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Textkritik: Aufstand – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Aufstand

von Wolfgang Ratz
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Die erste Warnung war wohl das unerklärliche Zucken seiner papierenen Hände beim Brotschneiden gewesen. Margrets forschende Blicke hafteten an seinem Rücken, während er blasses Blut aus seinem Finger saugte. Es war kaum der Rede wert, rechtfertigte keinerlei Beunruhigung. Dennoch betrachtete Thomas seinen verbundenen Finger argwöhnisch, hatte er doch deutlich in Erinnerung, wie dieser in plötzlichem Ungehorsam sich sozusagen unter die Klinge des Brotmessers geworfen hatte. Wie gesagt: eine erste Warnung und im Lichte späterer Entwicklungen zweifellos eine ernst zu nehmende.
Thomas war in Eile, sein Terminkalender mit Unannehmlichkeiten zugepflastert. Er steckte drei Disketten in die Manteltasche und klapperte ohne Abschied die Stiegen hinunter und über die Gasse.
Die tiefstehende Morgensonne blendete ihn, vielleicht war er auch noch nicht völlig wach. Als er die Bremsen kreischen hörte, hatte er keine Zeit zu erschrecken. Erst als der weiße Mercedes schleudernd und unwahrscheinlich nahe zum Stehen kam, wurde sich Thomas der überstandenen Gefahr bewusst, und ohne auf den hysterischen Fahrer zu achten rief er sich selbst zur Ordnung: »So wach doch endlich auf!«
Der Zwischenfall hatte seine Knie gelockert und er musste mehrmals innehalten, bis er wieder zu entschiedenem Ausschreiten fähig war. Überhaupt empfand er eine bedrohliche Verunsicherung, da seine Gliedmaßen – ohne ihm offen den Dienst zu verweigern – die sonstige Präzision missen ließen. Wie ein ungeübtes Orchester spielten seine Muskeln bald vor, bald nach dem Takt.
Die gläserne Halle der U-Bahnstation bot sich Thomas als rettender Hafen. Er schenkte dem Schnellimbissmädchen ein schnelles Lächeln und hatte kein Bedenken, sich der ausnahmsweise funktionierenden Rolltreppe anzuvertrauen, die ihn zum untergründigen Bahnsteig führte.
Eisig fegte der Wind einem abfahrenden Zug hinterher. Thomas schloss den obersten Mantelknopf. Seine Hand fuhr in die Tasche und brachte ein vergessenes Buch zum Vorschein. Zerstreut begann er die abgegriffenen Seiten umzublättern und versenkte sich in Maupassants Paris. Als Thomas vom Buch aufsah, erstarrte er. Unbewusst hatte er sich bis auf wenige Zentimeter der Bahnsteigkante genähert. Ein bebrillter Pakistani rief ihm etwas zu und gestikulierte hilflos. Thomas trat mehrere Schritte von der Gefahr zurück und steckte das ablenkende Buch in den Mantel.
Plötzlich hob sich sein Fuß und tat einen Schritt nach vor. Thomas erschrak, da er seinem Fuß keinen derartigen Befehl gegeben hatte, und trat wieder zurück. Doch es war nicht abzustreiten, dass der Fuß die aufgezwungene Bewegung nur widerwillig ausführte und seinerseits auf die geringste Unachtsamkeit seines Besitzers wartete. Thomas sammelte seine zu früher Morgenstunde für gewöhnlich wenig beeindruckende Konzentration und versuchte die Kontrolle zurückzugewinnen. Doch sein respektloser Fuß hob und senkte sich. Ein Schritt. Der andere Fuß. Noch ein Schritt. Thomas starrte auf den Abgrund, der sich einladend vor ihm auftat, kämpfte sich einige Schritte zurück, nur um sogleich wieder Terrain zu verlieren. Sein Hilferuf formte sich nur in seinem Kopf, den widerspenstigen Lippen entkam kein Ton. Der Kampf erschöpfte ihn zunehmend, der Schweiß strömte über seine Stirne und blendete seine Augen. Er wollte sich das Salz aus den Augen wischen, doch seine Hand schlug ihm nur die Mütze vom Kopf.
Plötzlich löste sich sein verschleierter Blick vom Abgrund und setzte sich auf einer nostalgisch frisierten Schwarzhaarigen fest. Trotz größter Willensanstrengung vermochte Thomas nicht, seinen Blick an die Leine zu legen, und während er sich unter kümmerlichen Siegen und ständigen Niederlagen der Katastrophe näherte, hing sein Auge zwanghaft am mutigen Make-up der dunklen Dame. Und an ihr klebte es noch immer, während sein Wille wie die Anspannung eines besiegten Armdrückers zusammenbrach und sich gedankenlos dem fatalen Vorwärtsdrang seines Körpers ergab.
Seine Füße zeigten keine Eile, setzten nur einen Schritt vor den andern, und Thomas vernahm das Donnern des einfahrenden Zuges, die panische Stimme aus dem Lautsprecher, die Schreie der Zeugen. Nur die nostalgische Dame schien die sich anbahnende Tragödie nicht zu bemerken. Thomas lächelte ihr zu, als er über die Kante ging. Der Pakistani griff noch nach ihm, doch ins Leere, während der Zug mit kreischenden Rädern zwar notgebremst, aber um viele Meter zu spät die Trägheit besiegte.

