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Louisiana Literaturfestival 2017: »Du beschreibst nicht mehr, was der Leser googeln kann«

Siri Hustvedt und Paul Auster im Gespräch (Foto: Jana Groß)
Siri Hustvedt und Paul Auster im Gespräch (Foto: Jana Groß)

Für alle, die zweifeln: Das Louisiana Literaturfestival findet nicht in den USA statt, sondern in Humlebaek in Dänemark,  südlich von Hamlets Schloss in Helsingör, nördlich von Kopenhagen, in Europas schönstem Museum für moderne Kunst. Immer am 3. Augustwochenende, immer nach dem Saunaprinzip.

Was das Saunaprinzip ist und wie das Festival in diesem Jahr war, berichtet Barbara Fellgiebel.

Wer (so wie ich) Anhänger lebendiger Literatur ist, kam einmal und kommt immer wieder. Die Mischung aus grandioser Kunst, faszinierender Natur, gelungener Architektur, guter Literatur und köstlichem  Bier ist unwiderstehlich und muss erlebt werden.

Mein Louisiana Literaturfestival 2017 beginnt am Freitag mit Chris Kraus, kulterklärte amerikanische Autorin, deren autobiografischer Roman I love Dick 1997 erschien – und floppte, beziehungsweise unbemerkt blieb. Alles hat seine Zeit, und gute Literatur hat kein Verfallsdatum: Als I love Dick 2016 neu aufgelegt wurde, konnten sich Kritiker wie Leserschaft kaum einkriegen vor Begeisterung.

Ich habe endlich das Einlasssystem in den immer viel zu kleinen Konzertsaal begriffen, stelle mich pünktlich eine Stunde vor Beginn zur Kartenausgabe an – und ergattere einen der begehrten Plätze.

Ich bin eine der ganz wenigen Oldies im Raum und erhöhe den bei unter 20 liegenden Altersdurchschnitt beträchtlich.

Vielleicht klingt es überheblich und abgehoben, aber die als revolutionär bezeichneten Erkenntnisse der späten Kultautorin sind für feministisch bewanderte Frauen jenseits der 60 kalter Kaffee. Das posaunten wir bereits in den 1970er-Jahren, und dass junge Menschen, insbesondere Frauen, 40 Jahre später diese Theorien erstmalig hören, ist traurig und erschütternd. Drehen wir uns im Kreis? Treten wir immer auf demselben Fleck?

Da ist Siri Hustvedt von anderem Kaliber: Diese Frau wird mit jedem Jahrzehnt klüger, geistreicher, beeindruckender, spricht mit gestochen scharfer Diktion einen druckreifen Satz nach dem anderen:

Wut hat Fokus, Energie und Hoffnung.

Zorn verursacht Veränderung.

Kunst wird immer für andere gemacht.

Sprache ist fundamental dialogisch.

Wir Menschen sind zutiefst soziale Tiere, entwickeln uns langsam, brauchen als einzige Lebewesen Bibliotheken. Oder haben Sie schon mal von Mäusebibliotheken gehört?

Und dann kommt sie zur Plazenta, dem in der westlichen Welt am meisten ignorierten Organ.

Der selbstgemachte Mann ist ein Mythos und die Vorstellung, von Frauen abhängig zu sein, ein Horror für jeden Mann.

Woher bekommen Sie Ihre Ideen?, wird sie gefragt. Und prompt kommt die brillante Antwort:

Fiktiv schreiben ist wie erinnern, was nie geschah.

Kunst entsteht in der Welt des (Da)Zwischen: Zwischen Schreibenden und Lesenden.

Hustvedt ist im Begriff, sich zur Neurophilosophin der besonderen Art zu entwickeln, hat eine diebische Freude daran, dass sie als Sachverständige zu Neurologenkongressen eingeladen wird. Ihr jüngstes Buch A Woman Looking at Men Looking at Women (noch nicht auf Deutsch erhältlich) lädt zu bereichernder Lektüre und abendfüllenden Diskussionen.

Das Faszinierende am Louisiana Lit Festival ist das Saunaprinzip: Man trifft bekannte, angesagte Künstler und hochbegabte No-Names.

So auch in diesem Jahr. Die aus Kamerun stammende Imbolo Mbue ist ein Senkrechtstarter und wundert sich selbst am meisten über ihren schnellen Erfolg. Sie hat mit Behold the dreamers (Das geträumte Land) zur richtigen Zeit das richtige Buch geschrieben.

Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin von 2015, ist da. Wer jedoch weder Russisch noch Dänisch beherrscht, hat nicht viel von ihrem Auftritt.

Und: Bekannte Schriftsteller werden als Moderatoren »missbraucht«. Das ist immer wieder spannend und geht mehr oder weniger gut:

Eileen Myles (links) im Gespräch mit Linn Ullmann (Foto: Jana Groß)
Eileen Myles (links) im Gespräch mit Linn Ullmann (Foto: Jana Groß)

So war die bekannte schwedische Autorin Lena Andersson (Widerrechtliche Inbesitznahme) in der Rolle der Interviewerin vor einigen Jahren hoffnungslos überfordert, am Tag darauf jedoch als Autorin brillant. Ganz anders Linn Ullmann: Sie agiert in diesem Jahr mehrfach und ausschließlich als Interviewerin und führt lockere Unterhaltungen mit ihren Gesprächspartnerinnen, obwohl sie eine ausgeklügelte Planung für jedes Gespräch und genaue Vorstellungen davon hat, wann wer was lesen soll. Es gelingt ihr, Eileen Myles, die meint, schreiben sei Trauern und ein Akt des Zuhörens, aus der Reserve zu locken.

