Wie die Lilien
von Jörg Meyer

Auf dem Felde lagen wir mit abgerissenen Gliedern. Dieser Tag war weit und voller Verluste. Violett sog an ihrer Zigarette. Dann pfiff sie die Lippen zu einem schmalen Spalt und entließ einen Wirbelsturm, während ihre Hand mikroskopisch fein bebte. Daneben saß sehr vorsichtig das Schlachtvieh – Orje. Der zweite Sommer in diesen gemeinsamen Gefilden verabschiedete sich gerade. Aber der war überhaupt nicht gemeinsam gewesen, sondern ähnelte mehr den Bataillonen, die auf unterschiedlichen Hügeln, jedoch in Sichtweite, ihre Kräfte sammelten, beziehungsweise vorschnell verschlissen. Orje verschliss, schrumpfte, während Violett unaufhörlich zu wachsen schien. Ihre Generäle waren hochdekoriert, hatten während der Belagerung eine Heldentat nach der anderen vom Spalier gebrochen. Zwei Jahre Belagerung, nach denen Orjes Söldner sich peu à peu verkrümelten.

»Was fürs Herz« spritzte sich Violett ins Adergelass, gern tat sie das. Diese blöden Liebesgeschichten, in denen sich die grundlos Liebenden am Ende in den Armgefängnissen lagen. Voll unrealistisch aber deshalb schön, weil möglich, also denk- und vorstellbar. Orje hatte das mitangesehen, gleichmütig und eifersüchtig. Er hatte dafür nichts übrig außer Sehnsucht. Diese Love Storys ertranken. Wie einer, der abtaucht, dem das in die Ohrmuschel dringende Wasser eigentlich alles taub macht, der das aber gerade noch hört. Für solch einen Ertrinkenden war das indes überhaupt nicht gut, dass man ihm durch die Glasscheibe des sich schnell mit Wasser füllenden Gefängnisses mit Spiegelverglasung dabei zusah, wie er zuerst nach Luft rang, dann Blasen aus der Fluppe kamen, dann er um sich schlug und kratzte am Scheibensaum wie so’n Kretin, der nicht weiß, dass ihm gleich das Licht ausgeht und die Lunge ’ne ordentliche Spülung kriegt, damit von der Scheiße, die er geredet hat, auch jeder Rückstand weggespült werde. »Erzähl mir aber keiner von Liebe und Mund und Arsch und Leben, Bachwerkeverzeichniseinhundertsiebenundvierzig«, sagte Orje, »nich’ noch so ’ne voll blöde Liebesgeschichte!«. Aber Violett hielt ihm das Maul zu, er verstehe das halt nicht, bis Blasen rauskamen oder blutiger Teer oder sonst ein Siff oder Sott oder was. Violett aber sagte und sprach: Einmal nur habe er, der Papst auf der italienischen Insel, sie ermorden wollen, hätte sie im Schwimmbad unter Wasser gedrückt oder wär’ einfach vom Dreier mit ’nem Köpper auf sie drauf, als sie gerade unten ihre Schwimmbahnen zog. Halt’s Maul, wär’ das gewesen, und eine irre Portion Mut gehörte auch dazu, sich das auch nur vorzustellen. Du bist mein, ich bin dein, kein andrer drin wohnen, halt’s Heim rein, habe er gesagt. Ins Heim rein mit schweren Stößen und mit einem Mut, dass es sich gewaschen hatte – hinterher zwischen den Kniekehlen. Seine Gosche flog auf und zu, so wie im Nebenzimmer ein einziges Auf und Ab, was sie nicht wahrnehmen wollte. Der Zimmerer zimmerte, der Kupferer kupferte, und der Springer sprang. Er hatte nämlich gemeint, er könne fliegen. Das war ein Irrtum, wie alle seine Goschenhauer. Dideldidellütt habe er auf ihre Knospe runtergesprochen, er, der immer noch dabei Sprechende. Solche Leute kenne und fürchte sie, die nie Sprachlosen mit der nippeligen Zunge. So sagte und sprach Violett.