© 2003 by Wolfgang Ratz. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine harmlos-fatale und heimtückische Geschichte, präzise erzählt mit der notwendigen Distanz, sprachlichem Einfallsreichtum und Freude am Fabulieren
und kleineren, leicht zu behebenden Mängeln, die die Qualität geringfügig herabsetzen.

Die Kritik im Einzelnen

Vergeblich versuche ich mir papierene Hände vorzustellen, aber ich scheitere: Hände dünn wie Papier? Kenne ich bisher nur aus Animationsfilmen, wenn Dampfwalzen oder ähnlich mächtige Gefährte Körperteile vorübergehend verbreitern. Die Händehaut dünn wie Papier – aber dann sind die Hände nicht papieren, sondern die Haut; die Hände verknittert wie Papier? Aber das gälte nur für verknittertes Papier. Frage: Bedarf es dieses Adjektivs (meine Lieblingsfrage)? Antwort: Nein (meine Lieblingsantwort auf meine Lieblingsfrage)!
Außerdem stellt sich später heraus, dass allenfalls 1 Hand gezuckt hat, also sollte hier angemessen auch nur von 1 Hand geschrieben werden! zurück
An dem Satz ist überhaupt nichts auszusetzen, selbst das Adjektiv blass hat etwas Eigenes, denn daran denkt niemand bei Blut. Nein, mir geht es um Bedeutung und Rolle von Margret: wer ist das? Was sucht sie in diesem Text? Sie taucht nur hier auf – und dann nie mehr! Fehlte sie und ihr an des Protagonisten Rücken haftender Blick, fehlte dem Text nichts – so finde ich. Ich würde den ganzen Satz einfach streichen. zurück
Hier tut sich eine Zeitenfalle auf: alles ist bisher im Präteritum erzählt, jetzt wird festgestellt, dass jenes In-den-Finger-Schneiden schon länger und »abgeschlossen« zurück liegt, während das Blutsaugen und das Betrachten des verbundenen Fingers offenbar so kurz nacheinander erfolgen, dass zum Verbinden eigentlich gar keine Zeit blieb, der verbundene Finger also (ausgehend von der verwendeten Zeitstufe) ein anderer sein muss als der Blutende. Das aber ist gewiss nicht beabsichtigt. Wie entgeht man aber einer solchen Zeitenfalle?
Ich erlaube mir einen Vorschlag, der nur kürzt und die Reihenfolge im ersten Absatz verändert:
Die erste und im Lichte späterer Entwicklungen zweifellos ernst zu nehmende Warnung war wohl das unerklärliche Zucken seiner Hand beim Brotschneiden gewesen. Es war kaum der Rede wert, rechtfertigte keinerlei Beunruhigung. Dennoch betrachtete Thomas seinen verbundenen Finger argwöhnisch, hatte er doch deutlich in Erinnerung, wie dieser in plötzlichem Ungehorsam sich sozusagen unter die Klinge des Brotmessers geworfen hatte. zurück
Wenn man wie ich schnöderweise Margret entfernt hat, ist es wohl sinnvoll, ohne Abschied ebenfalls zu eliminieren. Andernfalls natürlich nicht! So greift eben eins ins andere bei einem guten Text… zurück
In unseren Breiten gibt es keine hoch stehende Morgensonne: die ist qua Geburt tief stehend und bleibt es auch noch eine ganze Weile: das Adjektiv hat keinerlei Funktion mehr, darf also befreit nach Hause gehen und von der tief stehenden Mittagssonne am Äquator träumen. zurück
Ich nehme eigentlich an, dass der Erzähler hier keine Entscheidung trifft zu Gunsten der Morgensonne, also offen lässt, ob Morgensonne oder mangelnde Wachheit oder beides Ursache war (oder sogar ungehorsame Beine) für das unverhoffte Betreten der Gasse – doch dann würde ich vielleicht schon zu Beginn dieses Absatzes erwarten: Vielleicht blendete ihn die Morgensonne, vielleicht war er auch noch nicht völlig wach. zurück
Ich rätsele und rätsele, ob die Verbindung von Bahnstation mit dem metaphorischen Hafen bewusster Spott ist oder unfreiwilliger Humor – zumal völlig unklar bleibt, worin das Rettende der gläsernen Halle denn nun eigentlich besteht: dass alle Thomas sehen können, auch außerhalb der Halle? Dass da keine Autos fahren und Brotmesser außerhalb seiner Reichweite liegen, z.B. in der Imbissbude? Der Satz suggeriert eine Bedrohung, die Thomas überhaupt nicht empfindet. Ich würde diesen Satz auf eine Ortsangabe reduzieren und einfach mit dem Folgenden verbinden: In der gläsernen Halle der U-Bahnstation schenkte er dem Schnellimbissmädchen ein schnelles Lächeln und hatte keine Bedenken… zurück
