Gero von Büttner: Reisetagebuch USA
September 2001 - Ein Staat erlebt den Terror

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11. September 2001
»The day that changed America forever«
Syracuse - Waterloo - Batavia

Gegen 10 Uhr verlassen wir unser Motel. An diesem Morgen widerstehen wir der Versuchung, den Fernseher bereits am Morgen einzuschalten. Außerdem wollen wir auf dem Weg zu den Niagarafällen an einem großen Outlet-Center stoppen, um dort ein paar günstige Jeans einzukaufen. An der Rezeption des Motels läuft kein Radio und kein Fernseher, und auf der Fahrt zum Einkaufszentrum bleibt auch unser Autoradio ausgeschaltet. So wissen wir nichts von den Dingen, die zu dieser Zeit einige Kilometer entfernt in den USA geschehen.
Lass Präsidenten sprechen     Wir stellen unseren Wagen auf den riesengroßen Parkplatz inmitten des Outlet-Centers, steigen aus und frühstücken zunächst. Ein relativ laut aufgedrehtes Radio und die einzig zu verstehenden, aber häufig gesprochenen Worte »Pentagon«, »The White House« und »The President« erscheinen etwas merkwürdig. »Ist Krieg und wir wissen es nicht?«, denke ich und weiß gar nicht, wie nah ich an der Wahrheit bin.
     Dann zum Shopping: Hosen aussuchen, Hemden aussuchen, anprobieren, die Sachen wieder zurückbringen, neue Sachen aussuchen... plötzlich eine Durchsage über Lautsprecher. Ich bin gerade in der Umkleidekabine. Man möge sich bitte sofort zu den Kassen begeben, da das Center in wenigen Minuten geschlossen werde. Ich blicke auf die Uhr, es ist kurz nach eins und weder Sonntag noch Feiertag. Ich frage eine Angestellte vor den Kabinen, ob ich das gerade richtig verstanden hätte. Ja, sagt sie, es gab »a bombing in New York and at the Pentagon«. Aha, denke ich, Bombenanschläge, und nun werden alle öffentlichen Gebäude aus Sicherheitsgründen geschlossen. Das laut gestellte Radio und die immer wieder gehörten Worte ergeben plötzlich einen Sinn. Wir sind die letzten Kunden in der großen Halle mit den vielen Kleiderständern. Alle Angestellten warten schon am Ausgang. Die Kassiererin heult. Ja, sagt sie, sie habe Angst, und so schnell es geht wirft sie die Klamotten ungefaltet in Plastiktüten und die Plastikbügel hinter sich. Ob wir aus Kanada seien, fragt sie uns. Nein, aber im Urlaub und auf dem Weg dorthin. Alle Grenzen dicht, sagt sie.
     Im Auto, das nun fast schon verlassen auf dem großen Parkplatz steht, hören wir im Radio die vom Sprecher geäußerte Vermutung, wer hinter den Anschlägen stecken könnte. »Tellibähn« ist immer wieder zu hören und es wird von den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon gesprochen. Noch immer keine klare Zusammenfassung, was genau passiert ist. Eine Frau berichtet, welche Angst sie hatte, als sie nach all dem über sich ein Flugzeug hörte. Diese Amerikaner, denke ich, die Kassiererin heult, weil sie allen Ernstes glaubt, in ihrem Provinzkaufhaus könnte eine Bombe hochgehen, und jedes Flugzeug wird ebenfalls vom Himmel gebombt. Noch war uns nicht bekannt, dass alles noch viel schlimmer war.
     Am Ausgang des Outlet-Centers dann ein schwarz gekleideter Hilfssheriff mit Funkgerät. Ich steige aus und frage, ob man denn zu den Niagarafällen und nach Kanada fahren könne. Er wisse es nicht, wir sollen einfach mal an der Grenze fragen.
     Wieder auf dem Highway wird klarer, was passiert sein muss, doch alles klingt so unglaublich. Flugzeuge, Boeings, seien ins World Trade Center und ins Pentagon gestürzt. Von vier entführten Flugzeugen ist die Rede. Immer noch keine Informationen über das vierte Flugzeug. Aber woher kamen die Flugzeuge? Wer flog sie? Und immer wieder heißt es, »the towers of the World Trade Center collapsed«. Kann doch eigentlich gar nicht sein.
     Wir steuern das nächste Motel in dem kleinen Ort Batavia an, fahren an Rochester vorbei, von dem es im Radio heißt, alle öffentlichen Gebäude und Parkhäuser seien geschlossen.
     Dann die ersten Bilder im Fernseher, und dennoch bleibt es unglaublich. Der abgegriffene Satz »Es war wie im Film« trifft die Situation exakt, denn das alles ist so ein perfekt geplanter Terrorakt, wie ihn sich nur ein Drehbuchschreiber für einen James Bond Bösewicht ausdenken könnte.
     Um Viertel vor neun Ortszeit (14:45 MESZ) stürzt eine Boeing 767 mit voller Geschwindigkeit in einen der Türme des WTC, kurz nach Neun, als die Rettungsaktion und die Evakuierung des Gebäudes schon im vollen Gange sind, taucht eine zweite Boeing auf und steuert auf den zweiten Turm zu. Die Bilder, wie die fast schwarze Maschine den zweiten Turm im oberen Drittel in leichter Schräglage trifft, wird man an diesem und am folgenden Tag unzählige Male sehen. Sie durchfliegt die Fassade wie eine Papierwand. Man meint die Spitze des Flugzeugs auf der anderen Seite austreten zu sehen. Dann eine gewaltige Explosion und schwarzer Rauch. Um zehn Uhr stürzt der zuletzt getroffene Turm des Gebäudes in sich zusammen. Knapp eine halbe Stunde später folgt der zweite. Das markanteste und höchste Gebäude New Yorks gibt es nicht mehr. Beide Flugzeuge starteten in Boston und sollten in Los Angeles landen.
     Gleichzeitig stürzt eine dritte Maschine, gestartet in Washington, D.C., ins Pentagon. Eine vierte Boeing stürzt in ein Feld bei Pittsburg. Später wird man erfahren, dass ihr Ziel womöglich das Weiße Haus war. Scheinbar gelang es den Passagieren die Entführer zu überwältigen und Schlimmeres zu verhindern.
     Scheiße! Warum sind wir gerade jetzt hier?

Manchmal in den letzten Tagen kam einem die Fahrt durch die USA irreal vor. Man bewegt sich in einem fernen Land, vieles scheint vertraut - und dennoch nicht ganz. Doch seit heute ist dieses Gefühl von Irrealität stärker und man möchte den Urlaub abrechen und nach Hause fahren. Aber unser Flug geht erst nächsten Donnerstag zurück - von Boston.

Der Fernseher bleibt den ganzen Tag an. Um halb neun spricht Georg W. Bush zur Nation. Er wirkt wie immer: ein hilfloser Schuljunge, der die für ihn geschrieben Rede vom Teleprompter abliest. Ohne ihn gibt er - wie früher am Tag - Sätze von sich wie »we will hunt down those folks« (diese Kerle werden wir zur Strecke bringen).

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