OK, da war nichts zu machen, blöde Liebesgeschichten, was fürs Herz. Violett hatte keine Bedenken. Warum sollte sie auch. Orje aber meinte, er leide. Er versuchte, sie zu überflügeln, die Belagerer nochmals zu sammeln für die letzte entscheidende Schlacht, nach der es, wie die »Internationale« verhieß, keine mehr geben werde. Doch der Winter war kalt. Sie gingen Schlittschuh laufen. Orje konnte nicht besonders gut Schlittschuh laufen, Violett dagegen schon. Gegen den späten Nachmittag hin dämmerte es. Orje taten die Füße weh, er setzte sich, trank aus mitgebrachten Flachmännern starken Stoff und wurde dann sehnsüchtig. Violett nämlich drehte auf dem Eis ihre Kreise. Ein langer weißer Schal stand an ihrem Hals auf Halbmast. Violett lief und lief, als spielten Hundertschaften von Geigen dazu. Hinterher waren beide durchgefroren, wärmten sich mit Tee und aßen Waffeln mit Kirschen, die so heiß waren, dass man sich die Zunge dran verbrannte. Orje war verliebt.

Blöde, abgefeimte Liebesgeschichte, hingerotzt aus vollen Rohren, die Stifte nicht im Zaumzeug, sondern nervös dem Kugelschreiber dauernd grübelnd die Mine ein und aus gefahren.

Orje arbeitete daran. Er tat das mit wirklichem Eifer und schlief wenig. Er schrieb, anfallsweise und ohne dass Violett es wissen sollte. Tags log er faul im Bett und spielte Apathie. Nachts füllte sich der Speicher und er sich mit Korn. Violett beobachtete das, aber Orje wusste nicht, dass Violett das beobachtete. Orje litt, meinte leiden zu müssen, weil das zur Geschichte dazu gehört, zu so ’ner richtig schmalzgelockten Liebesgeschichte. Nicht aber, dass er unter der Arbeit daran litt, es war vielmehr so, dass er sie tat, tonlos, wie eine Maschine die Arbeit tut, gefühllos und mit hoher Präzision. Der Ernst, mit dem er so tat, wirkte monströs, schien aber gleichwohl notwendig. Wenn er heimkam, immer spät natürlich, so spät, dass es richtig spät war, auch im landläufigen Sinne und in jedem Fall zu spät, kam er ins Heim. Da damals, wenn er ins Heim kam und endlich nach Hause in die fette Fresse, die hieß Bett, in das er fiel, mit ’nem Tritt. »Ab ins Bett, du alte Sau. Sonst gefriert dir das Rückenmark, bevor dir das Grundeis im Arsch kocht«, sagte und sprach Orje, setzte sich und schrieb:

Ich bin Orje, das habe ich erzählt: Ich kann nicht mehr aufstehen. Denn wenn ich aufstehe, wird Violett mich nicht mehr pflegen. Ich habe mich aufgebraucht in zahllosen früheren Kämpfen. Jetzt aber bringe ich kein Wort mehr heraus. Violett ist da. Sie ist Abstand, aber sie ist da. Sie hilft mir so, wie ich möchte, dass mir geholfen wird. Sie sorgt für Nachschub. Wäre Violett nicht, müsste ich selbst aufstehen, und sei es nur, um Nachschub zu besorgen. Violett gießt auch meine Pflanzen. Ich habe sie ihr geschenkt, jetzt stehen sie bei ihr. Violett hat genickt und sie wortlos herausgetragen. Ich frage auch nicht mehr, wie es den Pflanzen geht. Violett möchte nicht, dass ich Violett beschreibe. Violett ist lieb. Ich liebe Violett. Dabei ist natürlich etwas anderes daraus geworden. Aber es ist gut. Violett ist auch gut. Sie hilft mir, Violett nicht beschreiben zu müssen, sie mag es nicht, wenn man sie beschreibt. Ich müsste auch aufstehen, ein Papier und einen Stift suchen, um sie zu beschreiben. Das ist jetzt zu mühselig. Es ist gut, dass ich diese Mühe scheue. Jetzt aber stehe ich auf. Ich ziehe mich an. Ich binde die Schuhe. Ich werde Stoff holen. Denn Violett ist nicht da. Ich aber stehe auf, denn ich brauche Nachschub. Violett wird wiederkommen. Als sei’s vertraut, stand die Türe derweil sperrangelweit. Ach, sei bei mir, verriet ich, als Violett mich also anrief, mit insistierendem Hallo, und ich nicht erwachte. Da ging sie und überließ mich mir, wie ich da lag. Ich lag beisammen und erwachte. Sie war hinweg, kein Wort war über meine scheinbar schlafenden Lilien gekommen, und auch zu mir hinuntergezogen hatte ich sie nicht, um ihr piratenhaft jene erwarteten Lilien selbst hinaufzugeben. Nein, ich hatte mich schlafend weiter gestellt und schlief allwohl, zu faul um aufzuwachen. So war sie fort. Du bist nicht fort, denn ich bin bei dir! Und nichts von dem, was ich erwartet, war eingetreten. Nicht dass sie den TV ausgeschaltet hätte, der offensichtlich nutzlos mich Schlafenden mit Liebesbildern versorgte, nicht die verschenkten Lilien. Nein, nichts von allem, sie war hinweg, so schnell als sie gekommen, und kam nicht fort. Du bist nicht fort, denn ich bin bei dir! Ich war auch wach dieweil und sah hinzu, was auf dem Schirm sich tat. Hinwieder ging ich schlafen und litt, dass ich sie nicht einmal noch gesehen. So lag ich. Und sie kam durch mich nicht hinein ’zu dem schönsten Jesulein’, wobei auf der letzten Silbe die ganze Schärfe eines geschrienen Dur-Akkordes in C lag. Voll laut und ohne jedes Vorzeichen. Violett hat aber nicht erfahren, dass ich aufgestanden bin. Als sie wiederkam, lag ich bereits wieder und war sehr stoned. Da sah sie mich liegen, den Kopf hatte sie nur so durch den Türspalt geschoben, meiner lag bleiern. Hi, hatte sie gesagt, nur dies eine Wort. Und als sie mich sah, wie ich da lag, wusste sie, dass alles in Ordnung war. Sie lächelte. Ich aber lächelte zurück, so gut es ging, also mit gewaltiger Anstrengung.

So aber sagte und sprach Orje. Nichts zu machen gegen diese Sachen »fürs Herz«, absolut nichts gegen zu machen, nichts auch zu machen gegen die überschwangren Lilienworte, nichts zu machen gegen die sich entwickelnde superblöde Love Story.

Sinke nicht in Wasser, die nicht mit einem Tropfen für dich fließen, sagte er sich. Doch die Wellen schlugen weit hinauf bis an Orjes Hals. Sie wollten nicht ertränken, so nannte er sie Wellen, schlug mit dem Buchdeckel darauf wie auf eine verarztet Fliege, die nicht entkommen kann. Violett liebte nicht. Er gab sich Mühe, der erste Schritt zur Besserung der Worte. Hätte er nicht davon geschrieben, läge nichts da, herausgespreitet zwischen den Beinen seiner Wollust, läge nichts im heraufgezogenen Netz der Verblüffung über sie. Er wischte an sich herum, die durchsichtigen Körperflüssigkeiten vom Gebohnerten oder mit Wasser die Spritzer aus der Hose. Was er sich abrang, war mit Mühe produziert, erzeugt im Ei des Gehirns. Erstaunlich die Fähigkeit, das zu sagen, was nicht für ihn gesagt war. So litt er nicht und litt, nicht zu leiden daran, was ihn fesselte. »Gloria patri et filia!« Wie das durch die Sprecher drang. Er hätte gerne gebeichtet, dies auf einen eichenhölzernen Stuhl drauf, hinterlassen wie seinen Stuhl im Klo. Die Sache würde ihm so entgleiten, hin zu einer verquasten Story ohne Wenn und Aber. Aber wie konnte dem abgeholfen werden? Violett schaffte nichts heran von dem, was er brauchte, täglich in sich einhalf, um zu vergessen. Das kannst du echt vergessen, sagte und sprach aber Orje und sagte und sprach erneut:

Seltsamer Ritus: Sie ist recht groß, aber nicht wie ursprünglich gedacht aus der Ferne, in der jetzt wieder ferne groß sich was abzeichnet. ’S ist dann doch ein anderes Denken, wenn man einen Satz formuliert, als alles nur rauschen zu lassen eh und je. Jäh schrieb Orje in sein Notizbuch jederzeit, glaubend, dass vielleicht ... dass sie schaute hinein mit einem Seitenblick, während er noch starr nach vorn, nur gelegentlich auf das Blatt, glauben machen wollte, dass er diesen natürlich nicht bemerkt habe und somit diesen geradezu anzulocken gedachte, weil gefahrlos nicht von ihm bemerkt zu werden, für sie, also gefahrlos bemerkt zu werden. Ein doppeltdreifach schraubend in sich Spiel, geschachtelt. Denn sie lachten. Wenn sie also lachten gemeinsam, dann mitten ins Gesicht, und lachend ihnen entgegen, aber nicht schauend auf sein Heft zu lesen und auch aufs Bett nicht, wo er später lag. So doch, dann Bedeutung nicht erkannt, weil jäh ein Wort wie jedes, jäh und also nicht so deutlich wäre es gewesen, und er hätte’s nicht geschrieben.

Im Gang sie schnell hinter die Tür, und auch er, urinierte schnell, eilend, er ist sich sicher, er eilte mit wohl wirklich drei Laufschritten, was dort musste völlig irre aussehen, damit sie noch nicht heraus sei, dass er auf sie warte, scheinbar. Noch lauschend und noch kurz auch überlegend. Der Eisregen fiel und ließ die Zuschauer ausrutschen. Es gab Sekt umsonst deswegen, worüber sie feixten und nicht tranken davon. Sie öffnete und trat heraus jetzt. Und es war ein wenig von dem Warten vorher gewesen übrig noch. Doch sie trat aus dem Regen herein, als er schon auf sie gewartet hatte, mit nassem Haar und Flocken auf der Schulter. Vor ihn trat sie und sah ihn. Nach oben, sie innen auf dem Wendeltrepp, er außen, gehen ein Paar von Schritt und mitten innen sein. Sie tranken nicht, auch weil er Schwierigkeiten ahnte, was Höflichkeiten mit den Gläsern anzufangen gewusst hätten. Und anzustoßen wäre jäh gewesen. Treppab, noch auf dem Getrepp bot er ihr eine Zigarette an. Ob sie wohl wolle und er sie nicht »verführe«, hätt’ er sagen wollen, doch sie kam zuvor mit ’nem warum nicht. Das Verführen fehlte aber in dem Satz. So schritten sie, sie wie ein ungelenker Schwan. Er griff in die Tasche, eine Zichte fiel zu Boden, er bückte sich, steckte sie wieder ein, reichte eine andere den Filter voran und zündete an. Sie sog, und Orje sah die Glut, und zündete selber sich an, wobei er zitterte, weil ihm der Traum in diesem Moment in die wirkliche Wirklichkeit abhanden kam. Er stocherte daneben mit dem Stummel, mit dem Stängel neben der Flamme, bis sie endlich brannte. Rauchte sogar langsamer als sie, weil beständig erzählend. Sie aber sagten und sprachen über ganz Verschiedenes. Ob Theater und Ballett im allgemeinen zum Beispiel Kunst seien oder Sport letztendlich. Das sei doch eher wohl Kunst, sagte er. Aber es sei anstrengend. Orje aber sagte ihr, siehe, ich sage dir, Kunst sei immer anstrengend, wenn es gute sei zumindest. Er achtete auf jedes seiner Worte. Nur dabei sah er unverwandt sie an, zudem gelernt, nicht auf das Lippenpaar wie Tauber hinzustarren, sondern tief ins Augendunkel. Nur einmal hier gelang ihm das. Den Augensehern aber wäre ihres Lächelns Zungenspiel entgangen, wie sie das Sprechorgan kurz hervor zwischen die Zähne schnellte. Scheinbar die Blicke streifend durch die Menge stach er nur wenige ihr in die Augen und konnte nachher sich an ihre Augen kaum erinnern, aber an ihren Mund. Und sie schwieg dazu. Sie blieb im ganzen unauffällig. Nur ihr Ohr hörte, freigestellt vom Haaransatz auf einer Seite. Hff-

