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Keine Black Box: So schreiben Sie Ihren eigenen Twitter-Roman

Screenshot: So präsentiert der SPIEGEL einen Twitter-RomanMan habe die Ehre, den Twitter-Roman einer Pulitzer-Preisträgerin über den Kurznachrichtendienst zu verbreiten, tönt man beim SPIEGEL online stolz. Was wahnsinnig innovativ klingt, entlockt einem dann doch nur ein müdes Gähnen. Denn eigentlich wird über 10 Tage hinweg nur ein Text ins Netz geblasen, bei dem kein Satz mehr als 140 Zeichen hat.

Dies als »Twitter-Roman« zu bezeichnen ist reichlich hoch gegriffen, wie der Internet-Literaturkenner Giesbert Damaschke bereits 2009 anlässlich eines ersten Twitter-Roman-Hypes schrieb.

Vielleicht mag die eigentliche Herausforderung in der deutschen Übersetzung des Werks liegen, die jeden ursprünglich englischen Satz auch im Deutschen auf 140 Zeichen bringen muss? Pustekuchen! Der Schöffling Verlag hat es sich einfach gemacht.

Den Roman »Black Box« der Amerikanerin Jennifer Egan kann man im Original als Kindle-Ausgabe für 1,49 Euro kaufen. Am 7. August 2013 erscheint er für 4,99 Euro im Schöffling Verlag in deutscher Übersetzung.

Vergleicht man beide Versionen, so erkennt man, dass man bei der Übertragung nicht den Ehrgeiz hatte, jeden Tweet 1:1 zu übernehmen. Stattdessen sind es im Deutschen einfach mehr Tweets. Wo ein Originalkapitel beispielsweise vier Tweets hat, sind es im Deutschen fünf. Englisch ist nun mal kürzer, zwischen Beauty und Schönheit liegen drei Buchstaben.

Abgesehen von seiner maximalen twitter-kompatiblen Satzlänge hat das Werk mit dem Wesen von Twitter wenig gemein. Das einzige, was man dem Text noch zugestehen mag, ist der Versuch, dass jeder Satz auch für sich stehen könnte, dass er ein Bonmot ist oder zumindest Neugierde weckt und so zu Retweet oder Fav anregt. Oder wie es der SPIEGEL schreibt: »Jeden einzelnen [Tweet] kann man sich als Sinnspruch auf den Arm tätowieren lassen oder auf einen Post-it kritzeln und an die Bürowand babben (sic).«

Wie aber könnte ein echter Twitter-Roman aussehen? Und gibt es so was überhaupt?

Vor einigen Jahren hat sich das literaturcafe.de dreimal hintereinander an einer anderen Textform versucht und zusammen mit BoD den Twitter-Lyrik-Preis ausgeschrieben. Auch hier war im Grunde genommen die 140-Zeichen-Begrenzung das einzige Limit. So gesehen war bereits Johann Wolfgang Goethe der erste Lyrik-Twitterer, denn sein »Wanderers Nachtlied (Ein Gleiches)« hat genau 139 Zeichen (Umbrüche mitgezählt). Und hätte es damals tatsächlich schon Twitter gegeben, hätte Goethe sicherlich den Ehrgeiz gehabt, exakt 140 Zeichen zu schaffen.

Ãœber allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Kann man also auch einen Roman in 140 Zeichen schreiben? Man kann!, sagen die Experten, und statt Goethe wird hier Ernest Hemingway als Referenz herangezogen. Sein ihm zugeschriebener 6-Wörter-Satz

For sale: Baby shoes, never worn

(»Zu verkaufen: Baby-Schuhe, nie getragen«) gilt als Kurzroman, worüber man natürlich streiten kann.

Eine Geschichte mit maximal 140 Zeichen im Gehirn des Lesers lebendig werden zu lassen, in dieser Tradition twitterte auch Florian Meimberg unter @tiny_tales und gewann damit sogar den Grimme Online Award.

Einen längeren Text so zu schreiben, dass kein Satz länger als 140 Zeichen ist, damit hätte wahrscheinlich nur Thomas Mann seine Probleme gehabt. Es ist die leichteste Form des »Twitter-Romans«, so man ihn überhaupt so nennen will. Auf dieser Art hat die Kirche bereits die Bibel getwittert.

Denn von einem »echten« Twitter-Roman mag man erwarten, dass er andere, typische Elemente des Kurznachrichtendienstes einbaut, um eine Geschichte zu erzählen. Retweets von anderen, Antworten an andere oder Links auf Websites: Das könnte ein mögliches Gerüst sein, das eine Geschichte im Kopf des Lesers entstehen lässt.

Größtes Problem: die Zeit

Das größte Problem des Twitter-Romans ist jedoch die Zeit. Denn ein Twitter-Roman sollte selbstverständlich getwittert werden, Twitter selbst muss das Medium sein. Twitter ist schnell, und es gehört dazu, dass man den Nachrichtenstrom derer, denen man auf Twitter folgt, nur selektiv wahrnimmt. Ein Twitter-Roman müsste also theoretisch auch dann wirken, wenn man einzelne Tweets nicht oder erst später liest. Die Geschichte müsste jederzeit einen Einstieg für den Leser erlauben. Und das würde bedeuten, sie müsste ständig und immer (weiter-)geschrieben werden.

