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Textkritik: Alles online – oder was? – Prosa

Eine Gastkritik von Nicole Thomas

Alles online – oder was?

von Marlene Geselle
Textart: Prosa
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Noch ein bisschen schläfrig hat die dicke Hausfrau die Türe vom Arbeitszimmer hinter sich zugemacht. Sich an den Rechner gesetzt und aufs Knöpfchen gedrückt. Leises Summen, sanftes Sirren. Ein Mausklick, und schon öffnet sich das Fenster zum Tor in die große weite Welt. Dort, wo es alles in Hülle und Fülle gibt: News, Zeitgenossen zum Chatten – und nicht zu vergessen, alles, was das Herz an Waren, Dienstleistungen und sonstigem begehrt.
Ein verstohlener Blick auf die Uhr sagt ihr, Zeit, sich auf die etwas schnelleren Socken zu machen. Um 7.30 Uhr ist die world.wide.web-Welt zwar noch in Ordnung. Aber was, wenn um Schlag 8.00 Uhr das reale Büroleben erwacht und sich auf die virtuelle Welt stürzt.
Nicht trödeln, dicke Hausfrau. Wer zu spät kommt, den bestraft der Browserabsturz!
Aber um diese Zeit ficht dies die dicke Hausfrau noch nicht an. Noch geschlagene 30 Minuten bis zum morgendlichen Chaos. Zeit genug, der Freundin eine Mail zu schicken, mit dem Rezept für handgeschabte Curryspätzle!
»Menschen haben es gut«, spricht da der Computer das erste Mal an diesem Morgen zu ihr. »Menschen kriegen richtiges Essen mit Farbe und Geschmack.« Da huscht ein Lächeln über die Wangen der dicken Hausfrau. »Hat Strom denn keine Farbe? Keinen Geschmack?« – »Nein, leider.«
Oben in der Wohnung ist noch alles ruhig. Der Herr Gemahl schon zur Arbeit; die kleine, freche Tochter kann heute länger schlafen – schon wieder Unterrichtsausfall. Und erst 7.45 Uhr. Zeit genug, den neuen Versandhauskatalog anzusehen. Wenn schon das Banner so verführerisch blinkt.
»Denk an die Zeit!«, mahnt der Computer. »Ach, es wird schon reichen! Ich brauch doch nur ein paar Sommerblusen«, antwortet die dicke Hausfrau leicht unwirsch. Rief die gesuchte Seite auf, lehnte sich bequem im Bürosessel zurück und harrte der Dinge, die sie erfreuen sollten.
»Die Seite wird aufgebaut. Bitte haben Sie einen Moment Geduld!«
»Die Seite wird aufgebaut. Bitte haben Sie einen Moment Geduld!«
Da hat die dicke Hausfrau runde Augen gekriegt, einen scheuen Blick auf die Uhr geworfen. Es sind doch erst 7.55 Uhr! Noch gar keine Angestellten/Beamten/Surfzeit! Nicht schon um 7.55 Uhr.
»Die Seite wird aufgebaut. Bitte haben Sie einen Moment Geduld!«
»Die Seite wird aufgebaut. Bitte haben Sie einen Moment Geduld!«
So flimmerte es unerbittlich am Bildschirm. Und der Zähler lief unerbittlich mit und zeigte der dicken Hausfrau, wie viel an Knete gerade versurft wurde.
»Die Seite wird aufgebaut. Bitte haben Sie einen Moment Geduld!«
Da hat die dicke Hausfrau resigniert mit den Schultern gezuckt, dem Rechner einen liebevollen Klaps gegeben. Den Seitenaufbau abgebrochen, das Programm beendet und die Verbindung gecancelt.
Ist aufgestanden, zur Türe gegangen, noch einen sehnsüchtigen Blick auf den längst dunklen Bildschirm geworfen.
Offline.

© 2003 by Marlene Geselle. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Die folgende Kritik (Zusammenfassung und Einzelkritik) stammt erneut nicht von mir, Malte Bremer, sondern von Nicole Thomas. Mehr dazu und zu ihrer Person findet sich hier. Jetzt aber zu »Nicoles Meinung«:

Insgesamt ist der Text durchaus flüssig erzählt, humorvoll und erfrischend lebendig. Leider weist er noch etliche Ungereimtheiten auf und enthält keinen nennenswerten Höhepunkt. Dabei hätte sich dieser Text mit ein wenig mehr Anstrengung spielend in etwas wirklich Lesenswertes verwandeln können.
So humorvoll und wortgewandt dieser Text auch ist, so belanglos ist er auch. Die etwas vorzeitig aufgetretenen Schwierigkeiten beim Aufbau der Site reichen einfach nicht aus, eine wirklich interessante Wendung herbei zu führen. Der Text zeugt von Spaß am Schreiben und einem guten Gespür für den Umgang mit Sprache, aber das war es dann auch schon. So, wie er jetzt ist, mutet er wie die Klischeevorstellung des Tagesablaufs einer Hausfrau an: Eine Aneinanderreihung von Tätigkeiten, ohne besondere Vorkommnisse und im Endeffekt ziemlich frustrierend. Aber das kann doch nicht schon alles gewesen sein, oder?