Was aber konnte Orje tun dagegen, dass sich das nun wirklich in einer Liebesgeschichte verbarg, die sich selbstständig durch die Zeilen wob, der er nicht auf die Sprünge helfen konnte. Violett lag da, auf einen Arm gestützt, und rauchte. Orje spielte das Spiel, dass er sie ansah, wissend, sie möge das nicht bemerken, wobei aber der Bogen dadurch völlig überspannt war, dass er an diese Geschichte dachte, dass sie merke, wenn man sie ansehe, auch wenn sie nicht sehen könne, dass man sie ansehe. Orje rächte sich dafür mit Faulzinnober aus dem Nachtkabinett. Weil dieser ganze Zauber nämlich »was fürs Herz« werden sollte, hoffte er das Beste, soweit das dann ging, denn:

Dennoch gewagt sind die Hoffnungen radikal: Eine Karte von ihr, nach dem herumgetragenen Bild, mehrfach draufgesehen. Die Antwort auf seine Sinne bewies Größe. Nun also zurück, wie ein Spielstein heimgekehrt im ‚Mensch liebe dich nicht’. Die Sechs herausgewürfelt, die Reise wieder begonnen, zeitweilig eh überholt, von ihr wieder an den Anfang gesetzt, erneut zu würfeln. Betäubung diesesmal. Doch wach zudem, wissend: Wer redet in der Nacht, muss nächtlich wach sein. Binsenweisheit. Wer redet von der Nacht, soll’s tun in der Nacht. Nun wie gehabt. Ein schneller Winter, kurz im Hinblick auf den Sommer, der folgt, bevor noch grauer Frühling sich mit Summgebrumm ausgebreitet. Dicht, so dicht, schon wieder. Arbeit auch, die nun hoffnungsmäßig, und also schwer, ausgeführt werde. Ein Sturz warf ihn aufs Bett, versteckt erneut, diesesmal ehrlich und ohne Tränenkompresse. Monströs wuchs sich aus, was zu schreiben war und einzutragen in das Protokoll. Es bleibt allein. Die Lider sind düster vom Kajal. Ich habe ‚text’ auf den Spiegel geschrieben und mich dann davor fotografiert. Das Ergebnis zeigte logisch nur den Blitz, der alles überstrahlte, mein Gesicht nicht Gesicht, sondern heller Wahn. Aber, wer schreibt, der bleibt, solang’ er schreibt. Noch solang’ er kann, auch dann, wenn Schlimmres wartet als dies, wo noch nicht eine Träne war. Erzählen war ihm noch am Nullpunkt möglich, nicht am absoluten, welcher jedoch nach den Gesetzen der Thermodynamik sowieso unerreichbar ist, also immer nur kurz davor und dann noch Worte dafür habend. Es bleibt immer eine Bewegung übrig. Die Bewegung besteht darin, dass er lernt. Nicht endgehen, wenn man entgeht. Es sei zu überleben, mindestens zu überstehen. Es werde ihn nicht töten, sagte er, bevor er niederfiel auf Knien, ganz zerborsten. Man könne etwas bewirken in diesem Weltchen. Dass er dennoch nicht wisse, dass er zweifle fortwährend, dass man ihm nie gestatte, das allerdings bedauerte er. Sitzend unbequem auf der hölzernen Treppe hatte er gewusst. Unfähig, was wahr und richtig zu entscheiden, aber der Eindruck, dass er jedenfalls dagegen sei. Dies sei jedoch besser, weil dieses Wissen nicht gefragt werde. Weil nur das wahr sein könne, was zu bezweifeln sei. Was unklar sei, sei wahr. Was klar und gewusst hingegen, sei nicht mehr wahr.

