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Textkritik: An die Waldblume – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

An die Waldblume

von Claus Lehnen
Textart: Lyrik
Bewertung: von 5 Brillen

ich folgte dem Auf und Ab des dunklen Pfads,
links und rechts besäult von hohen Bäumen,
kathedralengleich, beseelt von meinen Träumen,
ängstlich und stolz, eine Blume findend, eines Tags.

Ich kniete mich zu ihr hinunter und sog ein ihren Duft,
spürte an meiner Wange ihr zartes Blütenblatt,
vom Winde zitternd, meine Sinne so matt,
oh mein Gott, wie süß schmeckte da die Luft.

Was danach geschah, ich weiß nicht mehr genau,
nur, ich schlief ein auf der weichen Erde,
ihr zu Füßen, und träumte sie werde
zu meiner lieben Frau.

Wir schritten barfuß über tauendes Land,
uns das große Versprechen gebend: »Wir geloben«
Du hobst den Arm und zeigtes nach oben,
und das wir sahen uns auf ewig verband:

Die Sonne rollt in einem Bogen den Horizont dahin,
der Himmel scheint mit Gold bemalt,
auf ihm angeschlagen und vom Lichte angestrahlt:
drei kleine Edelsteine farbig glüh`nd, in smaragt`, rubin` und lapislazulin.

P.S.: Meine Liebste wird heute dreißig Jahre alt,
ein dreifach Hoch auf meine Blume aus dem Wald.

© 2004 by Claus Lehnen. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Völlig verunglückt
Gelegenheitsgedichte sind Gelegenheitsgedichte und sollten es bleiben!  Ist es ein persönliches, wird sich der Betreffende freuen, unabhängig von jeder literarischen Qualität. Wird es veröffentlicht wie z.B. in einschlägigen Sammlungen à la  »Lustige Verse zu traurigen Anlässen« oder »Launiges für alle Gelegenheiten«, darf man zumindest erwarten, dass diese Texte handwerklich und inhaltlich sauber sind – und das sind sie häufig auch. An diesem angeblichen Gedicht stimmt nichts, weder Versmaß noch Reimschema noch Rechtschreibung noch Zeichensetzung, geschweige denn der aberwitzige Inhalt. So etwas sollte man besser für sich behalten.

