BUCHSTABENSUPPE Suppentasse
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Schluckauf
oder
Vom Nutzen des Französischen für unsere Sprache
von Christian Scheinhardt

Oben, zwischen den finsteren verrußten Balken des Gemäuers sollen Fledermäuse nisten. Man weiß das nicht so genau, weil die kleinen Biester nur nachts aktiv werden, und dann ist es hier so unheimlich, dass sich niemand hertraut. Obwohl es auch am Tag in der alten Bibliothek des Schlosses nie so richtig hell wird. Es herrscht dann allerhöchstens trübes Dämmerlicht.
     Den alten Chronisten störte das wenig, es hätte ihm auch nichts ausgemacht, in der Nacht hier zu sein. Doch das wollte seine Frau nicht. Sie nörgelte an seiner Arbeit herum, seit er sie angefangen hatte. Immer gab es irgendwas, das ihr nicht passte. Außerdem, sagte sie, hatte sie Angst. Ach, die Alte mit ihrem Aberglauben, sollte sie zetern. Er hörte schon nicht mehr hin.
     Einen trüben Tag um den anderen saß er an seinem Pult, auf dem seit Jahren nur durch die abgewetzten Ärmel seines erneuerungsbedürftigen Anzuges Staub gewischt wurde und studierte die Werke seiner Vorgänger. So vieles hatte er dadurch gelernt und erfahren, so vieles, das er gern weitererzählt hätte. Doch wem? Enkelkinder gab es nicht, da sie auch nie Kinder gehabt hatten. Und die vielen Besucher, die tagtäglich durch das Schloss streiften, bezahlten dafür, dass sie von einer Diplomhistorikerin herumgeführt und mit Fakten gefüttert wurden. Von einem alten Mann wie ihm wollte niemand etwas wissen. Man nahm ihn nicht einmal für voll, wenn man ihn überhaupt wahrnahm. Erst vor ein paar Tagen war er von einem Kind aus einer der Besuchergruppen wohl für eine Puppe oder ähnliches gehalten worden. Das Mädchen war zu ihm gelaufen, ohne dass er es bemerkte, und hatte ihn vors Schienbein getreten. Erschrocken hatten sie sich beide angesehen, er, weil er so unerwartet und schmerzhaft aus seinen verstaubten Träumen gerissen worden war und sie, weil die vermeintliche Puppe lebte.
     Vor ihm lag der dicke lederne Foliant mit den Kapiteln seiner Lieblingsepoche. Aufwendig war das Wappen des alten, untergegangenen Adelsgeschlechts auf den Deckel geprägt. Jede Seite war für sich ein Kunstwerk, handgeschöpft und von Hand mit einer verschnörkelten, bräunlich verblassenden Schrift bedeckt.
     Zu einer Zeit, die wohl schon lange zurückliegt, denn von ihr wird gleich am Anfang der alten Chronik berichtet, muss ein finsterer Fürst an diesem Hof geherrscht haben. Gewalttätig und grausam war er, aber auch von literarischem und historischem Ehrgeiz beseelt. Peinlich genau ließ er alles aufschreiben, was er über sich und seine Zeit für wichtig hielt. Im Laufe der Jahre hatten seine Schreiber oft gewechselt, weil keiner ihn zufriedenstellen konnte. Als kahle Schädel bleichten ihr Köpfe aufgespießt über dem Tor in der Schlossmauer, als Warnung und abschreckendes Beispiel für alle seine Untertanen.
     Einer schaffte es dann schließlich doch, länger zu bleiben als alle vor ihm, und er blieb sogar, bis der Fürst Jahre später alt und grau starb. So, wie der Fürst es befohlen hatte, notierte er alle bedeutenden Dinge um ihn herum und zeichneten ein lebensechtes Bild seines Herrschers. Er war so genau, dass er sogar den Schluckauf seiner Durchlaucht mit aufschrieb, und so kam es, dass die bedeutenden Reden und Verhandlungen, die der Fürst führte, auch in der Chronik von ständigen »Hicks!« unterbrochen wurden. Manchmal plagte den Fürsten das Schluckauf nämlich tagelang. Nichts gab es dann, was ihm helfen konnte, kein Luftanhalten, kein kaltes Wasser schlucken, kein Zucker oder Honig lutschen, nichts.
     Unser Schreiberling war aber ein pfiffiger und praktisch veranlagter Mensch, und das ewige »Hicks!« wurde er bald leid. So erfand er ein Zeichen, mit dem er das Schluckauf darstellte, und welches ihm der Fürst in einer Weinlaune sogar genehmigte. Von nun an standen für »Hicks!« einfach zwei schräggekreuzte Balken, die sich im Laufe der Zeit sogar zu einem festen Zeichen der deutschen Schrift entwickelten.
     Jahrhunderte später, als das gekreuzte »Hicks!« sich schließlich zum drittletzten Buchstaben unseres Alphabetes gemausert hatte, da gab es eine Zeit, in der nicht nur Deutschland sondern ganz Europa sich an Frankreich orientierte. Küche, Kunst, Lebensart und -stil, alles war französisch geprägt. Auch die Sprache. Da im Französischen aber kein »H« mitgesprochen wird wie bei uns, wurde aus dem Schluckauf des alten Fürsten einfach ein »icks«.
     Und so ist es bis heute geblieben…

© 1998 by Christian Scheinhardt. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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