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StartseiteFrankfurter Buchmesse 2015Pop, Politik und Paranoia: Buchmesseimpressionen 2015 von Barbara Fellgiebel

Pop, Politik und Paranoia: Buchmesseimpressionen 2015 von Barbara Fellgiebel

Indonesische Tänzerinnen

Alle Jahre wieder besucht Barbara Fellgiebel die Frankfurter Buchmesse, um fürs literaturcafe.de ihre Eindrücke zu sammeln. Wer nicht dabei sein konnte, ist jetzt mit ihr dabei. Wer in Frankfurt war, kann mit ihr nochmals mehr Messe erleben.

Montag, 15. Oktober 2015 – Deutscher Buchpreis

Das Buch mit dem längsten Titel, das Gewinnerbuch des Deutschen Buchpreises: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969.

Frank Witzel

Glücklicher Autor ist Frank Witzel, der den Witz nicht nur im Namen trägt. Eine witzigere Dankesrede hat das zu diesem Zeitpunkt leicht ermüdete Publikum bei der Verleihung des dbp selten gehört und verlässt beschwingt den Kaisersaal, um sich auf die Köstlichkeiten des diesjährigen Buffets zu stürzen. Leider muss der Koch maßlos verliebt sein, denn eine versalzenere Grie Soos (die normalerweise salzarme Grüne Soße) habe ich noch nie gegessen. Dafür ist das Ambiente herrlich und die Gesellschaft (Ehepaar Herbst vom Daedalus Verlag) gut und inspirierend. Ich verkneife mir, die 5 … Verlierer kann man nicht sagen – sie erhalten immerhin ein Trostpreisgeld von je 2 500 Euro, während der Sieger das Zehnfache bekommt. Nochmal: Ich verkneife mir, sie zu behelligen mit der dummen Frage, wie sich die Enttäuschung anfühlt. Nicht verkneifen kann ich mir hingegen, Alice Schwarzer zu fragen, was sie zur Verleihung des deutschen Buchpreises führt.

O-Ton: »Das wollte ich mir schon immer mal ansehen. Außerdem bin ich gut befreundet mit Jenny Erpenbeck (einer der beiden Favoriten).« Mit einem »Ach, da kommt ja Claudia Roth!« wendet sie sich Frankfurts ehemaliger Oberbürgermeisterin Petra Roth zu, die die peinliche Situation weglacht.

Ebenso wenig verkneife ich mir, selbige Petra Roth zu fragen, was sie heutzutage macht:

O-Ton: »Von der Politik habe ich mich zurückgezogen. Ich bin in der Konrad-Adenauer-Stiftung tätig und engagiere mich für Nachhaltigkeit und Umwelt. Ansonsten bin ich in der Wirtschaft, sitze in mehreren Aufsichtsräten (nein, VW nicht!) und halte Vorträge im Iran, in China.«

Eine Frau von Format, die meine volle Bewunderung hat. Drei Tage später beim grandiosen S.-Fischer-Verlagsfest habe ich die Ehre und Freude, mich länger mit ihr unterhalten zu können.

Petra Roth (rechts) im Gespräch mit der Autorin

Wir kommen auf Charisma zu sprechen, und sie erzählt, dass 1. Arafat, 2. Gorbatschow und 3. Bill Clinton in dieser Reihenfolge die charismatischsten Menschen seien, denen sie in ihrer politischen Karriere begegnet ist.

Es soll die politischste Buchmesse werden, verkündet Messedirektor Jürgen Boos bei der Pressekonferenz und ist glücklich und stolz,  der 400-köpfigen Journalistenschar Salman Rushdie präsentieren zu können. Die Sicherheitsvorkehrungen sind entsprechend rigide, denn das immer noch ausgesetzte Kopfgeld von 1 Million (Euro oder Pfund oder Dollar) soll ja nicht gerade hier und jetzt fällig werden.

Ich predige zwar immer, man solle keine Erwartungen haben, dann könne man nicht enttäuscht werden, aber immer gelingt es mir nicht, danach zu leben:

So bin ich bitter enttäuscht vom Pavillon des diesjährigen Gastlandes Indonesien:

Schwarz-weiß, mehr Schwarz als Weiß, präsentiert sich das 17.000-Inselreich. Herrlich bunt schillernde Farben hatte ich mir ausgemalt, denn so facettenreich und farbenfroh ist Indonesien. Nun ja. Bei einer der täglich um 17 Uhr stattfindenden Happy-Hours komme ich mit indonesischen Studenten ins Gespräch. Sie bestätigen meinen Eindruck und meinen: »Vielleicht wollten die Designer zeigen, wie modern Indonesien ist.« Diese Studenten fallen von einem Kulturschock in den nächsten: Dass Menschen sich in der Öffentlichkeit anfassen und küssen, war für sie schwer gewöhnungsbedürftig, und dass sie auf der Messe zu reichlich fließendem Wein eingeladen werden, wird zwar gern entgegengenommen, ist ihnen aber sehr fremd. »Bei uns trinkt man keinen Alkohol!« sagt eine junge Maschinenbaustudentin.