Die Kritik im Einzelnen

Man kann ein Gedicht auch wie eine Erzählung beginnen – warum nicht -, frei und ohne erkennbaren Rhythmus. Unerklärlich bleibt jedoch das Komma am Ende der Überschrift: Das ist so ungewöhnlich, dass es eigentlich etwas bedeuten müsste – tut es aber nicht, die erste Gedichtzeile hat mit der Überschrift überhaupt nichts zu tun! Vielleicht soll das Komma auch nur warnen: Obacht! Die Zeile endet hier, nicht weiterlesen!
Bedeutung ist dreierlei: das lyrische Ich befindet sich in bergiger oder zumindest hügeliger Landschaft; zweitens ist der Pfad dunkel, also schwarz asphaltiert oder dunkelgrau betoniert, was für Pfade eher ungewöhnlich ist; vielleicht wandelt das lyrische Ich auf einem dunklen Pfad, d. h. es will irgendwelche Gesetze überschreiten, und seien es auch nur die 10 Gebote; zum Dritten folgte das lyrische Ich brav diesem Pfad, hat also nie an eine Richtungsänderung gedacht, was – wenn es denn ein Verbrecher wäre – zeigte, dass ein solcher sehr wohl seine Einstellung ändern könnte: eine solche Sicht der Dinge wäre sehr zu begrüßen! zurück
Ein Viertes wird klar: der Pfad verläuft durch Wald und nicht am Waldrand, da er beidseitig von Bäumen »besäult« ist (eine Eigenschöpfung, sehr anschauliches Wort). Säulen haben eigentlich etwas Erhabenes, Aufstrebendes, Majestätisches – aber das weiß das lyrische Ich bislang noch nicht: es kennt Säulen nur im abgebrochenen Zustand bzw. als niedrige Sockel, sonst müsste es nicht so hochbedeutsam betonen, dass der Pfad von hohen Bäumen besäult ist statt von Bonsaifichten! Dieser Vers hat jetzt einen gleichmäßigen Rhythmus (4 Trochäen, da hohen ja gestrichen wurde).
Jetzt aber hat das lyrische Ich etwas gelernt und kann getrost die hohen Bäume auf Bäume reduzieren: spart Druckerschwärze und schont Kiefer und Stimmbänder beim Vorlesen des Gedichts! zurück
Wohin gehört dieses kathedralengleich? Sind Kathedralen von hohen Bäumen besäult? Sind Kathedralen so schmal wie Pfade? Folgen Kathedralen dem Auf und Ab der Pfade wie das lyrische Ich? Worauf auch immer man kathedralengleich beziehen möchte – es ergibt keinen Sinn; vielleicht soll es das auch nicht – es wird zwischen zwei Kommas gepackt und ins Gedicht gestellt, das sich gewaltig in die Lüfte erhebt und immer mehr Boden unter den Füßen verliert, kaum dass es sich auf den Weg gemacht hat:
beseelt von meinen Träumen – es folgt ein weiteres in Komma geklemmtes Partizip (genau: kathedralengleich seiend war das erste, und seiend wird im Deutschen fast immer getilgt) ohne erkennbaren Bezug: Wer oder was ist denn von den von den Träumen des lyrischen Ichs beseelt: der Pfad? die Bäume? die Kathedrale? das lyrische Ich selber? Im letzteren Falle müsste es dann wegen der Kongruenz auch noch kathedralengleich sein – mir kann das völlig egal sein, ich habe das nicht geschrieben. Eine Aneinanderreihung von Partizipien macht noch lange kein Gedicht – auch wenn der Vers jetzt 6 Trochäen anbietet nebst dem Standardreim zu Bäumen. zurück
Die gleichen hilflosen Partizipien, die gleichen unklaren Bezüge: wer oder was ist ängstlich und stolz – vermutlich ist es das kathedralengleiche lyrische Ich, das – da es ja von seinen Träumen beseelt ist – ängstlich und stolz ist. Man erwarte von mir keine sinnstiftende Erklärung, warum jemand, der beseelt ist, deswegen ängstlich und stolz ist, mir fällt dazu nur Unsinn ein: Es sind halt Angstträume, und die sind so abwegig, dass nur das lyrische Ich sie hat, worauf es wiederum stolz ist und sich durch diesen Angststolz quasi selbst beseelt – also gewissermaßen so, als ob ein Säufer seine Abhängigkeit zu einer persönlichen Leistung umdefiniert.