So rettete sich Orje damals, einen Rausch an den anderen kettend. Verwirrt wusste er. Violetts Bild immer dabei, im Portemonnaie, hoffend auf Klärung. Doch wusste er, dass sowas so nicht anzufangen sei und von vornherein schon schräg und ohne Zukunft. Weil zu früh und ungewußt. Ich dachte, dass dieser Zustand des Nichtwissens allemal besser sei, dass ich nicht wünschen dürfe zu wissen, was sei. Dass nur die Hoffnung solange Hoffnung sei, solange sie Hoffnung ist. Ob nun ins erstaunliche Jahr, oder hinein ins Fortgesetzte der Vergangenheit. Die Hoffnungen jedoch waren erst jetzt radikal, indem sie nicht bestätigt wurden. Ein wenig mehr nur des vorgewußten Wissens hätte ihn umgebracht, als er kotzte vor ihrer Tür. Wenn das Hoffen unbedingt ist, ist es radikal, wenn es kein Wissen zu töten vermag – und umgekehrt. Ohne jeden Zweifel wenigstens das Hoffen! Einige Tage war ihm sehr schlecht, dann war er halbwegs wieder drin in jener Geburt des Jahrs in einem Garten. So wie sein Name sagt, war jener erste Monat ein zwiegesichtiger. Wie ein Symbol war dieser letzte Tag dieses Monats die Hoffnung für das Restjahr, das elfgemondet kläglich hinzog, im Gleichmaß seiner radikalen Hoffnung. Willkürlich ist die Zeit. Sie gibt ihre Streichungen ebenso willfährig. Bevor sich dieser Monat wiederholt, sollte Orje gelernt haben.

Eben dies, das Ejakulat des »Herzens« aber, war jetzt zu überwinden, einmal noch ausgestoßen sollte jetzt damit Schluss sein. Denn Violett saß und rauchte, sah hinüber auf den TV-Schirm und zog sich »was fürs Herz« rein. Dabei wollte ihr Orje nicht helfen, solange seines in ’nem Blutsturz sich ergoss, mitten hin auf die Matratze, im Fingerzwirn noch den glimmenden Rest einer bis auf den Filter runtergebrannten Zigarette. Nee, da machte er nicht mit. Und seine Truppen, immer noch vor der Festung lauernd, schrien: »Victory! Sieg Heil!«

Diese verdammten, reaktionären Liebesgeschichtchen mit ihren vergeigten HappyEnds – unerträglich. Violett aber liebte das, die Geschichte von der zufälligen Begegnung zweier noch nicht Liebender in einer Unzucht gen Wien, der Stadt der verlorenen Denker, die in Kaffeehäusern ihren Cognac schlürfen und dabei auf Liebesgeschichtsfiedeln schrammeln. Die Leinwand, die Klappstühle, die Erinnerung an den geringen Abstand zwischen ihrem und seinem Arm. Orje konnte Violett spüren, obwohl sie sich nicht berührten, zwischen ihren Atemzügen der Konzentration ruhig, hastlos, frisch gewaschen. Wenn es einen Gott gebe, hieß es von der Leinwand, sei er nicht in uns, sondern zwischen zweien unserer, wenn sie sich liebten. Also gab es ihn nicht, oder nur eine Hälfte, die von Orje zu Violett herüberwagte, auf Vervollständigung hoffend. Im Halbdunkel des Kinos – zwischen jedem Bild steht eines der Schwärze – waren sie nah aneinander, das heißt er war nah bei ihr. Nur nahm nur er diese Nähe wahr. Auf der Leinwand flogen Küsse hin und wider, nicht verlangende, sie wollten nicht miteinander schlafen, um das Dazwischen nicht zu zerstören. Er legte seine Hand in Höhe ihrer Kniekehle vorsichtig auf die Innenseite seines Schenkels, sodass die Hand nach oben geöffnet war. Und davon war Orje schweigsam, beobachtete jede seiner Gesten. Wieder draußen war es wie im Film gewesen, Sommer (von weit schweigend) und ein schweigsamer Orje, der gar nicht mehr reden mochte. Sei still, hatte sie ihm bedeutet, obwohl sein Lieben überbordete. Im Film war davon die Rede gewesen, dass man im Leben unvergessliche Momente erlebe und dass man dieses Erleben zu teilen habe, eine wirkliche Verpflichtung, mit anderen, die dasselbe in diesem Moment erlebten. Das war das Prinzip des Kinos, ein Ritual zu dem die Zuschauer und Fortschauerinnen zusammenkamen. Nur gewöhnlich bleibe der Schmerz, dass man es teilen möchte mit denen, die entfernt sind in diesem Moment. Der Moment war schön. Violett saß ruhig, als Orje die Stellung wechselte und den Arm nun auf sein Bein legte, mit der geöffneten Handfläche immer noch nach oben, den Arm wie zur Infusion bereit, hilflos und offen, die Kapitulation der belagernden Truppen endgültig ankündigend:

Die Kanüle drang tief in die Vene und wurde mit braunem Pflaster fixiert. Das Schmerzmittel floss hinein, das Herz pumpte und befreite so das Hirn von diesem Schmerz. Station Rose, letztes Zimmer hinten links, wo es nach Verleichten roch, so süß wie nach zum Abschied geschwenkten und auf die Gleise geworfenen Blumensträußen im letzten Vorkriegssommer.

Nachher unter den Lampions lächelte Violett. Violett lächelte so – schön. Ja, das war es: Violett war einfach nur schön. Mehr war dazu nicht zu sagen, eine fehlende Geschichte also. Zwischen den Liebenden auf der Leinwand floss dann doch noch das glasige Blut der Fortpflanzung. Hinterher, nachdem alles vorbei gewesen, zeigte die Kamera auf die verlassenen Plätze ihrer Liebe, die aus gewechselten Worten bestanden hatte. Als Orje am nächsten Tag, es war wieder hell, an dem Kino vorbeifuhr, es lag auf dem Weg zu einer Arbeit, war dies genau ebenso verlassen. Die grünen Grasweghüpfer waren verschwunden, die elektrischen Lampions ausgeschaltet. Station Rose war geschlossen, die venöse Blüte in seiner Hand verwelkt. Urplötzlich war dies wieder real, also entzaubert und entleibt. Das Messer in ihrer Hand hatte er nicht bemerkt, lediglich ihre Brustwarzen, die sich mild unter ihrem Hemd wölbten, als komme es nun gerade darauf an. Orje aber war schweigsam, fraß sich die Küsse von den Lippen und erbrach Blut ins Pissoir der Lampionkneipe:

Überhaupt die Kotze, durch die ich im ‚Ossietzky’ zum Urinal gestakt war. Hatte dabei auf meine Schuhe gesehen und ihnen beim Verfall infolge Fußschweißzersetzung zugeschaut. Dann war da diese Kotze. Es roch aber bitter nach den Spülsteinen in der Urinalen, wenn man draufpinkelte. Die Kotze sah nach Pizza aus und schäumte vom Bier, roch aber nicht. Nur wenn man die Nase direkt dran hielt. Aber das traute ich mich nicht, es könnte ja jemand hereinkommen. Obwohl ich jetzt gerne gerochen hätte, wie Kotze so riecht. Mann, war das krank, sagte ich und sprach. Allerdings: Das war Teil der Lösung, nicht Teil des Problems. Nur wenn du Teil des Problems bist, sagte ich mir, kannst du logisch auch Teil der Lösung sein, weil du sonst nichts von der Notwendigkeit der Lösung weißt. Wir hatten das etwa so diskutiert zwischen leeren Bierflaschen und Saurergläsern; das Bier Nulldrei, die Sauren Nullzwo, die Bullen Einseinsnull.