Die Kritik im Einzelnen

In diesem Satz sind zwei Dinge nicht ganz schlüssig. Dass die Hausfrau aufgrund der frühen Uhrzeit noch recht müde ist, wird erst im weiteren Verlauf des Textes deutlich. Bis dahin ist das Ganze für den Leser eine Information ohne Wert. Also kann man das schläfrig hier entweder streichen oder direkt erklären, indem man die Aussage konkretisiert und sagt, dass die Hausfrau zu dieser frühen Uhrzeit noch ein wenig schläfrig ist. Wobei ich die Begriffe müde oder verschlafen allerdings noch passender fände als schläfrig. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die dicke Hausfrau die Tür nun von innen oder außen zugemacht hat. Und da die Antwort aus dem unmittelbar darauffolgenden Satz sofort ersichtlich wird, wäre es sinnvoll, den Punkt zwischen beiden Sätzen durch ein Komma zu ersetzen. So erhält man zwar einen relativ langen, dafür jedoch in sich schlüssigen ersten Satz. Und so prägnant die Bezeichnung dicke Hausfrau auch sein mag, so klischeebeladen ist sie auch. Ist hier wirklich keine weniger plakative Charakterisierung möglich? zurück
Das Fenster zum Tor klingt holprig und beeinträchtigt den Lesefluss. Einer dieser beiden Begriffe sollte gestrichen werden. Meine Empfehlung wäre, das Tor zu streichen und dem Fenster den Vorzug zu geben, denn das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Fenster bietet meiner Meinung nach die reizvollere Variante. zurück
Schön und gut, aber was bezweckt diese Aufzählung eigentlich? Dass es all diese Dinge – und noch etliche mehr – im Internet gibt, ist klar, wozu also das Offensichtliche noch einmal besonders betonen? zurück
Warum verstohlen? Vor wem soll dieses Überprüfen der Uhrzeit denn verborgen bleiben und vor allem: Warum? Verstohlen macht hier keinen erkennbaren Sinn, ich würde es ganz einfach weglassen. zurück
Dieser Satz ist als Frage formuliert und sollte meiner Meinung nach folglich auch mit einem Fragezeichen beendet werden. Und so reizvoll das Spiel reale / virtuelle Welt auch ist, so unstimmig wirkt es, wenn die Begriffe real, irreal und virtuelle Realität vollkommen beliebig verwendet werden. Besser, wenn auch zugegebenermaßen nicht allzu originell, wäre, wenn in den Büros die Arbeit beginnt und die Angestellten sich in die virtuelle Welt stürzen. zurück
Wohl eher die world-wide-Warteschleife. Ansonsten kann ich der dicken Hausfrau nur empfehlen, es einmal mit einem anderen Browser zu versuchen, wenn der, den sie jetzt benutzt, den alltäglichen Stau auf dem Datenhighway gleich mit einem Absturz quittiert. Außerdem: könnte man diesen etwas unmotiviert im Raum stehenden Hinweis nicht vielleicht schon dem Computer zuschreiben? Es spricht doch eigentlich nichts dagegen, dass sich der Rechner schon etwas früher zu Wort meldet, und diese Aussage wäre dann um einiges harmonischer in den Text integriert. zurück
Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Bisher war sie doch immer der Ansicht, sich beeilen zu müssen und nicht trödeln zu dürfen. Und jetzt auf einmal ist sie die Ruhe selbst? Das erscheint mir nicht wirklich nachvollziehbar. zurück
Grundsätzlich ist die Idee recht interessant, dass die Hausfrau sich mit dem Computer wie mit einer menschlichen Person unterhält, die Maschine vielleicht sogar den Status eines Familienmitgliedes einnimmt. Leider ist der Dialog selbst nicht allzu unterhaltsam. Der Werbeschwachsinn mit der angeblich gelben Farbe elektrischen Stroms wird hier viel zu halbherzig durch den Kakao gezogen. Das geht auch bissiger! Aber vielleicht sehe ich das ja falsch, und die Werbung sollte gar nicht ad absurdum geführt werden. Schließlich basiert ja schon die Überschrift auf einem abgewandelten Werbeslogan – was übrigens nicht wirklich gelungen, weil nicht besonders einfallsreich ist. Wie auch immer: so, wie er da steht, ist der Dialog zwischen dicker Hausfrau und Computer alles andere als interessant. Außerdem würde ich statt huscht ein Lächeln über die Wangen der dicken Hausfrau die übliche Formulierung huscht ein Lächeln über das Gesicht der dicken Hausfrau vorziehen. Selbst wenn man, aus welchen Gründen auch immer, diese Redewendung abändern möchte, macht es keinen Sinn, an dieser Stelle Wangen zu schreiben, denn zunächst einmal ist an einem Lachen zuallererst die Mundpartie beteiligt, und ich sehe keinen Anlass, warum man diese hier überspringen sollte. zurück
