Lehmanns Tanz von Rupprecht Mayer

In Tiblisi tritt man nicht auf Kanaldeckel. Als Tiblisi noch zur Sowjetunion gehörte (Georgien trifft also keine Schuld) hatte das Stahlwerk der Neuen Epoche Nr.8 wegen Materialknappheit bei einer Kanaldeckel-Serie den Durchmesser reduziert, statt an der Dicke des Stahls zu sparen. Viele Kanaldeckel in Tiblisi sitzen deswegen wackelig in ihrer Fassung, was immer wieder Bein- und Beckenbrüche verursacht. Gerade in der Altstadt von Tiblisi sind die Straßen so eng, dass man den Kanaldeckeln nicht ausweichen kann. Deswegen springen die Einwohner von Tiblisi über sie hinweg, und den Besuchern der Stadt wird geraten, das Gleiche zu tun.

Lehmann war von seiner Firma für drei Monate an die Repräsentanz in Tiblisi geschickt worden. Als er am Tag nach seiner Rückkehr in die Firma ging - es war sein fünfundvierzigster Geburtstag - verspürte er eine seltsame Lust, die neue Gewohnheit beizubehalten. Er war als Kind oft über Kanaldeckel gesprungen, und er schaffte es auch jetzt noch, sogar mit einiger Eleganz, trotz seines Bauchansatzes. Manche Passanten schauten verwundert, aber er lebte ja in einem freien Land, mindestens so frei wie Georgien, und dort war man schon vor dem Zerfall der Sowjetunion und vor der Demokratie über die Kanaldeckel gesprungen.

In den folgenden Tagen fügte Lehmann noch andere Bewegungen hinzu: er legte ab und zu ein paar Meter mit dem Rücken nach vorn zurück, ohne auf den Weg zu sehen, um dann nach einer Pirouette, bei der er die Aktentasche an die Brust gepresst hielt, normal weiterzugehen. Dann wieder stellte er die Aktentasche bei seinem Zeitungshändler ab und machte einen Bocksprung über den pastellblauen Hydranten neben dem Kiosk. Manchmal schaltete er auch Sekunden der Bewegungslosigkeit ein, lehnte sich zum Beispiel in der kleinen Grünanlage vor dem Supermarkt mit der Stirn gegen eine Akazie und sagte ein paar Worte zu ihr, oder er blieb dabei stumm und hielt die Augen geschlossen. Er hatte aber nicht die Absicht, dem Baum feinstoffliche Energie zu entziehen, wie das bei fernöstlichen Qigong-Praktiken üblich ist. Dazu war Lehmann zu sehr Naturfreund.

Die Leute, die ihn morgens und abends auf der Straße sahen, und auch seine Kollegen, die erst Schlimmes befürchtet hatten, gewöhnten sich schneller an Lehmanns neue Gehweise, als er erwartet hatte. In der Firma nannte man sie den »Lehmann-Tanz«. Ein Grund für diese positive Reaktion war auch, dass sich Lehmanns Performance in der Firma von da an erfreulich verbesserte. Andere Mitarbeiter in seinem Alter versuchten sich mit verkrampftem Leistungswillen und zahllosen Überstunden vor der nächsten Entlassungswelle zu schützen, Lehmann jedoch brachte eine neue Lockerheit in seine Arbeit ein, es gelangen ihm plötzlich imaginative, nonlineare Problemlösungen.

So wuchs das Interesse an Lehmanns Tanz mit jedem Tag. Oft erwarteten ihn Kollegen schon an der U-Bahn-Station, um auf dem Weg zur Firma die einzelnen Bewegungen zu notieren und auf Video festzuhalten. Manche probierten Teile des Tanzes gleich aus, etwas schüchtern und in gebührendem Abstand. Schließlich beauftragte die Firma Lehmann, Kurse im Lehmann-Tanz für die Mitarbeiter während der Arbeitszeit abzuhalten. Lehmann verfeinerte seine Methode immer mehr, neue Bewegungsabläufe, die er »Phasen« nannte, kamen hinzu. Zum Beispiel die »Hampel-Phase«, eine hüpfende Bewegung, bei der er mit einem Fuß auf dem Gehsteig und mit dem anderen auf der Straße lief, wenn der Verkehr dies erlaubte. Dann Phasen, die an das bayerische Schuhplatteln erinnerten, und schließlich die so genannte »Wumm-Phase«, ein zweibeiniges, lautstarkes Aufspringen auf Kanaldeckel, die natürlich vorher überprüft wurden.

Als die Management-Kurse, zu denen ihn die Zentrale an alle Standorte im In- und Ausland schickte, längst zu seiner Hauptaufgabe geworden waren, wagte Lehmann eines Tages den Schritt, sich als Unternehmensberater selbstständig zu machen. Seine Firma florierte wie erwartet. Lehmann bedauerte nur, dass er selbst kaum mehr Zeit für die Praxis fand. In seinem Terminkalender gab es selten Raum für Lehmann-Tänze rund um die Hotels, in denen seine Kurse stattfanden.

Besonders freute er sich über den Auftrag des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, in Tiblisi seinen Workshop »Lehmann-Tanz für das gehobene Management in Transformationsländern« abzuhalten. Dies würde ihn an den Ort zurückführen, von dem alles seinen Ausgang genommen hatte. Allerdings war vorher noch viel zu erledigen, wie die Übersetzung des Kursmaterials ins Georgische. Und er musste die Wumm-Phase herausnehmen.

© 2002 by Rupprecht Mayer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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