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Stephen King sehen – und sterben

Stephen King (Foto: Wolfgang Tischer)
Stephen King (Foto: Wolfgang Tischer)

Ich bin kein Fan von Stephen King. Früher war er für mich der Inbegriff des Trash-Schreibers. Einer, der Horror-Geschichten zum schnellen Weglesen verfasst, Groschenromane in Backsteinform.

Und heute? Im November 2013 kam Stephen King zum ersten Mal nach Deutschland, um seinen Roman »Doctor Sleep« vorzustellen. Und ich gebe knapp 200 Euro aus, um ihn in Hamburg live zu sehen.

Danach werde ich sterben. Das hat mir Stephen King eröffnet. Seitdem bin ich doch so etwas wie ein Fan.

Bühnenprofi im T-Shirt

King erscheint vor den 3.000 Menschen im ausverkauften Congress Centrum Hamburg im  grauen Schlabber-Shirt und Jeans. Man hat den Eindruck, er wäre mal eben von seinem Schreibtisch aufgestanden, um für ein paar Minuten auf die Bühne zu kommen. Die Tölpel erwarten eben Anzug und Krawatte, heißt es in »Doctor Sleep«. So gesehen nimmt Stephen King seine Fans an diesem Abend sehr ernst.

Alle warten auf Stephen King
3.000 Menschen im CCH warten auf Stephen King

Eines dieser gutgelaunten, kantenlosen, smarten TV-Gesichter, Ingo Zamperoni, trägt Anzug und moderiert alles reibungslos weg – ein Markus-Lanz-Klon. Und heute Abend eben Stephen King. Manche anschleimenden Fragen tun weh. Schade, dass Denis Scheck nicht auf der Bühne sitzt, denke ich. Erst Tage später erfahre ich, dass Scheck tatsächlich einen Tag zuvor in München moderiert hat, wo King seinen zweiten Auftritt in Deutschland hatte. Der erste war vor US-Soldaten in Ramstein.

Da Zamperoni mit einer Amerikanerin verheiratet ist, beherrscht er den deutsch-amerikanischen Sprachwechsel an diesem Abend sehr souverän. King macht sich einen Spaß daraus, dass Zamperoni alles übersetzen muss (»You can translate your ass off!«)

King ist Bühnenprofi. Jeder Gag sitzt, jede Anekdote klingt so frisch, als wäre sie ihm gerade erst eingefallen. Dazu gehört auch damit zu kokettieren, dass er so viele Menschen nicht gewohnt sei, da er ansonsten einsam am Schreibtisch sitze.

Aus »Doctor Sleep« liest er direkt vom iPad ab, während er etwas auf der Bühne herumwandert. Zuvor macht er sich darüber lustig, dass sein Deutscher Verlag dazu neige, seine Bücher mit kurzen Titeln zu versehen. Nach »It« (»Es«) wurde aus »Misery« lediglich »Sie«. Ein Wunder, scherzt King, dass aus »Doctor Sleep« nicht »Sleep« wurde. Allerdings müsse er zugeben, dass das deutsche »Essssssss« besser klinge als »It«.

»Doctor Sleep« ist die Fortsetzung von »Shining« – ein Roman, den die meisten eher wegen der Kubrick-Verfilmung kennen dürften. Doch just diese Adaption mag King nicht. Rob Reiner (Misery, Stand by me) und Frank Darabont (Die Verurteilten, Der Nebel) hätten seine Stoffe besser umgesetzt.

Dennoch brachte mich Kubrick dazu, dass »Shining« mein erstes King-Buch war. Damals empfand ich es als ungeheuer geschwätzig.

Riding the Bullet

Erst Jahre später lese ich wieder etwas von King, weil ich seine Experimentierfreude liebe. Mit »The Green Mile« belebt er Mitte der 1990er den Fortsetzungsroman. Noch sprach man nicht von Globalisierung, doch die Geschichte über den Todestrakt eines Gefängnisses erschien in monatlichen Folgen zeitgleich weltweit.

