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Nach der Reform
von Helga Bothe

Einem reiselustigen Eszett  von der Nordseeküste war zu Ohren gekommen, dass man nach der großen Reform keinen alten Paß mehr für Reisen in die deutschdruckenden Länder brauchte. Es konnte also endlich einmal inkognito nach ausgewanderten Verwandten in der Schweiz und in Österreich suchen. Und da es außerdem schon lange davon geträumt hatte, gemütlich am Klöntalersee zu zelten und ausgiebig im Wörthersee zu baden, machte es sich auf die Reise, nur einen Kanister Druckerschwärze im Gepäck und ein Doppel-Es, falls es einmal der Großschreibung bedürfte. Es ließ sein selbstgebautes Floß zu Wasser und stach in See. Die europäische Gewässerkarte hatte es im Kopf, es würde zum Rheindelta paddeln, von dort aus in die Schweiz raften und sich dann zu Fuß bis zum Klöntalersee durchschlagen. Die Fortsetzung der Reise nach Österreich würde sich vor Ort organisieren lassen. Unterwegs würde es in Druckhäusern kostenlos übernachten dürfen, da war es sich sicher, denn die Solidarität in der Presse war groß und außerdem war das Eszett auch Mitglied in der Gewerkschaft Druck und Papier. Leider hatte es seine Kräfte überschätzt und nicht bedacht, dass es den Rhein flussauf und nicht flussab bezwingen musste. Als ihm daher die Druckerschwärze schneller als geplant ausging, blieb es irgendwo in Holland hängen. Damit ersparte es sich allerdings auch die Enttäuschung darüber, dass es keine Verwandten in Österreich und in der Schweiz gab. Denn es war ja nur ein deutsches Sonderzeichen, das die große Reform überlebt hatte.

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