Indonesische Tänzerinnen

Doch offensichtlich ist es nur eine Frage des Timings: Besucht man den Pavillon zur richtigen Zeit, kann man psychedelisch anmutende Farbräusche erleben.

Mittwoch und Donnerstag – 14. und 15. Oktober 2015

Auf zum ersten der vielen Autorengespräche:

Martin Amanshauser, ein mit seinem Wiener Dialekt gestrafter Autor, wird von der lebhaften, gut vorbereiteten Selma Lisük zu seinem Buch (dem ersten mit zwei Ich-Erzählern) Der Fisch in der Streichholzschachtel befragt. Ich frage mich, nach welchen Kriterien gerade dieser Autor einen 30minütigen Auftritt auf der ARD-Bühne bekommen hat.

Öl – die Wahrheit über den Untergang der DDR heißt ein verblüffender Dokumentarfilm, der ungeheuerliche Tatbestände enthüllt. Sehenswert!

Denis Scheck, Mr. Druckfrisch – das nach eigener Aussage literarische Trüffelschwein – gibt mit seiner ungewöhnlich zahmen Präsentation der Spiegel-Bestsellerliste einen ersten Eindruck von zu erwartenden Autoren, wobei er nicht müde wird zu erklären, dass die Bestsellerliste eben die Liste der meist verkauften Bücher ist, was nicht das Geringste mit besten Büchern oder guter Literatur zu tun hat.

So handelt er Folgendes im Schnellverfahren ab:

Charlotte Roche legt auch mit Roman Nr. 3 Mädchen für alles ihre bewährte Pipi-Kacka-Spezialität nicht ab. Sebastian Fitzek schreibt Gewaltporno – das Gegenteil von guter Literatur. Günter Grass’ letztes Buch Vonne Endlichkait erntet hohes Lob und Anerkennung, ebenso die diesjährige Nobelpreisträgerin Swetlana Alexejewitsch, die er »Jägerin des verlorenen O-Tons nennt« und die Sätze »Das Leben im Krieg war erdfarben« und »Ich konnte während des Krieges nicht mehr gen Himmel sehen« als berührende Beispiele zitiert.

Wir erfahren, was es mit Salman Rushdies eigenartigem Romantitel auf sich hat: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte sind nämlich 1001 Nacht.

Auch für Kinderbücher hat Denis Scheck ein Herz, besonders wenn es sich um so clevere handelt wie: Was liegt am Strand und redet undeutlich? Eine Nuschel.

Er weist auf den Trend zum Nature Writing hin, nennt als Beispiel ein Buch namens H wie Habicht – und wirklich, zwei Tage später erwischt mich ein ALFA-Effekt in Form von Andreas Kieling, dem letzten noch lebenden der vier besten Bärenfilmer der Welt.

Bescheiden, sachlich, kenntnisreich schildert er seine 20 Jahre in Alaska, hat in seinem neuesten Buch Im Bann der Bären nicht nur spektakuläre Fotos, sondern auch höchst anrührende Erlebnisse erzählt. Wider Erwarten ein faszinierendes Gespräch mit handfesten Tipps:

Wenn du davon träumst, nach Alaska zu fahren, tue es jetzt. In 5 Jahren kannst du es vielleicht nicht mehr.

Wenn du nicht weißt, ob du die Herausforderung bestehst, teste dich im Kleinen: mach eine Kanutour auf dem Rhein.

Auf dem blauen Sofa interviewt Christine Westermann Friedrich Ani und braucht alle erdenklichen Tricks, um ihn aus der Reserve zu locken.

Jojo Moyes ist mit dem 8. Buch Ein ganz neues Leben der große Durchbruch gelungen. Sie wundert und freut sich über den Millionenerfolg und schildert glaubwürdig, dass es auch mal ganz anders war.

Jenny Erpenbeck galt mit gehen, ging gegangen als Favoritin für den Deutschen Buchpreis. Sie hat ein wichtiges Buch geschrieben, ausgelöst durch das Bootsunglück vor Lampedusa 2013, bei dem 400 Menschen ertranken und ganz Europa weg schaute.