Und dann kam »Riding the bullet«. Im Jahre 2000 erzeugte dieser zunächst nur digital erschienene Text für den ersten Medienrummel ums E-Book, lange vor Kindle und Co. Seinerzeit las ich die Erzählung auf einem Palm Pilot. Zum ersten Mal vergaß ich bei der Lektüre das »Trägermedium«, denn der Text übte eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus. Die Geschichte selbst war nicht sonderlich spektakulär: Ein Student macht sich auf dem Weg zu seiner Mutter, da diese nach einem leichten Schlaganfall im Krankenhaus liegt. Er fährt per Anhalter, und einer der Fahrer, der ihn nachts mitnimmt, entpuppt sich als Untoter. Er stellt den Studenten vor die Wahl: Bevor sie die nächste Stadt erreichen, muss er sagen, ob er sterben soll oder seine Mutter. In letzter Sekunde entscheidet er sich verzweifelt für seine Mutter, und er ängstigt sich daraufhin noch viel mehr, dass er sie nicht mehr lebend antreffen wird. Doch seine Mutter lebt. Und dennoch fürchtet er, jeder Tag könne ihr letzter sein.

Doch seiner Mutter sind noch viele Jahre vergönnt. Und dem ehemaligen Studenten wird klar, dass der tote Fahrer einen bösen Scherz mit ihm getrieben hat, schließlich müssen wir alle sterben. Aber seit seiner Entscheidung bei der nächtlichen Fahrt hat er die Zeit intensiver erlebt.

Natürlich ist die »Moral von der Geschicht« nicht sonderlich originell, doch wie King das umsetzte, blieb mir im Gedächtnis.

Riding the Bullet
Achterbahn auf dem Hamburger Dom

Nur E-Book, nur Papier, nur Hörbuch:
Medium als Message

Dreizehn Jahre später kann ich dieses E-Book im Format für den damaligen Peanut Reader nicht mehr lesen, kaufe mir also den Text für den Kindle erneut. Ich erinnere mich zudem an eine Story, die King speziell für den Kindle geschrieben hat. Ich erinnere mich auch an »The Plant«, eine digitale Fortsetzungsgeschichte, die King seinerzeit nur dann weiterschreiben wollte, falls sich genügend Käufer fänden, die pro Folge einen Dollar ausgeben. Das Experiment scheiterte, denn es zahlten zu wenige für die Dateien. Auch das ist eine wichtige Episode in der E-Book-Geschichte.

Es war nur konsequent (und eine fast schon ironisch anmutende Reminiszenz an das »alte« Medium), dass King dann in diesem Jahr einen Roman ausschließlich in Papierform veröffentlichte. Einige digitale Verfechter haben dieses Spiel nicht verstanden und wetterten – ohne Kenntnis der Vorgeschichte – gegen den angeblich weltfremden King, der im Jahre 2013 einen Text nicht als E-Book veröffentlicht.

All das machte mir den Schriftsteller sehr sympathisch. Und dann gab es noch Stephen Kings Quasi-Schreibratgeber »On Writing«, in dem er von seinem Weg zum Schriftsteller berichtet und auch seine Alkoholsucht thematisierte. Ebenfalls erinnere ich mich an »Das Mädchen« (wieder so ein kurzer Titel, der im Original »The Girl who loved Tom Gordon« heißt): ein ganzer Roman darüber, wie sich ein Mädchen im Wald verirrt. Ein simpler Plot, doch King setzt ihn meisterlich und spannend um. Der Titel erschien damals in einer weißen und einer schwarzen Cover-Version.

Und ich habe viele weitere Kurzgeschichten gelesen bzw. gehört, denn die Sammlung »Blut und Rauch« gibt es ausschließlich als Hörbuch.

Über die Jahre war ich zum King-Leser geworden, weil viele seiner Geschichten voller ironischer Anspielungen und literarischer Wendungen sind. Die Verfilmung von »The Shawshank Redemption« gehört zu meinen Lieblingsfilmen, und auf der anderen Seite ist »Maximum Overdrive« (der einzige Film, bei dem King selbst Regie führte) ein Höhepunkt des schlechten Kinofilms!

Was ist aus dem kleinen Danny geworden?

Vor Doctor Sleep habe ich mir – im Gegensatz zu Stephen King selbst – nochmals die Kubrick-Verfilmung angesehen: Ich finde sie grandios! Dennoch kann ich King verstehen, dass er sie nicht mag, denn Kubrick hat die Story gnadenlos vereinfacht, Jack Nicholsons zugegeben herausragendes Schauspiel dominiert den Film – und im Gegensatz zum Roman ließ Kubrick Dick Hallorann sterben.