Also, zumindest ein ist sollte man diesem Satz schon verpassen, wenn schon auf eine weitergehende Formulierung wie zur Arbeit unterwegs oder zur Arbeit gefahren verzichtet wird. Entweder ergänzt man also diesen Satz entsprechend, oder man setzt einfach hinter den vorhergehenden Satz statt eines Punktes ein Komma. zurück
Diese Informationen beschreiben eine Person, die hier nicht näher in Erscheinung tritt, sind daher eigentlich überflüssig. Der Hinweis auf den Unterrichtsausfall lässt den Leser wissen, dass die Tochter noch im schulpflichtigen Alter ist, und das ist für die Charakterisierung einer eher unwichtigen Nebenfigur vollkommen ausreichend. Bleibt an dieser Stelle eigentlich nur noch die Frage, warum es zuvor beim Betreten des Arbeitszimmers eigentlich so immens wichtig war, die Tür zu schließen, wenn in der Wohnung doch alles ruhig ist. Schließlich besteht weder die Gefahr, dass die dicke Hausfrau gestört wird, noch stört sie ihrerseits jemanden. Für gewöhnlich sind nämlich weder das Schreiben einer E-Mail noch das Stöbern in virtuellen Katalogen mit übermäßiger Geräuschentwicklung verbunden. zurück
Dieser Satzanfang wirkt unnötig abgehackt. Auf überflüssiges Herumreden zu verzichten, ist zunächst einmal ja vollkommen korrekt und wünschenswert. Hier wird jedoch zu sehr an Worten gespart. Ein einleitendes sie darf man dem Satz schon gönnen. Außerdem war der Text, seit sich die dicke Hausfrau an den Rechner gesetzt hat, im Präsens gehalten. Ausgerechnet an dieser Stelle plötzlich wieder in die Vergangenheitsform zu wechseln, ergibt keinen erkennbaren Sinn. zurück
Ungläubig erscheint mir in diesem Zusammenhang passender als scheu. zurück
Korrekt muss es heißen Es ist doch erst 7.55 Uhr. zurück
Das an vor Knete ist in jedem Fall überflüssig, außerdem klingt Knete zu nachlässig und umgangssprachlich, das hat der Text nicht verdient. Der Begriff Geld mag vielleicht nicht allzu einfallsreich wirken, ist hier jedoch angemessener. zurück
Sicher, dass sie tatsächlich den Rechner getätschelt hat? Oder war es vielleicht doch eher der Monitor? zurück
Da hat die dicke Hausfrau ihre Enttäuschung aber ziemlich schnell überwunden, wenn sie so problemlos von resigniert auf liebevoll umschalten kann. Auch dieser Sinneswandel kam wieder einmal ein bisschen sehr plötzlich. zurück
Wenn die dicke Hausfrau zur Tür geht, ist sie logischerweise vorher aufgestanden, das muss also nicht noch einmal explizit betont werden. Außerdem fehlt hier definitiv ein hat, die Formulierung ist noch einen sehnsüchtigen Blick auf den Bildschirm geworfen ist schlicht und einfach sprachlich falsch. Außerdem: Wieso ist der Bildschirm dunkel? Die dicke Hausfrau hat doch nur ein Programm beendet, da müsste dann doch noch die Benutzeroberfläche oder ein Bildschirmschoner zu sehen sein. Davon, dass sie den Computer komplett heruntergefahren hat, war bisher doch noch gar nicht die Rede. zurück
Ob das offline an dieser Stelle des Textes besonders sinnvoll ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Mir persönlich gefällt es, weil es noch einmal das definitive Ende des Online-Aufenthaltes betont, sowie eine schöne Verbindung zu der, wenn auch leider nur mäßig einfallsreichen, Überschrift darstellt. Andererseits kommt diese Feststellung ein bisschen spät – offline war die dicke Hausfrau doch spätestens, nachdem sie die Verbindung gecancelt hat. zurück

© 2003 by Nicole Thomas. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.