Alina Bronsky ist eine typische Vertreterin der jungen intellektuellen Frauen. Bescheiden, ziemlich grau, unscheinbar, aber klug. Mit Baba Dunjas letzte Liebe ist ihr ein interessantes Buch gelungen.

Am Weltstand doziert Richard Kämmerling geschlagene 10 Minuten über den neben ihm stehenden Clemens J. Setz, ehe dieser endlich ein Wort sagen darf. Aber dann legt der los, redet sich warm und gibt »Satzel« wie »Kommunikation ist gegenseitige Beeinflussung! « von sich. Mit angenehmer Lesestimme macht er neugierig auf sein 1000-Seiten-Werk Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Er vermisst das Davondriften der Autoren. Es wird immer nur themenorientiert geschrieben. Lauter kleine Manager. Warum denken Figuren nicht und nehmen sich das Recht zu rebellieren?

Clemens J. Setz

Ein und denselben Autoren an zwei verschiedenen Ständen zu hören ist purer Luxus, den man sich selten gönnt. Bei Clemens Setz tue ich es. Auch ein ALFA-Effekt! Am ZEIT-Stand wird er von Ijoma Mangold interviewt, spricht von »beleidigtem Gewebe« und freut sich über Herrn Mangolds Achtsamkeitstool.

Ein Roman muss Tipps und Tricks verraten, sonst ist er eine Zumutung, besonders wenn er so lang ist wie meiner, findet er.

Zu seinen Tipps gehören u.a. das Verehrungsspiel (man folgt einem interessanten Rücken und bildet sich ein, er gehöre zu einem verehrungswürdigen Menschen) oder das Non-sequitur-Spiel, dem alle Whats-App-Benutzer ausgesetzt sind: Man erhält Antworten, die gar nicht zu dem soeben gesendeten passen.

Oder ASMR – aber das können Sie selbst googeln.

Charlotte Roche

Charlotte Roche spricht immer kleinmädchenhafter, obwohl sich die Teenagermutter mit Sturmschritten der 40 nähert.

Ihre Kernkompetenz läge im Sex-Szenen-Schreiben, und voller Stolz verkündet sie, dass kein Lektor je ihre Sex-Szenen geändert habe. Die werden gedruckt wie von ihr eingereicht. Doch in diesem ihrem dritten Roman Mädchen für alles schockiert sie nicht mit Sex, sondern kratzt am Müttermythos und begibt sich auf die tabubelegte Schiene regretting motherhood: Frauen, die auszusprechen wagen, dass sie besser nicht Mutter geworden wären.

Das sei ihr feministischer Auftrag. Außerdem sieht sie sich als offenes Füllhorn für Volker Weidermann, der ihr Max Frisch nahegebracht hat.

Das muss ich ihm natürlich brühwarm erzählen, als ich seinem Gespräch mit Frank Witzel zuhöre. Das fängt gar nicht witzig an, ist eher bierernst und humorlos, doch am Ende gelingt Herrn Witzel, was ihm schon bei der deutschen Buchpreisverleihung gelang: Er entlässt sein Publikum mit beglückt lächelnden Gesichtern.

Andrea Sawatzki hat mit Der Blick fremder Augen einen Roman geschrieben, in dem es um Kindheitstrauma geht. Nein danke, nicht noch eine.

Isabel Allende: Eine Legende sitzt auf dem blauen Sofa, hat riesengroße Ohren und erinnert an Sonja Ziemann.

Karl-Heinz Ott spricht mit Luzia Braun über sein jüngstes Buch Die Auferstehung, und ich erfahre, dass er mit Walsertochter Theresia verheiratet ist. Wenn diese Info im Hirn haften bleibt, der Inhalt der Auferstehung aber nicht, ist es höchste Zeit, der Literatur und ihren Präsentationen für heute den Rücken zu kehren und sich den diversen Happy-Hours zuzuwenden:

Latvia – Norwegen – Finnland, der Wein fließt, die Häppchen locken. Gastland Indonesien bietet außerdem verführerische Musik.

Gut eingestimmt geht es mit meiner schwedischen Verlegerfreundin weiter zum S.-Fischer-Fest, das in diesem Jahr erstmals im Literaturhaus steigt. Fulminant! Ein Ambiente, das an die Nobelpreisverleihung erinnert.

Die Autorin auf dem S.-Fischer-Fest

Geschätzte 1.500, gefühlte 3.000 geladene Gäste versuchen, einen Garderobenbügel zu ergattern. Köstlicher Wein, kühles Frisch-Gezapftes und Schmaus, dazu interessante Gespräche – ich weiß, warum ich diese Messe liebe.

