Rausch-Bengel
von Klaus Woestmann

»Rauschengel...«, schimpfte der Weihnachtsengel, während er schwerelos über die verschneite Landschaft sauste. »Ausgerechnet Rauschengel!« Die Häuser waren mit dicken Schneepaketen belegt, die über die Dachenden leckten, wie zu dick aufgetragener Zuckerguss. Der Vollmond betonte die Stille dieser Nacht. »Berauschend ist das ganze wirklich nicht«, krächzte der Engel, der von der Schönheit der Winterlandschaft schon seit Jahrtausenden keine Notiz mehr nahm.
     Zeit war für Engel keine Kategorie. Die Engelscharen waren ihre Wege schon oft geflogen und das wieder tausend Jahre vergangen waren, bemerkten sie erst dann, wenn ein Kirchturm zu Staub zerbröselt war oder der Fluss sich ein neues Bett gesucht hatte. Und nanu, manchmal war ein Gebirgsmassiv um einige Zentimeter gewachsen und erforderte eine Korrektur auf dem Weihnachtsflug. Ob dies nach zwei oder zwölf Millionen Jahren geschah, war den Engeln schnurz egal. Engel altern nicht und haben auch keine Halbwertzeit, weshalb sie Veränderungen in Raum und Zeit nicht so genau nehmen.
     Engel leben im Moment und interessieren sich nur für das Zwischenmenschliche. Und was aus dieser kleinen Göre herausgeplatzt war, ärgerte den Engel 714 ganz gewaltig. Das war ihm in all den Jahren noch nicht passiert. »Das ist ja ein richtiger Rauschengel!« hatte der Blondschopf geschrieen, als ihm der Götterbote durch die großgeblümte Wohnzimmertapete erschienen war. Der Engel hatte die elektrische Modelleisenbahn wortlos unter den Tannenbaum gelegt und war pikiert vor der Sitzgruppe stehen geblieben.
     Der Engel hatte aus den Augenwinkeln sein weißgoldenes Seidenkleid gemustert, auf dessen Schultern sich die blonde Haarpracht kräuselte, erinnerte sich an die halbtransparenten Schwingen auf seinem Rücken und hatte das ganze mit der verknautschten Tannenbaumspitze aus Silberpapier, Styropor und Stroh verglichen. Das war es also was dem Burschen zu der ganzen Aufführung einfiel: »Rauschengel«. Mehr nicht!
     Der Engel schluckte und getraute sich nicht den Bengel nach seinem Gedicht zu fragen. Millionen von Knaben und Mädchen hatten mit zittrigen Stimmen einige Verse rezitiert, nur dieser kleine vorlaute Bursche hier, sollte für die kommenden vierzigtausend Jahre verstummen. Er hatte seinen Weihnachtsbeitrag abgegeben und bis zur nächsten Eiszeit sollte ihm die Zunge mit dem Gaumen verkleben. Der Engel funkelte das Großmaul böse an, ein goldener Lichtstrahl schoss in das vorlaute Gesicht und der Bengel gab nur noch röchelnde Laute von sich.
     Als der Bursche grunzend um den überladenen Wohnzimmertisch hüpfte, stellte der Engel mit Genugtuung fest, das der Bengel nicht nur frech, sondern auch reichlich dicklich war. Das feiste Anzüglein, in das die Eltern den Kleinen gesteckt hatten, schien unter der Wucht der wogenden Fettringe explodieren zu wollen. Der Engel beschloss das morsche Gewand von seiner Last zu befreien und schickte dem Burschen einen zweiten Goldstrahl auf den Wams. Die Nähte begannen zu reißen und zu bersten und der Konfirmationsanzug zerbröselte in seine stofflichen Bestandteile. Da stand der Bengel plötzlich still und stumm in Hemd und Hose da. »Na, endlich!«, seufzte der Engel und verschwand grußlos durch die Wohnzimmertapete.
     Wie der Engel wieder durch die kalte Winternacht raste, hätte ihm das Herz vor Aufregung gepocht, wenn er eines gehabt hätte. Aber Engel bestehen nicht aus Fleisch und Blut oder sonstiger Materie und haben auch kein Herz das ihnen schlagen könnte. Engel sind die reine Illusion, weshalb der Trick mit der Wohnzimmertapete immer klappte und Engel selbst bei klirrender Kälte und leichtester Arbeitsbekleidung nie über eine Gänsehaut klagen müssen. Engel sind perfekte Geschöpfe, weil sie bestehen aus Licht und Schein. Wenn Engel sich ärgern, verpassen sie sich rein gedankliche - gewissermaßen platonische - Adrenalinstöße.
     Der Himmelsbote aktivierte den integrierten Sternenschweif-Werfer und raste einen knatternden und berstenden Goldregen hinter sich herziehend durch die Nacht. »Berauschend war das Ganze nicht! Jahrein, jahraus durch die dunkle Winterzeit zu sausen und die immer gleichen Gedichte hören zu müssen. An der Stellung der Mundwinkel beim Luftschnappen konnte der Engel bereits erahnen, welcher Reim gestammelt werden würde. Immer hatte er mit grenzenloser Geduld abgewartet und nur dann und wann ausgeholfen, wenn die Kleinen mit rotfleckigen Gesichtern ins Stocken geraten waren. Aber jetzt wurde ihm das ganze doch zu bunt. Der Engel konnte das ganze friedfertige Weihnachtsgedusel nicht mehr ertragen und beschloss in diesem Moment Schluss zu machen mit der ganzen Weihnachts-Zauberei.
     Mochte es auch eher eine ideelle als eine reelle Revolution sein, die er anzetteln wollte, so würde er sie doch auf der Stelle ausrufen. Er stürzte sich im Sturzflug auf einer mondbeschienen Lichtung, lies den Geschenke-Schlitten in das Unterholz krachen und öffnete mit wilder Entschlossenheit den großen Jutesack auf der Ladefläche. Wühlte in den Paketen und fand das Haarschneide-Set, welches für die Friseuse an der Ecke bestimmt war. Riss die Verpackung auf und wählte die größte Schere. Dann begann der Engel dem edlen Kleid ein alltagstaugliches Format zu verpassen und die strahlende Seide mit feuchtem Lehm zu kolorieren. »Ritsch, ratsch« war auch das wallende Haar gekappt und mit Henna rot gefärbt. Am Ende war aus dem Fabelwesen eine echte Göre geworden, die sich zu Fuß auf den Weg in das wirkliche Weihnachtsgetümmel machte. Als der Engel sich aus reiner Ungeschicklichkeit die Haut anritzte, fielen sogar einige Tropfen Blut auf den Schnee...

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