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Lesetipp: »Don Quijotes Erben« von Jürgen Wertheimer

»Don Quijotes Erben« von Jürgen WertheimerEin Sachbuch? Von einem Germanisten? Über Romane?

Ätzende Erinnerungen werden wach aus der Studienzeit, als wir dem verschwurbelt aufgeblasenen Geschwafel der germanistischen Fachliteratur genüsslich die Luft abgelassen haben und dann feststellen mussten, dass da oberdünne Bretter gebohrt worden waren. Das war so ziemlich die einzige Freude, die wir hatten an diesem Genre.

Was Jürgen Wertheimer hier anbietet, ist dagegen sprachlich und inhaltlich einfach nur faszinierend und vergnüglich.

Der Professor für Komparatistik und Germanistik in Tübingen befasst sich in seinem Buch »Don Quijotes Erben« mit der Entwicklung der abendländischen Romankultur; entstanden sind die Kapitel ursprünglich als Vorträge im Rahmen des Studium Generale in Tübingen. Erschienen ist das Werk im Tübinger Konkursbuch Verlag.

Viele der (mindestens) 24 genannten Romane kennt bestimmt jeder vom Hörensagen. Einige wenige davon hatte ich als Jugendlicher gelesen, aber garantiert nicht richtig verstanden. Das hatte wohl auch mit schlechten Übersetzungen zu tun bzw. den Bearbeitungen »ad usum Delphini«, sprich: den für Jugendliche stark gekürzten und (vor allem sexuell und religiös) zensierten Versionen.

Umso überraschender die Aha-Erlebnisse beim Lesen in diesem Werk, das Lust macht, bereits gelesen und verstanden Geglaubtes (wie Cervantes’ »Don Quijote«) erneut zu lesen, und zwar aufmerksamer und wacher als zuvor.

»Don Quijotes Erben« ist sicher kein Buch, das man von A bis Z am Stück durchlesen soll. Aber es weckt gehörig Interesse für bekannte und (vielleicht) weniger bekannte Romane, vor allem auch für die, welche ich zu kennen glaubte – vor allem auch deshalb, weil Wertheimer immer wieder Bezüge zu unserer heutigen Lebenswelt herstellt: Es sind eben keine verstaubten Schinken!

Wertheimer teilt Romane in zwei Gruppen: Solche, die Phantasie romantisch entzünden, und jene, die sich dem Abenteuer Alltag stellen. Er nennt sie pauschal Lügengeschichten mit Wahrheitsanspruch, Wissens- und Gefühlsdeponien unerhörten Ausmaßes.

Sein Augenmerk liegt vor allem darauf, wie die Autoren mit sich, dem Leser und ihrem Stoff umgehen; z. B. bei Kafkas »Der Prozess«: Der Protagonist K. ist nicht Kafka, aber auch Kafka, gewissermaßen Kafkas Dummy; da unternimmt es ein Autor, sich selbst zu einer literarischen Figur zu machen, so wie Franz Kafka sein Leben zu einem Gesamtkunstwerk gemacht hat, absichtlich nur Fragmente produziert hat, eben nichts Ganzes.

Wertheimers Werk ist eine Geschichte des Erzählens in 24 Kapiteln: Werke von Cervantes, Laurence Sterne, Voltaire, Goethe, Jane Austen, Manzoni, Balzac, Gottfried Keller, Zola, Dostojewski, Raabe, Broch, Proust, Joyce, Kafka, Thomas Mann, Grass, Márquez, Calvino und Bachmann werden auf ihren Stil hin untersucht und auf ihren Umgang mit sich und dem Leser.

Er weist ausdrücklich darauf hin, dass er nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

Alle die hier angesprochenen Romane wurden zur Referenz für viele andere Autoren, die sich an ihnen orientierten. Markieren Innovations- oder Wendemarken, Punkte, an denen ein Funke übersprang und etwas in den Lesern zum Explodieren oder Implodieren brachte.

Hinzu kommt noch die gelungene Gestaltung des Covers, die Faksimiles im Text, die Kapitelbildchen in der Kopfzeile der geraden Seiten (bei jedem Kapitel ein anderes) und der Anhang mit Daten, Werken und weiterführender Literatur nach jedem Kapitel – ein wunderbares Buch!

Mein Kindle ist jetzt voll von alten und älteren Werken (kostenlos bis preiswert), die ich – dank Wertheimer – neu oder erstmals lesen werde.

Malte Bremer

Jürgen Wertheimer: Don Quijotes Erben. Die Kunst des europäischen Romans: Stationen des europäischen Romans. Taschenbuch. 2013. Konkursbuchverlag. ISBN/EAN: 9783887693572. 19,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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1 Kommentar

  1. Und wie sicher ist es, dass die kostenlos bis preiswert auf das Kindle geladenen Klassiker nicht wieder nur schlechte oder kastrierte Übersetzungen sind? Sämtliche Klassikerausgaben beziehen sich ja auf ältere, inzwischen Rechtefreie Ausgaben (auch der Übersetzer muss 70 Jahre tot sein).

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