Warum gestikuliert der Pakistani? Weil der ins Buch Vertiefte nichts gehört hatte und der Pakistani deshalb zu umso lauteren Gesten Zuflucht nimmt? Weil er dem ihn nun betrachtenden Thomas signalisieren will, dass er ihm bedauerlicherweise nicht hätte helfen könne, da er am Boden festgewachsen ist? Gestikuliert er, weil das seine Arme so wollen, hat er diese vielleicht so wenig unter Kontrolle wie Thomas – zunehmend – seine Beine?
Ach, wie einfach wäre alles, würde er nicht so hilflos gestikulieren! zurück
Vorher war die Abfolge klar: Es wurde Thomas kalt, er schließt den Mantelknopf und steckt zumindest eine frierende Hand in eine Tasche, wo die Hand dann überraschenderweise fündig wird. Jetzt steckt die oder die andere Hand den Fund in den Mantel. In dem Mantel steckt aber schon Thomas! Warum steckt Hand das Buch nicht einfach zurück oder wieder weg – schließlich weiß ein Leser doch, wo das Buch ursprünglich verborgen geruht hatte? zurück
Ständige Niederlagen lassen aber auch nicht die allerkümmerlichsten Siege zu – denn schließlich sind es ja ständige Niederlagen: wenn schon Adjektive, dann bitte ernst nehmen! Weg mit den kümmerlichen Siegen, denn immerhin setzt ständige Niederlagen ein immer wieder versuchtes Aufbegehren voraus! Das aber ist beileibe kein Sieg, nicht einmal ein kümmerlicher! zurück
Wo ist das andere Auge geblieben? Er wird es doch nicht beim Wischen verloren haben, zumal er es gar nicht getroffen hat? Ich plädiere hier ganz stark für beide Augen: Die Kette beginnt mit blendete seine Augen und sollte über aus den Augen, verschleierter Blick und seinen Blick wieder bei Augen enden: hingen seine Augen zwanghaft… zurück
Auch hier handelt es sich um zwei Augen, obwohl man sich durchaus die Frage stellen darf, ob nicht das eine Auge am Make-up hing, während das andere irgendwo an der Dame klebte; schließlich hängt nicht alles, was klebt (dennoch kann durchaus etwas kleben, was man hängen sieht). Wenn es ein und dasselbe Auge wäre, müsste es schließlich auch grammatisch Und an ihm klebte es noch immer heißen – wegen dem Geschlecht von Make-up.
Darin will ich mich jedoch gar nicht festbeißen, ich ziehe eine Streichung des ganzen Teilsätzchens vor allem anderen und bei weitem vor, denn schließlich hing das Auge bereits zwanghaft, und dieser Zwang wurde nirgendwo aufgelöst. Dann hieße es: …hingen seine Augen zwanghaft am mutigen Make-up der dunklen Dame, während sein Wille zusammenbrach wie die Anspannung…
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich zusammenbrach in meiner Version vorgezogen habe; das geschah aus und zum Selbstschutz, denn ich habe den Satz dauernd falsch gelesen, weil sich in meinem Hirn das wie auch bei mehrmaligem Lesen tückisch in ein sowie verwandelte. Weniger aufmerksamen Lesern darf das schnurzegal sein. zurück
Also: mit den Füßen ist das so eine Sache, denn während hochsprachlich und im Norden Deutschlands Füße klar abgegrenzte Teile sind, bezeichnen die süddeutschen Füße – zumindest umgangssprachlich – das Gebilde von den Zehenspitzen bis zu den Hüftgelenken, Fuß steht also synonym für Bein. Nun weiß ich nicht, wie das in Österreich ist, habe zu meinem Leidwesen mein Lexikon österreichisch-deutsch verlegt. Ich nehme aus süddeutscher Solidarität einmal an, dass auch Österreich mit Fuß ein komplettes Bein gemeint, denn um Schritte zu machen, braucht es einfach Beine. Man kann zwar sowohl einen Fuß vor den anderen setzen als auch ein Bein vor das andere, das spielt keine Rolle; wenn ich mir aber eine Filmszene vorstelle, wo ich eine Großaufnahme zweier Füße sehe, die sich bewegen, würde ich hochsprachlich niemals sagen, es seien »Füße, die keine Eile zeigten,« oder »einen Schritt vor den anderen setzten«, sondern ich würde sagen, dass die Füße vorrückten oder ähnlich Fantasieloses. Mein Änderungsvorschlag: Man ersetze Füße durch Beine. zurück
Überraschung: Wann hat Thomas denn die Kontrolle über seine Beine wiedergewonnen, sodass er hier selbst & willentlich gehen kann? Im Gegensatz zum Wortlaut halte ich dafür, dass Thomas nicht über die Kante ging, sondern dass seine Beine ihn über die Kante trugen (oder kippten) – bekanntlich machen die immer noch, was sie wollen: Thomas lächelte ihr noch zu, als er über die Kante kippte (oder: …, als seine Beine ihn über die Kante trugen/kippten. – Aber das wäre mir zu lang!). zurück

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