Freitag – 16. Oktober 2015

Peter Härtling

Peter Härtling, der Mann, der auch das Telefonbuch vorlesen könnte, spricht mit seiner melodischen Stimme über sein jüngstes Werk Verdi.

Ich erfahre, dass er mal Verlagsleiter im Fischer Verlag war – welch gelungene Anknüpfung an gestern. Er vergleicht Verdi und Wagner und spricht mir in seiner Beurteilung aus der Seele.

Paul Maar, den Erfinder des Sams, wollte ich schon immer mal hören und sehen. Erstaunlich, wie stark autobiografisch auch Kinderbücher sind.

Paul Maar

Leslie Malton hat mit Brief an meine Schwester ein so anrührendes Buch geschrieben, dass Gesprächspartner Bernd Graff mehrfach um Fassung ringen muss. Schön, wenn es abgebrühte Interviewer so packt. Das Buch beschreibt das Rett-Syndrom, eine bisher sehr unbekannte neurologische Krankheit.

Leslie Malton

Heute gönne ich mir ein bisschen planlose Buchmesse und genieße es, hier das eine, dort das andere zu entdecken.

Im ARD-Kino bleibe ich begeistert im Indonesienfilm hängen: Er ist so farbenfroh wie von mir erwartet, und damit ist die Welt wieder im Lot.

Heute Abend ist die Verleihung des hessischen Filmpreises. Schaumermal, ob meine Favoritin Dagmar Manzel als beste Schauspielerin ausgezeichnet wird – zeitgleich mit der Ausstrahlung des Films Besuch für Emma in der ARD.

Nein, wird sie nicht.

Highlight des Abends ist der Ehrenpreisträger Michael Gwisdek, der mit zwei großartigen, völlig frei gehaltenen Reden von Ministerpräsident Volker Bouffier und Sohn Robert Gwisdek geehrt wird, ehe er selbst eine launige Dankesrede hält.

Samstag – 17. Oktober 2015

Der Buchmesse-Samstag unterscheidet sich gewaltig von den drei vorausgegangenen Tagen: Es wimmelt nur so von phantasievollen Mangafiguren, und die Hallen drohen wegen Überfüllung aus allen Nähten zu platzen.

Denis Scheck führt ein brisantes Gespräch mit Rafik Schami, der ein schönes arabisches Sprichwort zitiert: Geduld und Humor sind zwei Kamele, mit denen du gut durch die Wüste kommst.

Ansonsten spricht er sich ähnlich vehement für stärkeres Agieren seitens Europa aus wie am Tag darauf der Friedenspreisträger.

Sonntag – 18. Oktober 2015

Am Sonntag endet die Buchmesse. Die Gastrolle wird in feierlichem Rahmen von Gastland 2015 (Indonesien) an Gastland 2016 überreicht (Flandern und die Niederlande, die bereits Gastland 1993 war). Eine interessante Konstellation in Anbetracht der gemeinsamen Geschichte.

Und der Friedenspreis des deutschen Buchhandels (dotiert mit 25.000 Euro) wird überreicht, diesmal an den deutschen Orientalisten, Schriftsteller und Essayisten Navid Kermani, der in seiner hochpolitischen Dankesrede Europa zu entschiedenerem Handeln gegen Syrien aufruft.

Zum Schluss, die Liste der Bücher auf deren Lektüre ich mich freue:

Barbara Fellgiebel ist passionierte Buchmessen- und Literaturfestivalbesucherin und verweigert sich nach wie vor erfolgreich dem Schneller-kürzer-visueller-Wahn sowie Twitter, Facebook und Instagram. Bei ihr darf noch gelesen werde, mit Ruhe und Genuss.
Kommentieren Sie gern hier unten oder schreiben Sie ihr: alfacult(at)gmail.com

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1 Kommentar

  1. Martin Amanshauser ist wahrscheilich nicht mit einem österreichischen Dialekt gestraft, sondern spricht, wie man in Österreich halt so redet und eingeladen wurde er wahrscheinlich, weil er ein wichtiger Autor ist, der ein neues Buch geschrieben hat, wie so viele andere auf der Messe und ich frage ja eigentlich auch nicht, warum wurde Charlotte Roche eingeladen, die ja vielleicht auch gewöhnungsbedürftig ist.
    Martin Amanshauser ist dagegen gern direkt, provoziert die Journalisten und Moderatoren gern und ist vielleicht auf für seinen Sarkasmus bekannt, aber deutsche Autoren, die witzig, sarkastisch sind, gibt es wahrscheinlich auch

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