das hat Folgen für unser Wirklichkeitsverständnis … zurück
Zunächst wird lapidar festgestellt: Sie sorgen sich nicht. Das könnten die Besitzer des kollektiven Luftschlosses sein, die nicht merken, dass ihr Luftschloss (z. B. der große Lottogewinn) keineswegs ihr persönliches Luftschloss ist, und sich deswegen auch nicht sorgen. Aber das lyrische Ich (das erst später auftritt) nimmt diese Behauptung sofort tendenziell zurück, indem es zugesteht, dass diese Feststellungen (gemeinsames Luftschloss bzw. nicht sorgen) durchaus nur Mutmaßungen sind; das ist gut und ehrlich, denn was weiß jemand schon von den Gedanken und Wertvorstellungen eines anderen! Wie oft hingegen hört man den dummen Satz, dass Dumme glücklich sein müssen, weil sie angeblich keine Probleme haben (nämlich nicht die, die der die Dummen angeblich Beneidende für die allerwichtigsten seiner lächerlich beschränkten Welt hält). Sprachlich bezieht sich Das sind nur Mutmaßungen übrigens nicht nur allein auf die vorher getätigten Aussagen, sondern durch die Wiederholung von Das zu Beginn des nächsten Abschnittes auf eben diesen, wodurch dessen Aussage ebenfalls relativiert wird.
Bleibt noch festzuhalten, dass dieser Abschnitt aus einem unvollständigen Satz (Ellipse) und zwei ganz kurzen Aussagesätzen besteht. zurück
Jetzt erfahren wir etwas über die Folgen des Lebens in unserer Gesellschaft: Das mediale Bewusstsein flimmert. Unser gemeinsames Luftschloss flimmert medial: da assoziiere ich sofort Flimmerkiste, denn so nannte man liebevoll die Fernsehapparate in den Anfangstagen; der spätere Ausdruck Glotze zeigt sich da schon erheblich distanzierter. Demnach ist unser Bewusstsein durch Medien geprägt. Doch das reicht nicht – woher wollen wir das wissen?
Bewusstsein äußerst sich im Handeln, und dazu gehört reden. Wir äußern unsere Vorstellungen – aber die sind nicht haltbar, denn sie steigen in Seifenblasen aus den Köpfen, wodurch sie deutlich (=sichtbar) werden, aber schnell zerplatzen. Die Halbwertzeit des medialen Flimmerbewusstseins ist sehr kurz. Die optische Anmutung von Seifenblase passt trefflich zu flimmern, gut ist auch die inhaltliche Übereinstimmung mit den ersten beiden Zeilen: hinter den Ge-Stirnenaus den Köpfen.
Was mich aber stört: Warum befindet sich das Bewusstsein in der schillernden Medienwelt, wieso deckt es sich nicht mit dieser, also steigt als Seifenblasen aus den Köpfen? Das erschiene mir folgerichtiger. zurück
Das angekündigte lyrische Ich tritt auf und will ein Auge erfinden, das weiter blickt. Das wäre der Blick über die Mattscheibe hinaus, die Suche nach einer anderen Wirklichkeit jenseits der Medienwelt. Dieses Auge gibt es nicht, es muss erfunden werden. Da nur 1 Auge gefordert wird, kann es sich nur um Polyphems handeln – aber der war gerade nicht weiter blickend und zudem ausgesprochen dumm – etwa im Gegensatz zu Ödipus, der erst durchblickte, als er sich seine Augen ausgestochen hat. Was hat also die Überschrift mit dem Gedicht zu tun?
Der zweite Abschnitt ist fertig, er besteht aus einem längeren Satz und einem Satzgefüge; die Sprache wird flüssiger, offenbar ist die »Seifenblase Sprachverkümmerung« erfolgreich geplatzt worden. zurück
All korrespondiert mit Ge-Stirnen aus dem ersten Abschnitt und wird als Ziel des weiter blickendes Auge abgelehnt: soviel Zeit bleibt mir nicht konstatiert das lyrische Ich – zu recht, nur allzu recht! Wer kennt nicht diese Legionen von Gedichten, die von All und Welt und Zeit und Raum und Nichts und Ewigkeit daherschwafeln, statt sich um nahe liegendes zu bemühen, allwo es noch allerlei zu entdecken gibt, sogar zu Lebzeiten. Zur eigentlich überflüssigen Verdeutlichung, aber weil’s so passt, ein Fundstück aus Eckhard Henscheids Sudelblättern:
»Die liebe Erde … allüberall …ewig, ewig« (Gustav Mahler). Nein, nicht. sondern viel schlimmer: 4,6 Milliarden Jahre ist sie alt. 4,6 Milliarden. 4 600 000 000. 4 600 000 000.
Unglaublich. Richtig schlecht wird einem da.
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Das lyrische Ich möchte einer einzigen Andeutung auf den Grund gehen – und warum? Weil es Spion werden mag. So weit, so gut. Aber Spion für den Großen Bruder USA nicht, auch nicht für den BND, sondern Spion für verborgene Welten. Hemhem & verlegen hüstel: Was wollen verborgene Welten bei uns ausspionieren? Die öffentlich siech dahinblühenden Medienwelten? Das kaufe ich dem lyrischen Ich nicht ab! Es meint wohl: Spion in verborgenen Welten. Spionieren will es schließlich (zunächst) für sich ganz allein.
Der letzte Abschnitt ist 1 durch eine Feststellung unterbrochenes Satzgefüge, eine nochmalige Steigerung gegenüber dem ersten und zweiten Abschnitt. Die Form gehorcht dem Inhalt und umgekehrt: So soll es sein! zurück

© 2006 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.