Denn so, wie es der SPIEGEL macht, ist es fast wie Fernsehschauen: An 10 Tagen werden zwischen 20 und 21 Uhr ungefähr jeweils 60 Tweets verschickt. Wer eine »Folge« verpasst, kann sie im Archiv nachlesen – oder eben als Buch. Das ist wenig twittermäßig. Nichtmal durch einen verbindenden Hashtag sind die Tweets erkennbar.

In den 1990er-Jahren, als die E-Mail populär wurde, gab es natürlich auch die ersten E-Mail-Romane. Die konnte man abonnieren und bekam zeitversetzt einen vermeintlich privaten E-Mail-Verkehr in Kopie zugeschickt. Die Technik und das Timing erledige ein E-Mail-Bot für jeden Abonnenten individuell.

Doch Twitter ist öffentlich und für alle zeitgleich, sodass es keine individuelle oder zeitversetzte Zusendung gibt. Von einem Twitter-Roman auf Basis von Direktnachrichten wollen wir einmal absehen.

Neben der Abbildung der twittertypischen Elemente sind Öffentlichkeit und Zeitgleichheit die größte Herausforderung einer Twitter-Erzählung.

Wie setze ich einen Twitter-Roman technisch um?

Am einfachsten ist die technische Seite eines Twitter-Romans gelöst, indem man ihn in Echtzeit twittert. Dann benötigt man nur einen Web-Browser.

Wer sich – wie Jennifer Egan und der SPIEGEL – den inhaltlichen Herausforderungen nicht stellen mag, hat es relativ einfach, wenn er oder sie eine gewisse Zahl an vorbereiteten Tweets zu einer bestimmten Zeit versenden will. Das lässt sich vorbereiten und alles läuft automatisch.

Wie aber stellt man zunächst einmal sicher, dass man keinen Satz über 140 Zeichen schreibt? Microsoft Word bietet eine solche Funktion nicht. Zwar kann man über die Grammatikprüfung längere Sätze kennzeichnen, aber es gibt keine exakte Zeichenvorgabe. Man müsste ein mehr oder weniger aufwendiges Makro schreiben.

Wer mit Microsofts Office-Paket arbeitet, wechselt einfach zu Excel. Satz für Satz kann man hier in einer Spalte untereinander schreiben. Das ist zudem für später nützlich, wenn wir die Tweets automatisch versenden wollen. In die Spalte hinter den Sätzen fügen wir die Formel

=LÄNGE(Feldnummer)

Mithilfe von Excel, einer einfachen Längenformel und der bedingten Formatierung schreiben Sie twittergerecht.
Mithilfe von Excel, einer einfachen Längenformel und der bedingten Formatierung schreiben Sie twittergerecht.
ein, wobei die Feldnummer auf die Zelle davor verweist. Rasch ist diese Formel in alle Felder darunter kopiert. Nun wird die Zeichenlänge jedes Satzes angezeigt. Um Ausreißer über 140 Zeichen sofort zu erkennen, können wir den Formelfeldern über das Format-Menü noch eine bedingte Formatierung verpassen. Ist der Wert größer als 140, wird das Feld automatisch rot markiert. So sieht man gleich, an welchen Sätzen man noch feilen muss. Und die Rechtschreibkorrektur arbeitet auch in Excel.

Es gibt eine ganze Reihe von Web-Diensten, die das zeitversetzte Twittern ermöglichen. Hier stellt man einen Tweet ein und gibt an, wann er unter dem eigenen Namen getwittert werden soll. Einige Dienste bietet einen Massenimport im Excel bzw. CSV-Format. Wie gut, dass wir unseren Roman schon mit Excel verfasst haben. Im Prinzip müssen wir nur eine Spalte ergänzen, in der für jeden einzelnen Tweet auf die Minute genau vermerkt ist, wann er getwittert werden soll. Läuft alles – wie im SPIEGEL-Beispiel – brav Tag für Tag und Minute für Minute ab, so berechnet Excel die Zeiten anhand der Vorgaben selbstständig. Wer seine Tweets etwas individueller verschicken möchte, trägt das Datum manuell ein. Wie man eine solche Datei genau aufbereitet und danach versandfertig importiert, erläutert dieser Artikel anhand des Tools HootSuite.

Nun schreibt man in seinem Blog ähnlich wie der SPIEGEL einen Beitrag, wie toll und einzigartig der eigene Twitter-Roman ist, oder man verschickt eine Pressemeldung an Literaturblogs und Branchenmedien. Loben Sie das Werk und preisen Sie den Twitter-Roman als einzigartig und innovativ – aber übertreiben Sie es nicht.

Denn am Schluss gilt das, was immer gilt, egal in welcher Form Sie es verbreiten: Ist der Inhalt mau, nützt alles Wortgeklingel wenig.

Wolfgang Tischer
@literaturcafe folgen

Original: Jennifer Egan: Black Box (English Edition). Kindle Ausgabe. 2012. Corsair. 1,99 €  Â» Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Ãœbersetzung: Derzeit keine Titelinformationen vorhanden.

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3 Kommentare

  1. Das Lesen eines Kuzromans mit Twitter ist für den Leser alles andere als komfortabel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dafür viele Leser finden werden und sich der Aufwand auch nur ansatzweise lohnt.

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