BUCHSTABENSUPPE Suppentasse
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Ist euch schon mal aufgefallen, dass es einen Buchstaben gibt, der wirklich arm dran ist? Er kann einem Leid tun. Nicht nur, dass er fast ganz am Ende des Alphabetes steht, jetzt muss er auch noch um seine Existenz fürchten. Dabei ist er so ein netter Bursche, vielleicht ein wenig spitz geraten, aber im Grunde ist er ein freundlicher und schüchterner Geselle. Es hat viel Mühe gekostet, ihn dazu zu überreden, mir seine Geschichte zu erzählen, aber hier ist sie nun, die

Geschichte des V
von Martina Alberts

Das V stand mir gegenüber und sah mich ernst an. »Soso, du interessierst dich also für meine Geschichte?«
     Ich nickte.
     »Na schön, dann hör gut zu: Als ich das Licht der Welt erblickte, hatte ich ganz schön Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.« V lächelte leise und schaute auf seinen spitzen Fuß.
     »Doch nach kurzer Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, auf meiner Spitze zu stehen, konnte mich etwas umsehen und meine Geschwister in Augenschein nehmen. Sie sahen alle irgendwie nett aus, einige waren ganz kugelrund, andere wieder stachelig oder ganz dünn. Aber am besten verstand ich mich mit U, denn auch U hatte einen etwas wackeligen Stand und wir beide hielten uns aneinander fest.« V sah plötzlich traurig aus und kurz darauf wusste ich auch, warum.
     »Doch dann wurden wir getrennt und sehen uns seitdem nur sehr, sehr selten. Naja, so spielt das Leben. Nach kurzer Zeit wurde ich dann in die Schule geschickt und stellte fest, dass sie gar nicht so übel war. Ich kam in eine kleine Klasse zusammen mit ein paar anderen Buchstabengeschwistern und dort konnten wir ausprobieren, zu wem wir am besten passten. Ich fand E, I und N am besten, denn ich konnte mich so gut an ihnen festhalten. Und O mochte ich auch ganz gerne. Wir sind dann auch zusammengeblieben, zumindest bin ich immer abwechselnd mit einem von ihnen zusammen und das ist gut so, dann komme ich mir nicht so verloren vor.« V grinste uns sah mich auf einmal frech an.
     »Und außerdem hat man jemanden zum Schimpfen, jawohl, Schimpfen! Ich finde es nämlich ganz schlimm, dass die Menschen mich immer mehr benutzen, und zwar für die Meckerwörter. Was das ist? Das sind solche Worte wie Verunglimpfen, verhauen, verlogen, verklagen, Vertrauensbruch, versagen und so weiter. Früher wurde ich viel viel weniger in diesem Sinne gebraucht, da hat man mich dazu benutzt, schöne Gefühle auszudrücken wie verlieben, Vertrauen und so. Aber heute, heute, heute werde ich mehr und mehr zu solchen schnöden Worten vergewaltigt.« V schüttelte traurig den Kopf.
     »Schon wieder so ein grässliches Wort, und diesmal benutze ich es auch noch selber. So heruntergekommen bin ich schon.« Doch dann lachte es.
     »Aber jetzt fange ich an, zu kämpfen. Ich habe mich mit ß zusammengetan. Wir wollen uns nicht einfach ausradieren lassen. Ein jedes Lebewesen hat das Recht aus seine Existenz, und was sind wir denn anderes? Ohne uns wären die Menschen ja nichts! Sie könnten sich nicht verständigen geschweige denn kleine Merkzettel oder ganze Bücher schreiben.« V sprach immer hastiger und aufgeregter. »Daran wollen wir sie einmal erinnern.«
     V machte eine kleine Pause und beruhigte sich wieder. Dann lächelte es sogar.
     »Und wenn wir diesen Kampf gewonnen haben, werde ich dafür sorgen, dass wieder mehr und mehr die netten Worte benutzt werden. Ich finde, es ist an der Zeit, die schlimmen Worte auszurotten, zu diesem Zweck Werde ich mich mit L zusammentun, denn es kämpft genau wie ich für die gleiche Sache, was das ist, werdet ihr ja wohl erraten.« V schaute mich an und lächelte noch breiter, dann fiel es wieder in seine Schüchternheit zurück, drehte sich um und ließ mich ohne Abschiedsgruß und sehr nachdenklich zurück.

© 1998 by Martina Alberts. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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