Es folgt die erstaunlichste Partizipialkonstruktion: eine Blume findend! Nochmals dieses feinstofflich überaus verquere Partizip Präsens: eine Blume findend! »Was tust du da?« – »Nix weiter, ich finde gerade eine Blume!« – »Okay, aber lass dich dabei nicht erwischen!« Das lyrische Ich folgte (Präteritum) eine Blume findend (Partizip Präsens, also Gleichzeitigkeit) dem Pfad! Das muss eine sehr lange Blume gewesen sein, die DLI (=das lyrische Ich; ich kürze hinfort so ab, ich schätze mal, dass es noch einiges zu diesem Tropf zu sagen geben wird …) entdeckt hat, oder eine sehr zerfetzte, so dass es erst nach Zusammensetzung der Einzelteile erahnen kann, dass diese dermaleinst Blume gewesen sind – aber dann hätte DLI ja keine Blume gefunden, sondern deren Einzelteile; allerdings kann es von diesen immer wieder eines finden, so dass dem Gesamtprozess des Findens&Sammelns durchaus eine gewisse Dauer eignen könnte, sofern es z. B. ein Monstergänseblümchen oder eine Mammuttulpe gewesen ist!
Wie auch immer: Jedenfalls ist es doch noch gelungen, den Sinn zumindest einer der Partizipialkonstruktionen zu klären, allerdings müsste die Zeile entsprechend geändert werdend: ängstlich und stolz die Einzelteile einer Blume findend eines Tags! Alle Kommas mussten eliminiert werden, nur so kann auch der Rest sinnvoll eingegliedert werden: Der lange Marsch wird eines Tages belohnt, da DLI unversehens mehrere Einzelteile findet, die es zunächst ängstigen, weil es sie nicht zuordnen kann, dann aber mit Stolz erfüllen, als es erkennt, dass sie in toto eine Blume ergeben!  Das Metrum war schon in der ursprünglichen Zeile halt irgendwie, sodass sich durch die Änderung nichts verschlimmerte.
Dem vermag der geneigte Leser entnehmen, wie wichtig Kommasetzung ist: Die völlig sinnlos erscheinende Wörterzusammenballung in der Gedichtzeile fugt sich plötzlich kathedralengleich zu einem runden Ganzen! zurück
Anmerkung: Ab jetzt bezieht sich der Link immer auf die ganze Strophe – der Übersicht wegen, denn im Prinzip könnte ich jedes dritte Wort verlinken, aber dann sähe man vor lauter Links den Text nicht mehr. Und da das Metrum weiterhin macht, was es will , lassen wir es ab jetzt einfach außer 8!
Die Monsterblume ist so groß doch nicht, da DLI sich hinknien muss, um ihren Duft zu saugen. Allerdings hat der Kelch etwas durchaus monstermäßiges: Beim Duftsaugen spürt seine Wange ihr zartes Blütenblatt; der Kelch, aus 1 einzigen Blütenblatt gebildet, fasst nämlich problemlos die gesamte Kinnpartie + 2 Wangen, wobei nur 1 Wange das Blütenblatt berührt. Erfreulich, dass uns mitgeteilt wird, dass es sich bei der Wange um die des LI handelt, ich hätte sonst dummerweise die der Försterliesl vermutet! Allerdings: Solch gigantische Flachblume muss man nicht finden, über die stolpert man!
Das nächste Partizip vom Winde zitternd lässt – wie inzwischen schon gewohnt – mehrere Möglichkeiten offen, nämlich entweder zittert im Nachtwind Blütenblatt oder Wange, während das direkt Anschließende endlich die Erklärung für die Erlebnisse von DLI liefert: meine Sinne so matt! DAS hätte uns schon zu Anfang gesagt werden können, dann hätte ich mir nicht so viele unnötige Gedanken machen müssen! Mit matten Sinnen ist nicht zu spaßen, besonders nicht beim Verfassen von Texten – das muss schief gehen: Schon in der folgenden Zeile stellt DLI schwachmatten Sinnes fest, dass die Luft oh-mein-Gott-wie-süß schmeckt: Wie süß müsste die erst geschmeckt haben, hätte DLI  mit hellwachen Sinnen seinen Unterkopf in den Blütenkelch gesenkt? Nicht auszudenken, geschweige denn in Worte zu kleiden wäre diese Süße, schließlich gibt es nichts Größeres als Gott … zurück
DLI weiß nicht, was geschah, außer, dass es einschlief, und es kann sich an den ganzen Traum erinnern: Was gibt es da sonst eigentlich noch zu wissen? Hat es die vorbeifahrenden Panzer nicht gesehen oder Rumpelstilzchen beim Rumpeltanz nicht gehört? DLI weiß doch alles: Eingepennt ist es und hat einen fetten Traum. Der Traum ist selbstverständlich träumerisch, obwohl DLI schon zuvor traumbeseelt war (sofern sich das nicht auf die Kathedrale usw. bezogen haben sollt). Spanned ist allemal die Frage, was einem Traumbeseelten noch zusätzlich an Träumen draufgesattelt werden kann: Lässt sich beseelt semantisch steigern? »Ich bin traumbeseelter als du! « – »Selber schuld!«
