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Kerstin Höckel: Alle Dokusoaps in einem Buch

Kerstin Höckel: Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhauptIch liebe diese Kistchen vor und in Buchhandlungen, in denen man lustvoll in Mängelexemplaren oder Remittenden stöbern kann. Ansonsten wäre ich nie auf Kerstin Höckels Roman gestoßen mit dem coverfüllenden Titel:
Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt.

Da wäre mir beste Unterhaltung entgangen!

Das mit den Dokusoaps stammt aus dem prallen Roman, es ist eine der 24 Kapitelüberschriften. Und es stimmt: Der Roman arbeitet mit allen denkbaren Klischees: Großstadt und Minidorf, verkrachte Verwandtschaft, Beziehungsstress, misstrauisch scheue, aber schließlich doch liebevolle Bergbewohner, coole Germish-Schwätzer, rätselhafte EU-Projekte und einem dicken Happy End bzw. »Happy ohne Ende«.

Aber was wäre nicht Klischee? Es geht doch darum, wie das dargestellt, geschrieben, komponiert ist! Das unglaubliche Sprachtempo, manchmal Seiten ohne Punkt, auf denen einem selbst beim Lesen der Atem fehlt! Dann ihr Sprachwitz oder ihre ungewöhnlichen Bilder.

Z. B. die Sprachprobleme, die (nicht nur) ein Berliner im Südschwarzwald zu bewältigen hat:

Und sind Sie auch eingeladen.
Ha nai.
Kennen Sie das Hochzeitspaar.
Ha nai, die sinn itte vo do.
Itte?
Jo.
Was heißt itte.
Itt von da.
Klar, da, also hier in dem Fall, aber itte.
Itt. Haja itte, itt vo do.
Genau itt vo doh.

Eine freundliche Busfahrerin klärt sie dann auf.

Als die Protagonistin als 17jährige aus der Provinz nach Berlin flüchtet:

Ich wollte (…) in den Untergrundbahnen nichts als fremde Gestalten mit ihren Leben und den Tätowierungen auf den Schultern, mit ihrer Musik, ihren unbekannten Sehnsüchten und Leiden. Und ich mitten unter ihnen, leidend auch, leidenschaftlich, eine Fremde, sich selbst fremd, doch hartnäckig an einer Liebe festhaltend zu ihrer großen Stadt, beschützt von deren Anonymität, eure Ignoranz war mein Deodorant.

Später kommt sie wieder nach Berlin, sieht es jetzt aber anders:

die Gerüste wandern von Straßenzug zu Straßenzug, Viertel zu Viertel, klammern sich an die Fassaden, streichen ihnen frische Farben über die Risse und Muster und Pilze im Putz.

Und beim Einschlafen in der winzigen Wohnung stellt sie fest:

(…) wo, wo bist du so allein gelassen wie in der Enge zwischen den vielen anderen.

Selbstverständlich sind das keine neuen Erkenntnisse, darum geht es nicht, es geht um die Sprache! Und die überzeugt!

Es ist einfach nur großartig, wie die Erzählerin versucht, das alte Bauernhaus namens Frommholz an ein Hamburger Ehepaar mit Kindern zu verkaufen, obwohl sie es eigentlich gar nicht verkaufen will. Oder die Geschichte von Friedas Kuchen. Oder vom Außenseiter Alois. Oder die Selbstironie der Ich-Erzählerin. Oder oder oder …

Einfach selbst lesen!

Malte Bremer

Kerstin Höckel: Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt: Originalausgabe. Taschenbuch. 2011. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596190324. 8,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Kerstin Höckel: Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt. Kindle Ausgabe. 2011. Fischer E-Books. 6,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

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