Violett glotzte weiter fern von Orjes Blickrichtung. Sie sah einfach woanders hin, und Orje sah dann auch woanders hin. Wenn sie dabei war, war dies ein Indikator. Orje wurde jetzt väterlich. Seine Stirn hob sich zu Runzeln, und er sah über die Brille hinweg. Dies war sein einziger echter Blick, dieses Wegschauen mit einem Gesichtsausdruck, als schaue er jemanden an. Auch wenn er las, schaute er so. Er fuhr drüber über die Zeilen so ’ner bommelnden Love Story mit der Sense seines Blicks. Red doch nicht so ’ne Scheiße, flippte er aus. Schiss aber drauf. Er sei es schließlich, der sich nach verrichtetem Geschäft wegwerfe. Oder was? Violett aber schwieg. Orje war stoned. Das Leben, posaunte er aus der Enge seines Rausches heraus, sei schließlich auch so ’ne Art Fotze, sagte er, immer drum rum und mit einem Male haste sie vor der Fresse, halt’s Maul, ja, und bist die ganze Zeit nur am Zungeschwenken wie beim Reden. Violett tippte sich mit der Lippe an die Innenseite des Zähnekamms und der Stirn, als er die Tore derart weit machte und über den Zaun kam. Mit ’ner Leiter, obwohl der Zaun doch nur ein paar Zoll hoch war.

Sie waren alle voll von Chemie jetzt, alle wie sie da saßen zwischen den leeren Gläsern und Flaschen und der Kotze im Männerklo gegenüber. Sang- und klanglos glitten sie dahin, als plötzlich der gespielte Glatzkopf mit seinem ausgefederten Hosenstahl hereinkam, um Violett im Hof nachzuirren. Mann, hatte der wohl Stroh vor der Hütte und Getreide im Schober, und Getriebe stand ihm jungenhaft im Augenwinkel und ordentlich weiße Silage im Mund. Ohje, Herr Jeminé, feixte da Orje und lachte gespenstisch aus dem hohlen Hals. Die anderen stimmten in das Gelächter ein, ohne zu wissen, worüber Orje so verzweifelt hinlächelte. Sie lachten so über diesen Herren Jeminé, dass sie nicht hörten, wie Orje, nachdem er flüchtig über Violett hinweggeschaut hatte, erblindete. Er saß eingesunken da. Und war er dann willig, so brauchte er Gewalt, die er von diesem Moment des Umschwenkens aus der Lustigmache in das Brüten mit einer derartigen Planmäßigkeit an sich vollzog, dass er damit die Lilien säuberlich eine nach der anderen köpfte, die Lillies, die für den an den Tisch tretenden Besuch bestimmt waren, die aber nach nichts rochen und unten rum so pelzig waren. Mein Gott, ja, das konnte ihm alles nichts, wenn sich da ungefragt jetzt jemand auf dem Sofa zur Begrüßung mit Violett balgte. Not for you! Und mit Gewaltmarschschritt schritt er Schritt nach Schritt zu sich, um dort in die Tasten zu heulen wie ein Schlosshund ins Schloss uriniert, weil das senkrecht steht, über ihm. Die Briefmarkenablöser von Bethel, dachte Orje: Denen konnte’s auch nicht besser gehen, allenfalls dass sie nicht kifften, sondern nur heimlich fickten, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Das kam ihm in den Sinn. Zwei rechts, eins links. Schrittelweise wie ein Hahnentritt aus dem Eiweiß, dem erhärteten, gepolkt wird, mit dem salzigen Löffel am Sonntagmorgen. Ja, mit all dem Schotter hatte er sich behängt. Nicht mit Violett, damals, heim, was gekocht und danach geknarrt und mitten auf die Matratze die Suppe hingegossen. Abwaschen morgen, gell?, sagte aber und fragte sie und lehnte sich so zurück, dass ihm schwindelig wurde, wie bei den Lilien auf dem Felde und den Vögeln in der Luft, die nicht ernteten, die aber dennoch ernährt wurden von dem Herrgott der verschissenen Love Storys.

 

© 1997 by Jörg Meyer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


ZurückSeitenanfangWeiter