Soso: DLI macht also die Großkopf-Einblatt-Tulpe zu seiner lieben Frau! Da gäbe es durchaus technische Fragen, aber ich bin kein Floraphiler und will es auch nicht werden. Ob der religiöse Kontext von »meiner lieben Frau« hier mitbedacht wurde, weiß nur DLI allein. zurück
Man stelle sich das mal vor, und zwar ganz konkret: DLI und  Großkopf-Einblatt-Tulpe marschieren Hand in Hand (man vergesse bitte keinesfalls den Größenunterschied!) barfuß (also ICH kenne Wandertulpen nur mit Wanderschuhen, denn längere Strecken stehen die zarten Würzelchen nicht durch, mein Wort drauf!) durch tauendes Land – das heißt doch, dass es kalt und ziemlich matschig ist, oder? Und während dieser ganzen Matschwanderung geben sie sich das großes Versprechen – das dauert; unwillkürlich denkt man dabei an eine längere Rede – doch wie lange dauerte dieses barfüßige Schreiten tatsächlich? Maximal 4 Schritte: Wir-ge-lo-ben. Gut, da sie es beide gleichzeitig sprechen (sonst wäre das wir ja völlig blödsinnig) und das auch noch vereinbart und geübt werden muss, sagen wir: 15 Schritte, einverstanden? Müßig zu fragen, was daran das große Versprechen sein soll, ist ja eh nur ein Traum!
Unversehens bekommt Wandertulpe jetzt einen Arm verpasst, aber der funktioniert nicht richtig, denn es heißt »Du (.)zeigtes nach oben« statt z. B. »Du (.) zeigst es: nach oben!«
Die letzte Zeile eröffnet dank fehlender Kommas mindestens 5 Variationen (jedoch nur unter der Voraussetzung, dass nicht noch zusätzlich Rechtschreibfehler darin versteckt sind wie in der vorhergehenden Zeile, z. B. das statt dass oder verband statt verbannt); man suche sich doch bitte die passende Möglichkeit selbst aus, vielleicht sind ja auch alle gemeint:
und das, wir sahen uns auf ewig, verband
und das, wir sahen, uns auf ewig verband
und, das wir sahen uns, auf ewig verband
und, das wir sahen uns auf ewig, verband
und, das wir sahen, uns auf ewig verband
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Wenn die Sonne den Horizont dahinrollt, rollt sie auf einer Geraden, nämlich horizontal! In einem Bogen kann sie nur rollen am Horizont oder über den Horizont – obwohl: das ist alles nur ein Traum, und in Träumen ist bekanntlich . eben. Abgegriffener geht es kaum, auch das Gold muss her, und auf dem Himmelsgold über dem tauenden Land prangen jetzt noch drei klein Edelsteinlein fein, die jemand dort am Himmel angeschlagen hat wie weiland Luther seine Thesen eben gerade nicht – oder sind die Edelsteinlein höchstselbst etwa angeschlagen, also schartig oder abgenagt? – Es ist zum Edelsteinausbeißen!  Erlesen auch die Farbe »in smaragt«, denn der grüne Kerl heißt von Rechts wegen Smaragd, das dazugehörige Adjektiv »smaragden«, das »in« ist ünerhaupt nicht nötig, die Apostrophe sind völlig daneben … Dieses edelsteinlastige Gesumse ist alles andere als ein Kleinod deutscher Sprache, es zeichnet auch DLI nicht aus, man merkt schließlich, dass es immer noch duftbesoffen ist und selbst im Traum sinnenschwach vor sich hin lallt. Müsste von Rechts wegen ein Horrortrip sein, diese Story mit barfüßiger Großkopf-Einblatt-Wandertulpe im Schneematsch trotz güldener Rollsonne nebst angeschlagenem Edelgestein. zurück
Spätestens hier merkt der letzte, wes Geistes Kind dieses Machwerk ist: eins dieser fürchterlichen Gelegenheitsgedichte; nähme man es auch nur ansatzweise Ernst, wäre DLI zufällig im Wald über eine Frau gestolpert, weil sie so stark roch – so etwas soll es ja geben. Und jetzt schenkt es ihr aus Dank zum Dreißigsten ein golden Armkettchen mit drei angeschlagenen Edelsteinen: Smaragd, Rubin und Lapislazuli, und einem güldenen Anhänger mit der Gravur: »Ew’g glüh’nd für DLI «. zurück

© 2004 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.