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Im letzten Sonnenlicht
von Jo R. Kenklies

Wir kamen endlich in die Nähe des Flusses. Niemand sprach auch nur ein Wort. Wir hatten das letzte Sonnenlicht oben abgewartet, waren dann den steilen Osthang hinabgerutscht. Vor uns das Tal erstreckte sich bis weit drüben zwischen die jetzt wie schlafende Riesen daliegenden grünlichdüsteren Bergrücken.
     Dareingestreut seine verträumten Dörfer, rötlich und ohne Schatten, blaudunstig in aufsteigendem Rauch. Hoch darüber ein kleiner Kondensstreifen - Silberweiß auf Blau - strebte wie sehnsüchtig der Sonne nach.
     Das Gelände war jetzt deutlich flacher. Erlen und Pappeln standen schwarz Reih’ um Reihe gegen den Himmel. Holunderbüsche versperrten uns oft die Sicht und erschwerten die Orientierung. Die Mücken waren mittlerweile kaum noch zu verscheuchen.
     Einen Weg gab es auch hier nicht. Stattdessen traten wir in kleine Rinnsale, die unter unseren vorsichtigen Schritten leise patschten und unsere Schuhe bald völlig durchweicht hatten. Keine Gegend für Spaziergänger. Wir kamen nur noch langsam vorwärts. Wir, das waren das Kind, dessen Mutter, der Lehrer und der Rothaarige, der Alte und ich. Wir sollten besser des nachts gehen - hatte Kallwit gesagt.
     Bei Dunkelheit würde es aber kaum weniger gefährlich sein. Das Ufer an der verabredeten Stelle ist ziemlich steil, die Strömung tückisch. Gegenüber jedoch ist es flach, schlammig und mit hohem Schilfrohr bewachsen. Und irgendwo hier in der Nähe musste der Unterstand sein, in dem wir auf das Zeichen warten sollten. Und Kallwit hatte auch gesagt, die Posten würden nur selten bis hierher kommen. Wir hatten ihn fürstlich für alles bezahlt, besaßen nun nichts mehr außer dem, was wir bei uns hatten. Es gab ohnehin kein zurück mehr. Soldaten würden längst die Wohnung gestürmt und geplündert haben.
     Durch das Wasser in die Freiheit! Sollte das eine Taufe werden? Wind kam auf und ließ die Blätter des Auwaldes rauschen. Geruch von Kartoffelfeuer wehte herüber und trug mich für kurze Momente in meine Kindheit zurück.
     Eine plötzliche Befürchtung ließ mich jäh in die Gegenwart zurückschnellen. Wir bemerkten, dass wir nicht zu der beschriebenen Flussbiegung gelangt waren, obwohl Kallwit uns diesen Weg genannt hatte. Hatten wir uns denn so geirrt? Ich kannte den Fluss nur von der Karte. Er beschrieb nach einem Knick nach rechts einen weiten Halbbogen nach links, der, als er fast in die Gegenrichtung floss, einen etwas engeren nach rechts einleitete, um danach seine ursprüngliche Richtung wieder einzunehmen. Wir waren demnach erst im unteren großen Bogen. Hier nämlich war das Ufer flach und dicht mit Schilf bestanden, das jedoch kurzgemäht worden war. Wo nur war dieser verdammte Unterstand? Aber dort! Was war das für ein Turm?! Ich hatte keine Gelegenheit mehr zu rätseln. Es ging alles sehr schnell. Ich erinnere mich nur noch an das Hecheln der Hunde, an hektische Schreie, Schüsse und an den harten Schlag, den Sturz.
     Jetzt liege ich hier auf kaltem Boden in einem winzigen, dunklen Raum und schmecke, schlucke, spucke mein Blut. Kopf und Rücken schmerzen pochend und brennend. Der Geruch von Moder und altem Urin nimmt mir fast den Atem. Mir wird übel. Wie durch Watte höre ich laute Stimmen, das Gepolter und dann diesen Schrei. Jetzt ist es ganz still. Hoch oben das schmale vergitterte Dunkelblau der frühen Nacht.
     Die Anderen! Was ist mit den Anderen?! Das Kind, die ...
     Laut wird eine Tür zugeschlagen. Hämischfettes Lachen dringt zu mir her. Feste Schritte nähern sich, Schlüsselklirren - und jetzt über mir die quarrende Stimme von Kallwit.

© 1998 by Jo R. Kenklies. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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