Doctor Sleep

Nie habe er geplant, dass es dereinst eine Fortsetzung von »Shining« geben würde, so King. Und dennoch habe er sich manchmal gefragt, was wohl aus dem kleinen Danny geworden sei, nachdem dieser mit seiner Mutter und dem Küchenchef Dick Hallorann aus dem brennenden Overlook-Hotel fliehen konnte. In »Doctor Sleep« erzählt Stephen King nun, wie es mit Dan Torrance seit damals weiterging. Man erfährt viel über die Anonymen Alkoholiker, denn nicht nur das »Shining«, jene Gabe, die eine Mischung aus Hellsehen, Gedankenlesen und dem Sichten von Toten ist, lässt Dan abstürzen.

Wie in fast allen seinen Geschichten lässt King das Grauen langsam und allmählich in die Welt einbrechen. Der Mann schreibt Horrorgeschichten – aber was für welche! Mit dem »Wahren Knoten« hat King eine bemerkenswerte und unheimliche Gemeinschaft geschaffen, über die hier nicht mehr verraten werden soll.

Bei der unmittelbar aufeinanderfolgenden King-Lektüre von »Riding the Bullet« und »Doctor Sleep« fällt mir auf, wie oft er seine Charaktere durch ihre T-Shirts und Kappen und deren Aufschriften charakterisiert. Was sagt es da aus, dass Kings T-Shirt in Hamburg neutral grau ist?

Eine Lesung wie Musik

Zu dem Mann im Anzug und dem Mann im Schlabbershirt gesellt sich an diesem Abend noch ein Dritter im schwarzen Pulli mit rundem Halsausschnitt: David Nathan. Er hat zahlreiche King-Romane eingelesen, und man kennt ihn zudem als deutsche Synchronstimme von Johnny Depp. Er liest den Ausschnitt des Romans, an dem Dan nach einem nächtlichen Totalabsturz in der Wohnung einer Frau aufwacht, mit der er die Nacht in der Kneipe und dann im Bett verbracht hat. Dan ist entsetzt, als am Morgen in der Wohnung plötzlich ein kleines Kind auftaucht, und ihm wird bewusst, dass die Mutter es hier nachts allein gelassen hat. Zudem sieht er Wunden am Körper des Kindes, die auf Misshandlungen hinweisen. Es wird der Tiefpunkt im Leben Dans.

Nathan liest die Passage furios und im wahrsten Sinn des Wortes unheimlich präsent. Er verstehe ja kein Deutsch, sagt King, nachdem Nathan gelesen hat, aber das war Musik.

Ich erwerbe die ungekürzte Hörfassung, die gut 21 Stunden dauert, um zwischen Text- und Audioversion zu wechseln. Allerdings kann mich David Nathan hier wider Erwarten nicht überzeugen. Sein Vortragsstil – speziell die Stimme von Dick Hallorann – klingt zu deutlich nach verstellter Stimme. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Sehr schnell ist der unterhaltsame Abend mit Stephen King vorüber. Das Publikum applaudiert im Stehen. Man möge Verständnis haben, dass King nicht signiere. Schade. Auch auf eine Pressekonferenz hatte ich gehofft, aber auch die gab es nicht.

Hat sich die Reise nach Hamburg gelohnt? Ja, denn ich habe nicht nur Stephen King live gesehen und erlebt, wie sich ein populärer amerikanischer Schriftsteller auf der Bühne verhält, sondern ich habe auch auf dem Weg in den Norden »Riding the Bullet« erneut gelesen, und ich weiß wieder, dass ich sterben muss. Das beruhigt mich. Dank Stephen King.

Wolfgang Tischer

Stephen King; Bernhard Kleinschmidt (Übersetzung): Doctor Sleep: Roman. Kindle Ausgabe. 2013. Heyne Verlag. 9,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Stephen King; Bernhard Kleinschmidt (Übersetzung): Doctor Sleep: Roman. Taschenbuch. 2015. Heyne Verlag. ISBN/EAN: 9783453438026. 12,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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