Christian Lund, Festivalchef und »Spinne im Netz« als Interviewer ist immer eine besondere Freude. Er hat eine ansteckende Lässigkeit, die jeden Interviewpartner entspannt. So auch Laurie Anderson, eine Performance-Künstlerin der besonderen Art. Sie braucht man nicht gerade aus irgendeiner Reserve zu locken, sie ist zu gern redselig und beantwortet jede Frage mit einem gefühlt 20 Minuten dauernden unterhaltsamen Monolog. Ein Geschenk für jeden Interviewer, insbesondere, wenn es sich um den letzten Programmpunkt des Tages handelt und das Publikum gar nicht genug bekommen kann.

Die vielseitige Multimediakünstlerin rät dem begeisterten Publikum:

Pass dich bloß nicht an! Schreib dein eigenes Ding!

Ihre Chalk-Room-Installation, zu der man sich im Vorfeld anmelden musste, ist hoffnungslos ausgebucht. Schade!

Installation von Marina-Abramović mit der Autorin des Artikels in der Mitte (Foto: Jana Groß)

Unbegrenzt zugänglich ist hingegen die große Marina-Abramović-Ausstellung, mit starken Eindrücken für alle Sinne.

Josefine Klougart trifft Linda Boström Knausgård. Dänemark trifft Schweden, d.h. die Dänin spricht Dänisch, die Schwedin Schwedisch, und beide verstehen sich unbehindert.

Erstaunlich und erfreulich, wie beide die Werke der anderen studiert haben und eingehend kommentieren. Beide wurden für die größten Buchpreise ihrer Länder nominiert und bekamen sie nicht und kommen zu dem Schluss, wie wichtig es ist, vermeintliche Schwäche als Stärke zu definieren.

Ich bewundere die bipolare Linda, die aus dem Schatten ihres früheren Ehemannes Karl-Ove Knausgård getreten ist und unbeirrt ihre eigene Karriere macht .Ihr aktueller Roman Willkommen in Amerika (Schöffling Verlag) ist ein empfehlenswerter 144-Seiten-Roman mit vielen Allgemeingültigkeiten und Wiedererkennungsmomenten. Ich hoffe, zu einem späterem Zeitpunkt ein ausführliches  Interview mit Linda führen und veröffentlichen zu können.

Zadie Smith sehe ich nur an mir vorbeirauschen und konzentriere mich danach auf ihre klugen Sätze:

Fotografie ist eine Herausforderung für die Malerei.

Internet ist eine Herausforderung für das Schreiben.

Du passt dich an und veränderst deine Art zu schreiben.

Du beschreibst nicht mehr, was der Leser googeln kann.

Arme Menschen machen keine schlechte Wahl – sie haben keine Wahl.

Auf das Gespräch zwischen dem Ehepaar Paul Auster und Siri Hustvedt freue ich mich besonders, weil ich erwarte – entgegen meinem Bestreben, keine Erwartungen zu haben -, dass die beiden sich einen kleinen intellektuellen Blitzkrieg liefern werden. Weit gefehlt. Vorsichtig und respektvoll gehen sie miteinander um, loben das Werk des anderen, drücken devote Bewunderung für einander aus, was dem Gespräch jede Art prickelnder Erotik nimmt und einen unnötigen Gähnfaktor erzeugt.

Mit 4 3 2 1 hat Paul Auster einen interessanten Roman von Ziegelsteinformat geschrieben. Vier verschiedene Lebensentwürfe ein und desselben Jungens werden auf intrikate Weise dargestellt. Kein Wunder, dass das Buch seit geraumer Zeit auf Deutsch vorliegt: Vier verschiedene Übersetzer haben die vier verschiedenen Lebensschilderungen übersetzt.

Paul Auster gibt eines seiner Erfolgsgeheimnisse preis: Ein guter Autor muss beim Leser Vertrauen erwecken.

Und auch in diesem Gespräch brilliert Siri mit ihren Feuerwerkssätzen:

Ein Genie wird nicht geboren sondern gemacht.

Ein Buch ist ein Treffpunkt des Bewusstseins.

Ein Roman ist der einzige Platz auf der Welt, an dem zwei Fremde auf höchst intime Weise einander begegnen können.

Künstler sind Kannibalen. Wir konsumieren andere Künstler.

Erstaunlich viele Autor/innen kommen zu dem Schluss:

Alles hat seine Zeit

Feiere weibliche Niederlagen

Krankheit als Chance

Kannibalisierung des Autors

Ich komme zu dem Schluss:

Louisiana lohnt immer – jedoch sollte man ein paar nicht-deutsche Sprachen beherrschen, beziehungsweise sehr gut verstehen, allen voran Dänisch und Englisch.

Barbara Fellgiebel

Barbara Fellgiebel ist passionierte Buchmessen- und Literaturfestivalbesucherin und verweigert sich nach wie vor erfolgreich dem Schneller-kürzer-visueller-Wahn sowie Twitter, Facebook und Instagram. Bei ihr darf noch gelesen werde, mit Ruhe und Genuss.
Kommentieren Sie gern hier unten oder schreiben Sie ihr: alfacult(at)gmail.com

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